St. Johannes 15,1-8 | Jubilate | Pfr. Dr. Martens
Vor einigen Tagen habe ich den neuen Pfarrbrief fertiggestellt. Er ist diesmal viel dünner als sonst, nur 24 Seiten, denn in diesem Pfarrbrief ist eines ganz anders als sonst immer: Es finden sich in diesem Pfarrbrief keine Bilder. Sonst war unser Pfarrbrief immer voll von Bildern, die ein wenig das pralle Leben widerspiegelten, das in unserer Gemeinde herrschte: Immer war bei uns etwas los in den Gemeinderäumen, immer waren dort viele Menschen zu finden, die sich zu Gottesdiensten und Kindergottesdiensten, zu Bibelstunden, Glaubenskursen, Jugendkreisen, Konfirmandenunterrichten, gemeinsamen Mittagessen und vielem mehr trafen, von den Fahrten ganz zu schweigen. Ja, immer herrschte Action bei uns in der Gemeinde, und man konnte es geradezu mit Händen fassen, wie unsere Gemeinde immer weiter wuchs, wie alles genauso weiterlief, wie wir das geplant und uns erhofft hatten. Ja, das schien doch so offensichtlich zu sein, dass es so immer weitergeht, dass wir das Gemeindeleben richtig gut im Griff haben. Und nun wurde uns das alles innerhalb von Tagen aus der Hand geschlagen – nicht nur für ein paar Tage, sondern nun schon für zwei Monate. Und es ist noch gar nicht abzusehen, wann wir wieder einen Gottesdienst mit der ganzen Gemeinde gemeinsam in unserer Kirche werden feiern können. Dieses Jahr wird es wohl kaum der Fall sein. Viele Bilder werden wir auch in den nächsten Pfarrbriefen noch nicht finden können, auch wenn wir jetzt mit unseren kleinen Gottesdiensten und mancher anderen Gemeindeveranstaltung draußen im Garten allmählich wieder starten können.
An die Stelle der vielen bunten Bilder, an die wir uns in unserer Gemeinde so sehr gewöhnt hatten, tritt im Heiligen Evangelium dieses Sonntags ein ganz anderes Bild: „Ich bin der Weinstock“, so sagt es Christus hier. Was für ein Kontrastprogramm zu dem quirligen Leben, das wir sonst in unserer Gemeinde erlebt hatten. Wenn man sich einen Weinstock anschaut, dann scheint sich da erst einmal gar nichts zu bewegen. Da herrscht scheinbar völlige Ruhe. Wachstum ist erst einmal nicht erkennen, auch ansonsten keine Aktivität. Ja, dieses Bild beschreibt sehr treffend die Lage, in der wir uns in unserer Gemeinde befinden. Doch es ist ja kein deprimierendes Bild, das Christus hier verwendet, um sich selber zu beschreiben, sondern ein zutiefst ermutigendes Bild, das uns hilft, unsere Gemeinde und ihre Situation noch einmal mit ganz anderen Augen zu sehen.
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ – Damit macht Christus zunächst einmal deutlich: Die Kirche ist kein religiöser Verein, in dem sich religiös Gleichgesinnte zusammengefunden haben, um gemeinsam ihrem frommen Hobby nachzugehen. Sondern die Kirche ist der Leib Christi, oder, fast noch eindrücklicher: Der Weinstock mit seinen Reben. Nimm den Weinstock weg, und es bleibt nichts mehr übrig von den Reben. Nimm Christus weg, und es bleibt von der Kirche überhaupt nichts mehr übrig. Christus ist kein Religionsstifter und auch nicht bloß ein Thema für die Gottesdienste, die wir feiern. Er ist die Realität der Kirche, wie der Weinstock die Reben mitumfasst. So eng verbunden sind Weinstock und Reben, dass sie gleichsam eins sind. Doch dabei bleibt immer klar, wer von wem abhängig ist: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“
Ja, das ist das Erste, was wir dem Heiligen Evangelium dieses Tages für unsere gemeindliche Situation mitten in der Corona-Krise entnehmen können: Wir können und sollen eben dies wieder neu lernen: Ohne Christus können wir nichts tun. Wir können nicht Christus in unserem Gemeindeleben beiseite packen und mit unseren vielen guten Aktionen und Ideen die Kirche schon allein ganz gut in Schwung halten. Nein, ohne Christus können wir gar nichts, überhaupt nichts. Und das lässt Christus uns jetzt in diesen Tagen und Wochen sehr, sehr eindrücklich erfahren: Wenn die Kirche nur aus den Aktionen besteht, die wir vollbringen, dann wäre sie jetzt tot. Aber das ist sie nicht. Sie lebt, weil Christus, der Weinstock, lebt, weil er von keinem Shutdown betroffen ist, weil er bleibt, auch wenn wir selber gar nichts tun können. Ja, es ist gut, wenn wir in diesen Wochen wieder neu zur Besinnung kommen, wie sehr wir als Kirche ganz und gar darauf angewiesen sind, dass Christus alles, wirklich alles in unserer Mitte tut!
Und was sollen wir nun tun? Christus antwortet hier ganz klar: Tun sollt ihr überhaupt nichts, sondern stattdessen einfach bleiben, bleiben, wo ihr seid, bei mir, Christus. Hängen lassen sollt und dürft ihr euch bei mir, denn ich versorge euch mit allem, was ihr braucht. Was für eine tröstliche, ermutigende Botschaft, die uns aufatmen lässt! Ich merke das ja auch an mir selber, wie ich immer was tun will, wie es für mich eine Qual ist, einfach nur am Schreibtisch zu sitzen und nicht mehr tun zu können. Doch Jesus sagt zu uns allen gerade jetzt in diesen Wochen: Jetzt lasst euch doch einfach mal hängen an mir! Ihr gehört doch zu mir seit eurer Taufe, ihr seid schon jetzt am richtigen Platz, als Reben an mir. Und jetzt bleibt da bitte einfach, wo ihr seid. Nicht ihr müsst jetzt etwas tun, ich tue es für euch. Bleibt in mir und ich in euch! Ja, es ist gut, wenn wir uns diese Worte unseres Herrn gerade in diesen Wochen immer wieder neu einprägen: Bleibt in mir, bleibt einfach da, wo ihr seid, verbunden mit mir, so, wie ihr es auch schon vor dem Shutdown, vor der Schließung der Kirchentüren wart. Da wart ihr schon richtig, und da braucht sich jetzt auch gar nichts bei euch zu ändern!
Bleibt in mir – Diese Worte unseres Herrn nehmen dann allerdings auch immer wieder eine ganz konkrete Gestalt an, so erläutert es Christus im Johannesevangelium ausdrücklich: „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Das Hängenlassen an Christus geschieht ganz konkret so, dass wir seinen Leib und sein Blut am Altar empfangen, so, wie wir es jetzt, gottlob, ab dem morgigen Montag nun endlich wieder tun können. Ja, so erfahren wir es immer wieder beim Empfang des Heiligen Mahles: Wir selber tun gar nichts, wir empfangen einfach nur, wenn uns der Leib Christi in den Mund gelegt wird, wenn uns sein Blut gereicht wird. Da erleben wir es, wie der Lebenssaft des Weinstocks auch uns, die Rebe erreicht, wie wir eben dadurch aufblühen und nicht vertrocknen. Gewiss, Christus hat uns auch in diesen Wochen ohne das Heilige Sakrament versorgt mit seinem Wort, dass unsere Verbindung zu ihm nicht abgestorben ist. Aber jetzt im Heiligen Mahl, da strömt nun der Lebenssaft des Weinstocks noch einmal in ganz besonderer Weise in uns, die Reben, hinein, schenkt uns wieder neues Leben, lässt uns erfahren, worauf es in der Kirche eigentlich ankommt. Wir können auf vieles verzichten: auf die Erfahrung der großen Gemeinschaft mit vielen Menschen, auf das gemeinsame Mittagessen, auf gemeinsame Fahrten, auf viele andere Veranstaltungen. Aber auf eines können wir eben nicht verzichten: Darauf, dass wir mit Christus im Sakrament verbunden werden. Ja, auch das ist etwas, was uns diese besondere Corona-Zeit lehren kann, dass wir wieder neu erkennen, was für unseren Glauben, was für unser Leben als Kirche unverzichtbar ist: die leibhaftige Gemeinschaft mit Christus im Heiligen Mahl, dass wir dadurch in Christus bleiben und er in uns, dass wir dadurch lebendige Reben am Weinstock bleiben. Auch wenn das nun ungewöhnliche Zustände sind, dass wir einfach jeden Tag bei uns von morgens bis abends kurze Gottesdienste feiern, in denen der Leib und das Blut Christi ausgeteilt wird – sie zeigen uns, wo das Herz der Kirche schlägt, wo der Lebenssaft des Weinstocks pulsiert. Damit können wir geistlich überleben, gerade auch in Corona-Zeiten.
Und aus dieser Verbindung mit Christus erwächst dann auch ganz von selbst Frucht, so zeigt es uns Christus hier. Christus sagt nicht zu uns: Jetzt müsst ihr aber Frucht bringen! Sondern er beschreibt dies ganz einfach, setzt dies voraus: Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Eine Rebe muss nicht dazu aufgefordert werden, Frucht zu bringen; sie tut es ganz einfach, weil sie mit dem Weinstock verbunden ist. Und so ist es auch bei uns. Wenn wir bei Christus, ja, in ihm bleiben, dann wird daraus Frucht erwachsen.
In unserem Evangelium erklärt Jesus nicht, was er mit dieser Frucht eigentlich meint. Sie kann offenbar ganz verschiedene Gestalt annehmen. In der Vergangenheit haben wir vielleicht erst einmal leicht sichtbare Früchte wahrgenommen: Das missionarische Engagement unserer Gemeindeglieder, das dazu geführt hat, dass immer wieder neu Menschen den Weg in unsere Gemeinde und damit auch zu Christus gefunden haben. Dieses Engagement ist übrigens auch jetzt nicht erlahmt. Auch jetzt erlebe ich es, dass Menschen sich bei mir melden, die von anderen Gemeindegliedern zur Kirche und zum Glauben an Christus eingeladen worden sind. Das läuft auch in Corona-Zeiten. Aber es gibt eben auch andere Früchte, die man vielleicht nicht so leicht sehen kann: Das innere geistliche Wachstum, das vielleicht gerade jetzt in diesen Wochen befördert worden ist, wenn Menschen dazu genötigt waren, wieder neu über ihr Leben und über ihre Beziehung zu Christus nachzudenken. Liebe zu Christus und zu seinem Heiligen Mahl, Liebe zu den anderen Brüdern und Schwestern in der Gemeinde, Geduld, Freude an Gottes Wort – die Früchte am Weinstock Christus können sehr unterschiedlich aussehen und sind doch allesamt wichtig und wohlschmeckend.
Christus selber macht es hier an einem Beispiel deutlich. Er sagt: „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“ Diese Worte Jesu sind oft so missverstanden worden, als ob man von Gott alles im Leben bekommen kann, was man sich wünscht, wenn man denn nur fest genug glaubt: Gesundheit, Erfolg im Beruf, und einen Mercedes oben drauf. Doch Jesus meint es genau umgekehrt: Er sagt: Wenn ihr in mir bleibt, dann wird euch diese Verbindung mit mir immer mehr verändern, sodass euer Wille immer mehr mit dem Willen Gottes eins wird. Wenn ihr in mir bleibt, dann werdet ihr erkennen, worum es sich im Leben wirklich zu bitten lohnt: Eben nicht um den Mercedes oder um die Karriere, sondern darum, immer tiefer im Glauben zu wachsen, immer mehr von Liebe zu anderen Menschen, besonders zu den Schwestern und Brüdern in der Gemeinde, erfüllt zu sein, immer fester in der Hoffnung zu bleiben, auch wenn alle äußerlichen Umstände dagegen zu sprechen scheinen. Ja, so sieht die Frucht aus, die auch in diesen Wochen und Monaten ganz im Stillen wachsen und reifen kann, auch ohne dass in unserer Gemeinde sehr viel los ist. Da kann manches jetzt auch aufgehen, was zuvor gesät worden war, um es in einem anderen Bild auszudrücken.
Prägen wir uns also das Bild von Christus als dem Weinstock und uns als den Reben ein, damit wir nicht nur besser verstehen können, was jetzt gerade in unserer Gemeinde passiert, sondern damit dieses Bild auch bei uns präsent sein, wenn wieder die Zeit der vielen Bilder in unserer Gemeinde kommen wird. Entscheidend bleibt immer nur das eine: Bleibt in mir und ich in euch! Das reicht, das reicht für uns – bis zur letzten Stunde unseres Lebens! Amen.