St. Johannes 18,28-19,5 | Judika | Pfr. Dr. Martens

Es war eine dramatische Gerichtsverhandlung: Für den, der da vor dem Richter stand, ging es um nicht weniger als um Leben und Tod. Der Richter stand unter Druck – er hatte Vorgaben einzuhalten, und die Erwartungshaltung von der Straße war klar: Weg mit dem, der da vor diesem Richter steht, am besten gleich in den Tod schicken. Der Richter zögert – er ahnt, dass hier ein politisches Spiel gespielt wird. Aber zugleich hat er so gar keinen Bezug zu dem, worüber er da urteilen soll, sind ihm die Worte, die er in der Verhandlung zu hören bekommt, so fremd: Was soll das denn für eine Wahrheit sein, von der da die Rede ist? Der Richter versucht, was er kann, damit er keine Entscheidung treffen muss. Doch die Gegenseite bleibt hart: Sie will ihren Willen durchsetzen, koste es, was es wolle. Jeder Vergleich wird abgelehnt. Erst mit dem Urteil, dass dieser Mensch in den Tod geschickt werden soll, gibt man sich am Ende zufrieden.

Schwestern und Brüder: Was ich da gerade beschrieben habe, sind Erfahrungen, die ich zurzeit jede Woche in Gerichtsverhandlungen mit Gemeindegliedern unserer Gemeinde mache, beklemmende, erschreckende Erfahrungen, die am Ende immer wieder auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen: Der, der da vor dem Richter steht, hat am Ende keine Chance, weil der Richter am Ende doch keinen anderen Weg sieht, als ihn zu verurteilen.

Erschreckend aktuell erscheint auf diesem Hintergrund, was uns St. Johannes in der heutigen Predigtlesung über den Prozess Jesu vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus schildert. Es klingt fast so, als ob es sich um eine Gerichtsreportage aus dem Jahr 2019 handelt. Und doch will uns St. Johannes hier natürlich mehr berichten als die Schilderung eines Justizskandals. Er will zeigen, wie der ewige Sohn Gottes seinen Weg ans Kreuz geht zu unserer Rettung.

Gewaltig ist das, was wir in der Predigtlesung des heutigen Sonntags gerade gehört haben, so gewaltig, dass wir es eben beim ersten Hören gar nicht gleich ganz erfassen konnten. Und so will ich mit euch nun noch einmal Schritt für Schritt den Weg Jesu nachverfolgen, wie ihn uns St. Johannes hier schildert, will euch teilhaben lassen an dem, was damals geschehen ist, und will zugleich zeigen, wie Jesus uns in diesen Leidensweg immer wieder mit hineinnimmt, ja insbesondere diejenigen, die in diesen Wochen und Monaten ihren christlichen Glauben vor einem staatlichen Gericht zu verantworten haben.

Da wird Jesus vom obersten jüdischen Gericht zum römischen Statthalter Pontius Pilatus gebracht, der seine Residenz gleich oberhalb des Tempels hatte. Israel war ein besetztes Land – und so sind die Vertreter des jüdischen Gerichts auf die Zusammenarbeit mit dem verhassten Repräsentanten des römischen Kaisers angewiesen. Ein Heide ist er, darum betreten die Vertreter des jüdischen Gerichts seinen Palast nicht, um sich für die Feier des Passafestes nicht kultisch unrein zu machen. Die römischen Statthalter hatten die Weisung aus Rom erhalten, die religiösen Bräuche in der Provinz, die sie leiteten, zu respektieren. Und so kommt Pilatus tatsächlich aus dem Palast heraus, um mit den Anklägern zu sprechen. Er will den Grund der Klage wissen – doch die Ankläger antworten nur leicht gereizt, sie wären wohl kaum gekommen, wenn es sich nicht um einen Schwerstkriminellen handelt. Doch Pilatus hat kein sonderliches Interesse daran, sich mit diesem Fall beschäftigen, er versucht den Fall abzuwimmeln und ihn wieder an das jüdische Gericht zu delegieren. Doch dann lassen die Vertreter des Gerichts die Katze aus dem Sack: Sie wollen, dass Pilatus an Jesus die Todesstrafe vollzieht – und die durfte in der Provinz offiziell eben nur der römische Staat und nicht ein jüdisches Gericht vollziehen.

Jesus – ein Spielball zwischen denen, die ihn loswerden wollen, und einem Richter, der auf den Prozess keine Lust hat. Was für eine demütigende Erfahrung! Viele aus unserer Gemeinde kennen entsprechende Erfahrungen: Sie haben erlebt, wie die Vertreter des Bundesamtes sie loswerden, sie in ihr muslimisches Heimatland abschieben wollen, obwohl oder vielleicht sogar gerade weil sie Christen sind – ein indirektes Todesurteil. Doch nun muss die Geschichte erst noch vor einem Gericht verhandelt werden. Und da erleben wir es eben auch, wie so mancher Richter es kaum verbirgt, dass er von solch einer Verhandlung genervt ist, dass er überhaupt keinen Bezug zu dem hat, was er da verhandeln soll. Am liebsten wäre ihm ja ein Vergleich – dann wäre er die Entscheidung los. Doch die andere Seite will nicht, besteht darauf, dass ihre Entscheidung in aller Konsequenz umgesetzt wird. Ja, so stehen Glieder unserer Gemeinde immer wieder Seite an Seite mit Christus im Gericht, erfahren, was auch ihr Herr damals erfahren musste.

Pilatus geht daraufhin wieder in seinen Palast und lässt Jesus zu sich rufen. Den lassen die Vertreter des jüdischen Gerichts gerne in den Palast gehen, der soll sich ruhig unrein machen. Und dann schildert uns St. Johannes hier einen großartigen, tiefgründigen Dialog zwischen Pilatus und Jesus: Pilatus fragt Jesus danach, ob er der König der Juden ist. Er weiß offenbar, dass seine Ankläger ihm eben dies zum Vorwurf machten. Doch Jesus antwortet auf die Fragen des Pilatus ganz anders, als der es erwartet hätte: Ja, sagt er, ich bin ein König, aber mein Reich ist nicht von dieser Welt. Meine Anhänger, meine Diener führen keine Kriege für mich. Ja, was für ein ganz anderer Herrscher als Mohammed ist dieser Jesus! Und doch ist er ein König, aber ein König mit einem ganz anderen Auftrag, ja, einer ganz anderen Herkunft: Er ist in die Welt gekommen, um die Wahrheit zu bezeugen. Der Angeklagte wird hier zum Zeugen – und fordert die, die ihn hören, damit dazu heraus, zu seinem Zeugnis Stellung zu beziehen. Doch Pilatus versteht hier nur Bahnhof. Von was für einer Wahrheit redet dieser Jesus da – ja, was ist Wahrheit? Nicht verstehen kann er, dass er, Jesus, die Wahrheit in Person ist. Und nur wer mit dieser Wahrheit in Person verbunden ist, kann überhaupt begreifen, wer Jesus ist, was er sagt.

Immer wieder stehen Schwestern und Brüder aus unserer Gemeinde wie Jesus vor dem Richter. Es geht um ihr Leben – doch sie legen Zeugnis ab von der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Das ist ihr Auftrag, den sie haben: Christus zu bezeugen, auch und gerade vor solch einem Gericht. Doch immer wieder müssen sie erleben, dass die, die über sie ein Urteil fällen sollen, überhaupt keinen Bezug zu dem haben, was sie da bezeugen, dass ihren Richtern das persönlich völlig fremd bleibt, was für sie selber so entscheidend wichtig ist. Was ist Wahrheit? – So fragen die, die über sie urteilen. Sind nicht am Ende alle Religionen gleich, ist es nicht widersinnig, eine Religion zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen? Warum soll das so wichtig, so lebensnotwendig sein? Das Urteil, es bahnt sich an.

Pilatus wird die ganze Angelegenheit allmählich richtig unangenehm und lästig. Er geht wieder aus dem Palast hinaus und hat eine Idee, wie er es vermeiden kann, das Todesurteil über Jesus sprechen zu müssen. Ganz offen spricht er aus, dass er Jesus für unschuldig hält. Und damit alle das Gesicht wahren, schlägt er vor, Jesus im Rahmen der sogenannten Passa-Amnestie freizulassen. Immer zum Passafest durfte sich das Volk einen Gefangenen aussuchen, der aus dem Gefängnis von Pilatus freigelassen wird. Doch der Plan des Pilatus scheitert: Statt Jesus auf diese Weise loszuwerden, fordern die jüdischen Ankläger die Freilassung des Barabbas, eines verurteilten Terroristen. Was für ein Kontrast: Dem König der Juden wird die Freilassung versagt; dafür kommt ein Verbrecher frei! Ja, ein tiefer Sinn liegt in dieser Szene: Jesus, der König, kommt nicht frei, damit der rechtmäßig Verurteilte freikommt – ja, genau darum geht es bei Jesu Weg ans Kreuz. Jesus erleidet Unrecht, damit wir eine Gerechtigkeit bekommen, die wir gar nicht verdient haben.

Ja, denke an Jesus, wenn dir selber auch großes Unrecht widerfährt, wenn du erleben musst, wie dein Asylantrag, den du als Christ gestellt hast, abgelehnt wird, während diejenigen, die dich im Asylbewerberheim angegriffen und verletzt haben, ganz ohne Probleme ihren Aufenthalt bekommen, wenn du aus Deutschland weggeschickt werden soll, weil man dir die Ernsthaftigkeit deines Glaubens abspricht, während du siehst, dass Menschen, die andere wegen ihres Glaubens bedrohen, hier in Deutschland bleiben können. Ja, denke an Jesus, wenn du dieses Unrecht erfährst! Er weiß, wie dir zumute ist! Und denke an Jesus, der auch für dich den Weg ans Kreuz gegangen ist, damit du frei, damit du gerettet wirst! Das kann dir kein Gericht nehmen!

Und dann greift Pilatus zu einem letzten Mittel: Er lässt Jesus geißeln. Eine furchtbare Folter: Peitschenhiebe, unter denen die Haut des Gegeißelten aufplatzte und unter denen so mancher Geschundene starb. Eigentlich ist die Geißelung der erste Teil der Vollstreckung der Todesstrafe. Doch hier lässt Pilatus die Geißelung schon vor dem Todesurteil vollziehen. Er will Jesus den Anklägern als Elendsgestalt präsentieren, als Witzfigur eines Königs, um ihnen deutlich zu machen, dass es sich nicht lohnt, gegen solch einen Typen weiter vorzugehen. Ja, Pilatus will die Verurteilung vermeiden – aber so ganz kann er von seinem Zynismus auch nicht lassen: Er präsentiert den jüdischen Anklägern ihren König: Eine zusammengeschlagene Elendsgestalt mit Purpurmantel und Dornenkrone – solch einen König habt ihr verdient!

„Sehet, welch ein Mensch!“ – so führt Pilatus Jesus seinen Anklägern vor. Und dabei weiß er in Wirklichkeit gar nicht, was er da sagt! Veralbern will er die, denen er diesen Menschen zeigt, veralbern will er letztlich auch diesen Menschen selber. Doch in Wirklichkeit präsentiert er den Anklägern damals, präsentiert er auch uns den, der in Wahrheit unser König ist, lässt uns anbetend vor ihm, diesem König, auf die Knie sinken.

„Sehet, welch ein Mensch!“ – Ja, schau ihn dir an, diesen Menschen, blutend und zitternd am ganzen Leibe, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, veralbert und verspottet. Ja, schau ihn dir an, diesen Menschen! Er ist nicht bloß ein Märtyrer, nicht bloß einer, der dich in deinen Nöten verstehen kann. Sondern dieser Mensch ist zugleich der fleischgewordene Gott, der die tiefsten Tiefen unseres Menschseins durchleidet – nur um dir den Weg ins ewige Leben zu bahnen. Er lässt sich für dich zusammenschlagen, lässt sich für dich an das Kreuz nageln, damit du der letzten und entscheidenden Gerichtsverhandlung deines Lebens nicht mit Angst entgegenblicken musst, sondern schon hier und jetzt weißt, dass dich am Ende der Freispruch erwartet – ja, genau darum, weil dieser Mensch für dich in den Tod gegangen ist. Unendlich mehr als ein Vorbild ist er, dein Herr und dein Retter. Für dich macht er sich zur Elendsgestalt, damit du am Ende deines Lebens nicht vor der Strafe zittern musst, sondern voll Freude am ewigen Leben Anteil haben darfst. Ja, seht welch ein Mensch! Genauso sieht der Gott aus, an den du glaubst: ein Gott, der aus Liebe zu dir den Tod erleidet. Halte nur fest an ihm, sinke vor diesem Menschen immer wieder in die Knie, lass dich von nichts und niemand, auch von keinem menschlichen Gerichtsurteil von dem Glauben an ihn abbringen! Bei ihm zu bleiben ist wichtiger als alles sonst im Leben! Er ist und bleibt doch dein König! Amen.

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