St. Johannes 19,16-30 | Karfreitag | Pfr. Dr. Martens

Seit mehr als sieben Jahren kämpfte er nun schon darum, hier in Deutschland wegen seiner Konversion vom Islam zum christlichen Glauben als Flüchtling anerkannt zu werden. Jahr um Jahr vergingen. Mittlerweile hatte er schon seinen 30. Geburtstag hinter sich – und er fragte sich: Habe ich mein Leben allmählich verpasst, bleibe ich jetzt mein ganzes Leben lang in einem Wartestand, ohne das Ziel zu erreichen?

Von einem gut 30jährigen ist auch im Heiligen Evangelium dieses Karfreitags die Rede, ja vom Ende eines Lebens, das nur gut dreißig Jahre lang auf dieser Erde gedauert hat und nun schon vorbei ist, vorbei, bevor es eigentlich so richtig begonnen hat, möchte man meinen. Doch aus dem Munde dieses gut 30jährigen hören wir ein Wort, das so ganz anders klingt als die Verzweiflung über ein unvollendetes, scheinbar erfolgloses Leben, ein Wort, das in krassem Widerspruch zu der kurzen Zeitdauer dieses Lebens zu stehen scheint: „Es ist vollbracht!“ Wie ist das gemeint, wie kann dieser 30jährige Jesus diese Worte am Schluss seines Lebens am Kreuz sagen, ja, was für ein Trost und was für eine Ermutigung liegen in diesen Worten auch für uns? Genau das wollen wir nun miteinander entdecken, indem wir uns noch einmal genauer anschauen, was uns St. Johannes im Heiligen Evangelium dieses Tages schildert:

„Es ist vollbracht!“ – Das ist natürlich zunächst einmal ein letzter Schrei der Erleichterung eines zu Tode gefolterten Menschen. St. Johannes ist kein Mel Gibson. Er beschreibt nicht in allen Einzelheiten die Folterqualen, die Jesus dort am Kreuz erlitten hat. Doch er verharmlost auch nicht, was da mit Jesus geschieht, lässt in seinen Andeutungen klar erkennbar werden, was Jesus durchlitten hat. Noch in der Begegnung des auferstandenen Christus mit Thomas lässt uns Johannes die Nägelmale erkennen, die Löcher, die die Nägel in die Hände und Füße Jesu getrieben haben, als er ans Kreuz gehängt wurde. Dezent, aber dennoch deutlich schildert er, wie Jesus da am Kreuz splitternackt ausgezogen wird, ein Spott für die Leute, und eine zusätzliche Einnahmequelle für die Soldaten, die ihn dort ans Kreuz genagelt hatten. Was für eine unerträgliche Schande! „Mich dürstet“ – so spricht Jesus am Schluss. Wir können nur ahnen, was sich hinter diesem Wunsch verbirgt. Eine medizinische Doktorarbeit aus dem Jahr 1986 beschreibt das, was ein Gekreuzigter zu durchleiden hatte, so: „Der Tod am Kreuz wird durch eine allgemeine Hyp- und Anoxie hervorgerufen, die durch traumatischen Schock, orthostatischen Kollaps, Ateminsuffizienz und Herzbeuteltamponade verursacht werden und sich in ihren Auswirkungen gegenseitig verstärken.“ Das heißt auf Deutsch: Die starken Schmerzen durch die Nägel in Händen und Füßen und das Absacken des Blutes in die untere Körperhälfte durch das Hängen am Kreuz sorgen dafür, dass der Gekreuzigte immer schlechter atmen kann und allmählich immer mehr erstickt. Zugleich sammelt sich Flüssigkeit im Herzen und lässt das Herz immer schlechter arbeiten. Dies führt dazu, dass der Körper immer weniger mit Sauerstoff versorgt wird und daran schließlich stirbt. Ja, Johannes lässt keinen Zweifel daran: Der da am Kreuz stirbt, ist nicht bloß irgendein Geistwesen, es ist ein wirklicher Mensch. Und nur weil er, Jesus, ein wirklicher Mensch war, weil er wirklich gelitten hat, konnte er uns retten.

„Es ist vollbracht!“ – Denke daran, wenn du in deinem Leben so viel zu durchleiden hast, wenn dir das Leiden kaum noch erträglich erscheint. Dein Herr Jesus Christus weiß, wie dir zumute ist, er kennt deine Seufzer, ja, er kennt deine Sehnsucht, dass es endlich vorbei sein möge. Er ist und bleibt mit dir in deinem Leid – bis zum Schluss. Denn er hat auch für dich gerufen: „Es ist vollbracht!“

Doch „Es ist vollbracht“ bedeutet noch viel mehr: Gleich zweimal betont St. Johannes hier in unserem Evangelium, dass Jesus mit dem, was er da erlitten hat, die Schrift, das Alte Testament, erfüllt hat. Das Unfassliche, Unsagbare erhält darin seinen Sinn, dass es dem Plan Gottes entspricht, wie wir ihn schon im Alten Testament erkennen können. Der furchtbare Foltertod Jesu – er ist eben nicht einfach nur ein sinnloses Geschehen, sondern Erfüllung dessen, was Gott für uns vorgesehen hat, um uns zu retten. Alles, was wir im Alten Testament lesen, erhält erst von Christus her seinen letzten und tiefsten Sinn, findet in ihm seine Erfüllung. Und umgekehrt zeigt uns das Alte Testament, dass auch das furchtbare Geschehen der Kreuzigung nicht nur ein tragischer Unglücksfall war, sondern gewollt war – zu unserem Heil.

„Es ist vollbracht!“ – Denke an die Worte Jesu, wenn dir in deinem Leben alles nur noch sinnlos erscheint, wenn du überhaupt nicht erkennen kannst, wozu das dienen soll, was du in deinem Leben erfährst! Jesus hat in seinem Tod am Kreuz gezeigt, wie Gott auch noch das allerwidersinnigste Geschehen in seinen Dienst nehmen kann, um daraus Gutes, ja, Heil für die ganze Welt zu wirken. Gott vermag auch dem scheinbaren Widersinn deines Lebens noch einen Sinn zu geben, wenn du verbunden bist und bleibst mit dem, der den Plan seines Vaters bis zum Ziel geführt und gerufen hat: „Es ist vollbracht!“

Doch der Ruf Jesu „Es ist vollbracht!“ hat noch eine weitere Bedeutung: Im Heiligen Evangelium dieses Tages schildert uns St. Johannes sehr eindrücklich, wie Jesus als ein König stirbt. Als König war er angeklagt und verurteilt worden – als König wird Jesus der ganzen Welt in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache von Pilatus präsentiert. Alle sollen es lesen und hören: Der da am Kreuz hängt, ist ein König, der König der Juden. Als König war Jesus in Jerusalem mit Palmen empfangen worden. Nun geht er seinen Weg weiter zum Königsthron, dem Kreuz, vollendet eben darin seine Erhöhung. Genau dazu leitet uns Johannes hier an, in der furchtbaren Erniedrigung am Kreuz unseren König zu erkennen, der eben ganz anders regiert, als es alle Herrscher dieser Erde tun: nicht mit Gewalt, sondern mit der Macht seiner Liebe, die sich in den Tod gibt und sich gerade darin vollendet.

„Es ist vollbracht!“ – Lerne von Jesus, auch dein Leben noch einmal mit anderen Augen zu sehen. Nicht das macht dein Leben aus, was du in deinem Leben an Erfolgen, an Leistungen vorzuweisen hast. Sondern der tiefste Sinn auch deines Lebens besteht darin, dass du deinen Lebensweg in der Nachfolge deines Herrn gehst, ja, gerade auch durch Leiden hindurch bis in den Tod. Ja, gerade so wirst du erfahren, wie dein Leben im Tod nicht im Nichts versinkt, sondern wie auch du durch den Tod in die allerhöchsten Höhen gehoben wirst: in das Leben in der Gegenwart deines Herrn und Königs Jesus Christus. „Es ist vollbracht!“ – Lerne von Jesus, ihn nicht in den großen Glücksgefühlen und Glücksmomenten deines Lebens zu suchen und zu finden, sondern gerade da, wo wir ihn mit unserem menschlichen Denken am Wenigsten erwarten würden: im scheinbar lächerlich Kleinen, in etwas Wasser, in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl. Da begegnet er dir, der König aller Könige, da nimmt er dich als Herrscher in sein Reich auf, lässt dich im Kleinen und Unscheinbaren schon hier und jetzt seine Herrlichkeit erfahren.

Doch der Ruf „Es ist vollbracht!“ hat schließlich noch eine weitere Bedeutung:

„Es ist vollbracht!“ – Tetelestai! So pflegte man damals zur Zeit des Neuen Testaments bezahlte Rechnungen zu quittieren: Alles bezahlt – kein Betrag mehr offen! „Es ist vollbracht!“ – Es ist alles bezahlt! Was für ein Trost liegt in diesem Wort Jesu verborgen! Ja, dazu ist er, unser Herr, in die Welt gekommen, um die Rechnung zu bezahlen, die wir selber niemals bezahlen könnten, um unsere Schulden zu begleichen, die uns daran gehindert hätten, für immer in der Gemeinschaft mit Gott zu leben. Nein, diese Schulden hat Jesus nicht schnell mal aus seiner Portokasse beglichen. Um diese Schulden zu begleichen, musste er in der Tat alles geben, sogar sein eigenes Leben am Kreuz. Und als er stirbt, stirbt er eben mit diesem Ruf auf den Lippen: „Es ist vollbracht!“ „Es ist bezahlt!“ – Ich habe getan, was mein Auftrag war, ich habe die Schuld der ganzen Welt beglichen!

„Es ist vollbracht!“ – Behalte diese Worte immer und immer wieder in deinem Ohr, wenn dein Gewissen dir sagt, dass Gott dir das, was du in deinem Leben getan hast, doch gar nicht vergeben kann, dass das zu viel ist, geradezu unvergebbar! Nein, ist es nicht! Jesus hat die Rechnung bezahlt, auch die Rechnung deines Lebens, voll und ganz, ohne jeden Außenstand. Nichts, kein Cent bleibt übrig, den du noch begleichen müsstest. Nichts musst du noch dazu beitragen, dass du gerettet wirst, dass du in den Himmel kommst. Jesus hat es bezahlt, voll und ganz, ein für alle Mal. Berufe dich darum immer wieder auf dieses Wort deines Herrn, präge es dir immer tiefer in dein Herz ein: „Es ist vollbracht!“ Mein Herr hat alles bezahlt. Und eben dies spricht er dir gleich auch noch persönlich auf den Kopf zu, dass ja kein Zweifel daran bleibt, dass er tatsächlich alles bezahlt hat: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Die Begleichung der Rechnung gilt auch für dich, gilt auch für dein Leben.

So unvollendet und unfertig dir dein Leben auch erscheinen mag: Es erscheint in einem anderen Licht, wenn du es von diesem Wort deines Herrn beleuchten lässt. Auch dein Leben wird einmal vollendet sein, 100% - nicht weil du es so großartig hinbekommen hast, sondern weil du einen Herrn hast, der auch für dich am Kreuz gerufen hat: „Es ist vollbracht!“ Amen.

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