St. Johannes 19,16-30 | Karfreitag | Pfr. Dr. Martens

Sie stehen uns allen wohl immer noch vor Augen – die Bilder von der entsetzlichen Flugzeugkatastrophe in den Französischen Alpen in der vergangenen Woche. Scheinbar völlig sinnlos endete dort das Leben von 150 Menschen, nachdem den Indizien zufolge der Copilot das Flugzeug gegen eine Felswand gesteuert hatte, sodass von dem Flugzeug und den Insassen nur noch kleine Fetzen übrigblieben. Kein Wunder, dass dieses Geschehen hier bei uns im Lande die Menschen besonders bewegt und erschüttert hat.

Um einen furchtbaren, scheinbar völlig sinnlosen Tod geht es auch im Heiligen Evangelium dieses Karfreitags, ja darum geht es in diesem heutigen Gottesdienst insgesamt: Da wird ein Mensch auf die brutalstmögliche Weise zu Tode gefoltert. Nichts, aber auch gar nichts konnte diese Tat rechtfertigen; nicht den geringsten Anlass hatte der, der da am Kreuz hing, für solch eine Hinrichtung gegeben. Er stirbt unter entsetzlichen Qualen – und wir? Bewegt uns dieses Schicksal dieses Hingerichteten so sehr wie das Schicksal der Menschen an der Felswand der französischen Alpen? Steht uns sein Bild so vor Augen wie die Bilder, die wir in den vergangenen Tagen immer wieder im Fernsehen und in den Zeitungen haben mitverfolgen können?

Ja, wir tun gut daran, uns mit diesem einen Tod, um den es hier im Heiligen Evangelium geht, noch einmal genauer zu befassen. Denn so sinnlos er auch erscheinen mag – in Wirklichkeit hat er eben doch eine entscheidende Bedeutung für unser aller Leben, erscheint von diesem Kreuz her unser aller Leben und Sterben, ja selbst das Sterben der 150 Menschen in den Französischen Alpen noch einmal in einem anderen Licht.

Eindrücklich stellt uns St. Johannes hier in seinem Evangelium vor eine Alternative: Wie gehen wir mit dem Sterben dieses Jesus von Nazareth um? Machen wir es wie die Soldaten unter dem Kreuz, die von diesem Sterben bereits völlig abgestumpft waren, die das Sterben Jesu nur als Möglichkeit sehen, davon zu profitieren oder sich selber zu bereichern? Machen wir es wie die Soldaten, die so sehr damit beschäftigt sind, sich nur um ihre alltäglichen Geschäfte zu kümmern, dass sie sich von dem Anblick des Gekreuzigten gar nicht mehr bewegen lassen, oder hören wir noch hin, was dieser Gekreuzigte auch uns zu sagen hat?

Die Soldaten unter dem Kreuz – sie erinnern mich ein wenig an so manchen Medienvertreter der vergangenen Tage, der das Unglück in den Französischen Alpen offenkundig dazu nutzen wollte, für sich selber daraus eine gute Story zu machen. Aber sie erinnern mich auch an all diejenigen, die es doch eigentlich besser wissen sollten, was das Kreuz ihres Herrn Jesus Christus für sie bedeutet, und die sich dann doch nur mit ihren alltäglichen Geschäften befassen, vielleicht sogar heute an diesem Karfreitag, statt immer wieder dorthin zu kommen, wo sie hören können, was ihr Herr zu sagen hat, der für sie am Kreuz gestorben ist. Wer von Christus nur irgendwelche Vorteile für sein alltägliches Leben erwartet, der gleicht den Soldaten unter dem Kreuz, der nimmt sich nur seine Kleider, aber verpasst, was Christus uns in Wirklichkeit zu schenken hat.

Doch ihr seid nun heute Nachmittag hierhergekommen zum Kreuz eures Herrn. Und so lasst uns nun gemeinsam hören, was dieser Herr auch uns vom Kreuz herab zu sagen hat.

Da wendet er sich zunächst einmal an seine Mutter Maria. Wie entsetzlich muss es für sie sein, dabei zusehen zu müssen, wie grausam ihr Sohn zu Tode gebracht wird. Maria – sie ist gleichsam das Sinnbild für all diejenigen, die von schwerem Leid getroffen sind und fassungslos davorstehen, einfach nicht begreifen können, was ihnen da widerfährt. In ihr, Maria, dürfen sich all diejenigen wiederfinden, die in diesen Tagen um den Tod eines geliebten Menschen trauern, all diejenigen, die nicht begreifen können, warum ihnen in ihrem Leben so Schweres, so scheinbar völlig Sinnloses widerfahren muss. Und ihr, Maria, wird nun der Jünger, den Jesus lieb hat, ihr wird nun Johannes an die Seite gestellt, er, der die Worte Jesu vernimmt und aufschreibt, er, der den Sinn des Kreuzes Jesu bezeugen kann, der mit den Worten Jesu trösten und aufrichten kann. Ja, dieser Jünger Jesu tröstet uns bis heute mit den wunderbaren Worten in seinem Evangelium, die doch gar nicht seine Worte sind, sondern die Worte des erhöhten Jesus Christus selber. An ihn weist Jesus auch uns vom Kreuz herab: Hört auf die Worte dieses Evangeliums. Sie stärken euch auch und gerade dann, wenn ihr von schwerem Leid getroffen seid. Sie zeigen euch: So wenig wie mein Tod am Kreuz sinnlos ist, so wenig ist euer Leben und euer Leiden sinnlos. Ich gebe mein Leben für euch in den Tod, damit ihr ein Leben habt, das stärker ist als der Tod, damit ihr selbst angesichts des Todes nicht zu verzweifeln braucht.

Und dann hören wir aus dem Munde Jesu hier ein zweites Wort: „Mich dürstet!“ Er, die Quelle des Lebens, er, der Schöpfer des Universums, er, das Leben in Fülle, wird von Durst gequält, leidet selber entsetzliche Qualen, festgenagelt an das Kreuz, unfähig, noch für die Erfüllung seiner elementarsten Bedürfnisse selber zu sorgen. Er, der ewige Sohn Gottes, er, der König Israels, ja der ganzen Welt, er leidet, ja, er stirbt. Wenn es dir angesichts des Leides, das du selber in deinem Leben erfährst, wenn es dir angesichts des Leides, das anderen Menschen in ihrem Leben widerfährt, geradezu die Sprache verschlägt, wenn du das so überhaupt nicht mit deinen Vorstellungen, mit deinem Bild von einem liebenden Gott vereinbaren kannst, dann blicke auf ihn, deinen Herrn und Heiland Jesus Christus, wie er hier am Kreuz hängt, wie er selber leidet. Wenn du dich sehnst nach einer Antwort auf Fragen in deinem Leben, die dich so sehr quälen, dann höre auf ihn, deinen Herrn, wie er hier selber Durst hat, wie er nach dem verlangt, was ein Mensch am allernötigsten für sein irdisches Leben braucht. Er, Christus, versteht die, die leiden und sterben, er versteht die, die nach Antwort auf Fragen verlangen und sich damit quälen, er schaut nicht teilnahmslos von oben auf uns herab, sondern als einer, der mit uns zu leiden vermag, der mit uns, aber eben vor allem auch für uns gelitten hat. Er steht denen zur Seite, die jetzt so fassungslos vor dem stehen, was letzte Woche in den Französischen Alpen geschehen ist, er steht denen zur Seite, die auch in unserer Mitte nach Antworten verlangen, ja, nach Leben dürsten. Er verlässt uns alle nicht, wenn einmal unsere letzte Stunde kommt, in der auch wir vielleicht uns nur noch danach sehnen werden, dass jemand auch unsere Lippen befeuchtet, uns nicht allein lässt in unseren letzten Atemzügen. Da steht er dann auch an deiner Seite, versteht dich, ja stillt deinen Durst nach Leben auf viel wunderbarere Weise, als du es jetzt auch nur erahnen kannst, er, der doch auch für dich gerufen hat: „Mich dürstet!“

Und dann kommt das letzte Wort Jesu, das St. Johannes uns hier überliefert. Ein einziges Wort ist es im Griechischen: „tetelestai“ – Es ist vollbracht! Wie viel steckt in diesem einen Wort drin: Ja, es ist gewiss auch ein Schrei der Erleichterung, dass er dem Willen des Vaters treu geblieben ist bis zum letzten Augenblick. Aber es ist noch mehr: Mit diesem Schrei bringt er zum Ausdruck: Ja, ich habe getan, was nur ich tun konnte; ich habe sie getragen, weggeschafft: die Sünde der ganzen Welt. „Tetelestai“ – so wurden damals zurzeit Jesu auch bezahlte Rechnungen unterschrieben: Es ist alles bezahlt; da bleibt keine Forderung mehr übrig. Höre sie, diese Worte deines Herrn, wenn dich dein Gewissen quält, wenn du den Eindruck hast, da gibt es etwas in deinem Leben, das dir niemand vergeben kann, auch Gott selber nicht. „Tetelestai“ – es ist bezahlt, vollständig, ohne Restbetrag. Er, Christus, dein Herr und Heiland, dein König, hat tatsächlich die Sünde der ganzen Welt und damit auch all deine Sünde und all dein Versagen auf sich genommen und weggetragen. Was das für ihn, Jesus, selber bedeutet hat – wir können es noch nicht einmal erahnen. Aber was er damit erreicht hat, das wissen wir, das dürfen wir bezeugen: Er, Christus, ist wirklich für die Sünde eines jeden Menschen gestorben, für deine Sünde, für meine Sünde, ja auch für die Sünde und das Versagen eines Andreas Lubitz.

„Tetelestai“ – alles ist bezahlt, alles ist vollbracht. Wir können es gar nicht oft genug hören, können es uns gar nicht oft genug sagen lassen. Immer wieder haben wir es nötig, dass es uns auf den Kopf zugesprochen wird: Der Tod Jesu, er war nicht bloß ein Justizskandal, nicht bloß ein schreckliches, sinnloses Geschehen. Der Tod Jesu am Kreuz – er bedeutet deine Rettung, er öffnet auch dir die Tür zum ewigen Leben. „Tetelestai“ – es ist bezahlt. Christus selber sagt es dir gleich wieder persönlich zu hier am Altar, wenn dir die Hand aufgelegt wird und du die Heilige Absolution empfängst. Vergiss niemals dies Wort deines Herrn, vergiss niemals, was er für dich am Kreuz getan hat. Die Bilder von der Flugzeugkatastrophe in den Französischen Alpen, sie werden irgendwann einmal vor unseren Augen verblassen. Doch das Bild deines Herrn Jesus Christus, wie er für dich am Kreuz hängt, das soll dir ein Leben lang immer wieder vor Augen stehen. Johann Sebastian Bach hat es in seiner Johannespassion so wunderbar zum Ausdruck gebracht, wenn er den Chor nach der Schilderung der Kreuzigung Christi singen lässt: „In meines Herzens Grunde dein Nam‘ und Kreuz allein funkelt all Zeit und Stunde, drauf kann ich fröhlich sein. Erschein mir in dem Bilde, zu Trost in meiner Not, wie du, Herr Christ, so milde dich hast geblut’t zu Tod.“ Ja, „drauf kann ich fröhlich sein“ – auch und gerade am Karfreitag. Amen.
  

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