St. Johannes 5,1-18 | 19. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Unter Menschen zu leben kann ganz schön brutal sein. So erfährt es der Mensch, von dem St. Johannes in der Predigtlesung dieses heutigen Tages berichtet. In dem größten Erlebnisschwimmbad Jerusalems befindet er sich – umgeben von vielen anderen Menschen, die dort ihr Bedürfnis nach Wellness befriedigen, umgeben aber auch von vielen Menschen, die sich als seine Konkurrenten herausstellen. 38 Jahre ist er nun schon krank, 38 Jahre abgeschnitten von einem normalen Leben. Nein, er sitzt da nicht in der großen Badeanlage am Schaftor in Jerusalem, um zu relaxen, um ein wenig Spaß zu haben. Er sitzt da, weil er die Hoffnung hat, dort, an diesem Ort, endlich gesund zu werden. Von Zeit zu Zeit sprudelte die Quelle, die die Badeanlage mit Wasser versorgte, etwas kräftiger und dann, so hieß es, würde der erste, der nach diesem Sprudeln ins Wasser stieg, von seiner Krankheit geheilt. Doch er, dieser kranke Mann, hatte bei diesem Wettlauf einfach keine Chance. Bevor er sich da mühsam ins Wasser gequält hatte, waren andere längst schneller gewesen als er. Und schlimmer noch: Er hatte niemanden, der ihm half: „Ich habe keinen Menschen“, so beschreibt er es hier in dieser Geschichte. Unter vielen Menschen zu sein und doch keinen Menschen zu haben – das war für ihn wohl noch schlimmer als die Krankheit selbst.
Unter Menschen zu leben kann ganz schön brutal sein. Das ist eine Erfahrung, die nicht nur damals jener Mann in dem Jerusalemer Schwimmbad gemacht hat, das ist eine Erfahrung, die Menschen auch heute noch in vielfältiger Weise machen:
Da sitzen gerade heutzutage so viele Menschen in ihren Wohnungen, gelähmt von einer Depression. „Reiß dich zusammen, tu endlich etwas! Du musst in deinem Leben schon selber Verantwortung übernehmen!“ – So rufen es ihnen die Menschen in ihrer Umgebung zu. Doch genau das ist ja ihr Problem, dass sie das nicht können, dass sie wie gelähmt sind, nein, nicht unbedingt, dass sie nicht mehr laufen können, sondern dass sie schlicht und einfach nicht die Schritte gehen können, die andere von ihnen erwarten. Und die anderen Menschen um sie herum, die das alles besser können, die sie in ihrer Depression nicht verstehen können, sie machen das alles noch viel schlimmer. „Ich habe keinen Menschen.“
Oder da gibt es Menschen, die in ihrem ganzen Leben genau dieselben Erfahrungen gemacht haben wie dieser Mensch in unserer Geschichte 38 Jahre lang: Immer haben sie sich darum bemüht, etwas zu erreichen, immer haben sie gekämpft – aber immer war jemand anders schneller und besser als sie. Die Freundin – die hatte sich schließlich jemand anders geschnappt. Der Arbeitsplatz – er wurde von jemand anders besetzt, der einfach besser war. Die Wohnung – ach, wie viele hatten sie sich schon angeschaut, immer vergeblich. Immer war da ein anderer, der besser und schneller war. Schließlich hatten sie aufgegeben, resigniert: Die Menschen um einen herum, sie waren doch nur Konkurrenten, Gegner, gegen die man sich nicht durchsetzen konnte, vor allem wenn man selber ganz allein war. „Ich habe keinen Menschen.“
„Ich habe keinen Menschen!“ – Diese Worte höre ich immer wieder auch in meiner Arbeit mit geflüchteten Menschen. Alles hatten sie um ihres Glaubens willen aufgegeben. Und nun sitzen sie hier in Deutschland und stellen fest, dass sie keinen haben, der sie versteht, keinen, der ihnen helfen will. Da sitzen sie dann wie gelähmt, vor sich Briefe in Behördendeutsch. Da sitzen sie dann wie gelähmt, vor sich ihren Abschiebebescheid oder die Abweisung ihrer Klage vor Gericht. „Ich habe keinen Menschen, keinen, der mir helfen kann!“ – Ach, wie gut können diese Menschen den Kranken hier in unserer Geschichte bei St. Johannes verstehen!
Und dann hat dieser Mensch da am Teich Bethesda endlich einmal Glück: Da begegnet ihm endlich ein Mensch, der ihn versteht, der um seine Situation weiß. Da begegnet ihm endlich ein Mensch, der ihm nicht nur ein paar freundliche Sprüche sagt, sondern der seine Situation grundlegend ändert, ihn wieder gesund macht, ihn damit herausholt aus dem verzweifelten Konkurrenzkampf mit anderen, den er niemals gewinnen konnte. „Steh auf, nimm deine Matte und geh hin!“ – Diese Worte hört er – und er merkt sofort: Diese Worte sind nicht einfach bloß ein netter Wunsch, die bewirken, was sie sagen, lassen ihn tun, was er nie konnte: Er steht auf, nimmt seine Matte und marschiert los. Was für ein Wunder, was für ein Grund zur Freude! Doch kaum ist er mit seiner Matte losmarschiert, da wird er auch schon von den Menschen in seiner Umgebung angemacht: „Es ist Sabbat! Du darfst deine Matte nicht tragen!“ Statt sich mit dem Geheilten zu freuen, meckern sie herum, vermiesen ihm seine Freude, machen ihm Vorwürfe. Ja, es kann wirklich ganz schön brutal sein, unter Menschen zu leben.
Ach, wie aktuell ist auch diese Schilderung! So vielen Menschen fällt es auch heute so schwer, sich mit anderen zu freuen, denen etwas Gutes widerfahren ist, meckern und motzen herum. Wenn der Staat geflüchtete Menschen unterstützt, sie zumindest mit dem Existenzminimum versorgt, dann gehen in unserem Land sofort Neiddebatten los, dann wartet man nur darauf, diese Menschen als Straftäter brandmarken zu können, die das Gute, das ihnen gegeben worden ist, wahrlich nicht verdient haben. Und so viele Menschen sehen es geradezu als ihren Lebensinhalt an, über andere Menschen zu Gericht zu sitzen, ihnen deutlich zu machen, was sie alles falsch gemacht haben, ja, vielleicht kaum dass diese am Sonntag hier den Kirchraum verlassen haben. Ja, unter Menschen zu leben, kann ganz schön brutal sein, mitunter sogar unter sehr frommen Menschen.
Ja, was bleibt einem, wenn einen die Menschen in der eigenen Umgebung im Stich lassen und enttäuschen, wenn sie sich immer wieder nur als Konkurrenten herausstellen, wenn es da so wenige gibt, die sich mit einem mitfreuen können, wenn einem im Leben einmal etwas Gutes widerfährt?
Es bleibt diesem Menschen hier in unserer Geschichte nur der eine, der da so ganz unvermittelt in sein Leben getreten war und ihn doch von Anfang an ganz genau kannte. Es bleibt diesem Menschen nur dieser eine Jesus Christus. Der macht keine blöden Sprüche, sondern dessen Worte haben Kraft, sie heilen, sie machen gesund. Dieser eine kämpft nicht mit dem Ellenbogen, um sich gegen andere durchzusetzen, sondern gibt sein Leben für andere dahin. Dieser eine Jesus Christus eröffnet diesem kranken Menschen hier in unserer Geschichte einen Lebenshorizont, der weit über das hinausging, was der selber erwartet hatte. Der hatte selber höchstens darauf gewartet, dass ihn vielleicht doch mal irgendein Mensch schnell zum Wasser brachte, wenn dieses sich bewegte. Doch nun erfährt dieser Mensch, dass Jesus ihm viel mehr schenkt, als er selber erhofft hatte. Zunächst einmal weiß dieser Mensch noch nicht, wer dieser Jesus überhaupt ist. Denn Jesus macht aus seiner Heilung keine große Show, sondern verschwindet danach gleich wieder. Und dennoch lässt Jesus den Menschen auch nach seiner Heilung nicht aus den Augen, findet ihn im Tempel, macht ihm deutlich, dass es in seinem Leben um noch mehr geht als bloß darum, wieder gesund zu werden: Jetzt, wo er erkannt hat, wer Jesus ist, jetzt, wo er erkannt hat, dass dieser Jesus ihn nicht bloß geheilt hat, sondern auch dazu in der Lage ist, die Weisungen des göttlichen Gesetzes außer Kraft zu setzen, jetzt, wo er mit diesem Jesus in Verbindung gekommen ist, wäre es für ihn noch schlimmer, als 38 Jahre krank zu sein, wenn er sich nun von diesem Jesus wieder trennen würde, wenn er nicht bei dem bleiben würde, dessen Nähe wichtiger ist als die Nähe all der anderen Menschen um ihn herum, die ihm doch nicht geholfen haben. Ja, so macht es Jesus deutlich: Ich bin eben nicht bloß ein Wundertäter, sondern in mir begegnet ihr Gott selber. Wer mich abweist, der weist Gott selber ab. Und das wäre das Schlimmste, was einem im Leben geschehen könnte, schlimmer noch als 38 Jahre Krankheit.
Was bleibt uns, wenn wir auch in unserem Leben immer wieder erfahren, wie brutal es sein kann, von vielen anderen Menschen umgeben zu sein? Was bleibt uns, wenn uns Menschen in unserem Leben so oft enttäuscht haben? Auch uns bleibt nur der eine, der in Wirklichkeit im Zentrum dieser Erzählung im Johannesevangelium steht. Auch uns bleibt nur der eine, Jesus Christus. Sein Wort hat Kraft, Kraft, das Leben von Menschen zu verändern. Sein Wort bewirkt, was es sagt, so werden wir es auch gleich wieder hier in unserem Gottesdienst erfahren, wenn die Worte Christi eine neue Wirklichkeit schaffen in der Feier des Heiligen Sakraments: Das ist mein Leib, das ist mein Blut!
Auch uns bleibt nur der eine, Jesus Christus, bei dem wir gewiss sein können: Der kennt uns ganz genau, selbst wenn uns sonst keiner kennt. Er weiß, wie es uns geht, er weiß, was wir wirklich zum Leben brauchen.
Ja, wenn dieser Jesus Christus in unser Leben kommt und es verändert, dann mutet er uns damit zugleich zu, dass wir im Weiteren gegen den Strom schwimmen, dass wir auf Unverständnis und Ablehnung stoßen, wenn wir dem folgen, was er, Jesus Christus, gesagt hat. Ja, das sind mitunter auch einsame Wege, auf die uns Christus in unserem Leben stellt. Und doch gibt es auch für uns nichts Wichtigeres, als bei ihm, Christus, zu bleiben, uns an ihn zu halten, der nicht bloß ein großer Lehrer oder Prophet, sondern Gott selber ist. Ja, das Bekenntnis zu Jesus Christus als Gott und Herr führt immer wieder zu Trennungen und Scheidungen, so haben es so viele unserer Gemeindeglieder erlebt. Doch wenn wir bei dem bleiben, der uns längst gefunden hat, bevor wir ihn gefunden hatten, wenn wir bei dem bleiben, dessen Wort wichtiger und machtvoller ist als alles, was sich uns sonst als Autorität vor Augen stellt, wenn wir bei ihm, Christus, bleiben, dann haben wir das Leben, das ewige Leben, dann haben wir, was wichtiger ist als alles andere auf der Welt, wichtiger als Gesundheit, wichtiger als viele Freunde, wichtiger auch als der Aufenthalt in Deutschland.
Und wie gut, wenn wir dann hier in unserer Gemeinde erleben, dass es nicht automatisch brutal sein muss, mit anderen Menschen zusammen zu sein! Wie gut, wenn wir hier in unserer Gemeinde erleben, dass Menschen aufeinander achthaben, dass sie nicht andere richten und verdammen, sondern sich mit ihnen darüber freuen, dass auch sie von Jesus gefunden worden sind! Ja, wie gut, wenn wir sagen können: Ich habe einen Menschen, den, der zugleich auch wahrer Gott ist – und ich habe viele andere Menschen dazu, die mit mir zu diesem Jesus Christus gehören und die mich verstehen! Dann wissen wir auch, was unsere Aufgabe am Feiertag ist: nicht im Bett liegen zu bleiben, sondern aufzustehen wie der kranke Mann hier in unserer Geschichte und dorthin zu gehen, wo Jesus auch damals diesen Menschen gefunden hat: Im Haus Gottes. Da will Christus dir auch heute begegnen, um dich gesund zu machen – gesund für die Ewigkeit! Amen.