St. Johannes 9,1-7 | 8. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Wenn sich irgendwo ein Unglück, eine Katastrophe ereignet, wenn wir etwas Schreckliches erleben, das wir nicht erklären können, wenn wir mitbekommen, wie Menschen von einem Schicksalsschlag getroffen werden, dann dauert es nicht lange, bis die Frage nach einem Schuldigen gestellt wird. Wir können mit schlimmen Erfahrungen offenbar nur so klarkommen, dass wir jemanden dafür die Schuld geben. Solche Reflexe haben wir auch jetzt wieder im Zusammenhang mit der Corona-Epidemie erlebt: Als sich das Virus immer weiter ausbreitete, da brauchte man einen Schuldigen, und das waren natürlich in diesem Fall die Chinesen. Nun mag es ja sogar durchaus sein, dass da in Wuhan irgendwo ein menschliches Versagen stattgefunden hat, dass anschließend auch kräftig vertuscht worden ist, aber was nutzt es unseren Gemeindegliedern, die um ihren Vater, um ihre Verwandten trauern, die an diesem Virus gestorben sind, wenn sie nun wissen, dass daran entweder ein Labormitarbeiter oder irgendein Verkäufer auf einem Markt in Wuhan ursprünglich einmal schuld war? Und wie schnell diese Suche nach Schuldigen dann auch umkippen kann, haben wir auch jetzt wieder erlebt, wenn dann mit einem Mal hier in Deutschland Menschen mit asiatischem Aussehen angefeindet wurden, als ob sie nun an der Verbreitung dieses Virus in irgendeiner Weise schuld wären. Ja, mit dieser Schuldzuweisung an bestimmte Gruppen lässt sich dann auch wunderbar Politik machen, so erleben wir es immer wieder mit Erschrecken: „Die Juden sind unser Unglück“, so hörten es die Menschen vor 80 Jahren hier unserer Stadt; heute sind es dann beispielsweise die Flüchtlinge, die an allem schuld sind, ja, wir haben es erlebt, dass in diesen Wochen der Corona-Krise den Flüchtlingen sogar die Schuld an der Ausbreitung des Corona-Virus in unserem Land gegeben wurde. Hauptsache, man hat jemanden, auf den man mit dem Finger zeigen kann, wenn es einem selber nicht gut geht.

Doch nicht immer geht es nur darum, dass man andere für etwas verantwortlich macht. Heutzutage ist ja auch der Glaube an das Karma sehr beliebt, also der Gedanke, dass Menschen, die jetzt etwas Schlechtes erleiden, für etwas büßen müssen, was sie zuvor an Schlechtem getan haben – und wenn nicht in diesem Leben, dann in einem früheren Leben. Klingt erst einmal ganz schön, dieser Gedanke – und ist in Wirklichkeit doch ganz unmenschlich. Wenn ein Mensch beispielsweise behindert ist, dann braucht man auf ihn keine Rücksicht zu nehmen – ist er doch selber daran schuld, dass er nicht laufen oder nicht sehen oder nicht hören kann! Und auch die Einstellung, dass man auf Eltern die Schuld schieben kann, wenn sie beispielsweise ein behindertes Kind haben, setzt sich in unserer Gesellschaft immer mehr durch. Nun stimmt es ja auch tatsächlich, dass Eltern mit ihrem Verhalten vor der Geburt ganz gewaltig zu Schädigungen ihres Kindes beitragen können – ich nenne nur die Stichworte Rauchen und Alkoholkonsum. Doch heutzutage werden Eltern in unserem Land eben gerade auch dann angeschaut, wenn sie mit einem aus anderen Gründen behinderten Kind zu sehen sind: Konnte man das denn nicht rechtzeitig vor der Geburt „wegmachen“?

Ja, wir merken, wie irrsinnig es auch hier wieder ist, wenn man versucht, für eine Behinderung einen „Schuldigen“ zu finden, ja wenn man die Behinderung eines Menschen automatisch nur noch als Strafe für ein Fehlverhalten zu erklären versucht. Doch, wie gesagt, dieses Denken steckt ganz tief in uns drin.

Hochaktuell ist von daher die Predigtlesung des heutigen Sonntags, in der diese Frage, wer denn schuld für das schwere Schicksal eines Menschen ist, sehr direkt an einem konkreten Beispiel von den Jüngern Jesu gestellt wird: Da sieht Jesus einen Menschen, der von Geburt an blind ist – und seine Jünger fragen ihn zugleich: Wer ist denn nun daran schuld, dass er blind geboren ist: er selber oder seine Eltern? Denn es ist doch klar: einer muss doch schuld sein!

Doch Jesus durchbricht diese Suche nach dem Schuldigen: Wer nach dem Schuldigen fragt, der hat noch gar nichts verstanden von der Bedeutung, die auch schwere Schicksalsschläge, die auch schlimme Ereignisse im Leben von uns Menschen haben sollen: Gott kann auch Schweres dazu gebrauchen, um Menschen die Augen für ihn, ja für seinen Sohn Jesus Christus zu öffnen. Im Falle dieses Blindgeborenen wird das dann auch sehr offensichtlich: Jesus heilt den Blindgeborenen auf ungewöhnliche Weise, spuckt auf die Erde, macht daraus einen Brei, den er dem Blindgeborenen auf die Augen streicht – und dann schickt er ihn zum Teich Siloah, wo er sich waschen soll. Und auf diese Weise wird der Blindgeborene in der Tat von seiner Blindheit geheilt.

Nun hat Jesus das nicht mit allen blinden Menschen damals gemacht, und er gibt auch gleich einen zeitlichen Rahmen an, in dem er diese Heilungen in dieser Form vornimmt: „Solange ich in der Welt bin“, so sagt er es hier – und meint damit die Zeit vor seiner Kreuzigung und Auferstehung. Die Botschaft Jesu lautet nicht: Das Leid in dieser Welt ist ja alles nicht so schlimm – das brauche ich alles, um Gott zu verherrlichen. Jesus weiß selber, was es heißt, zu leiden, Jesus weiß selber, was es heißt, nur noch rufen zu können: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er vertieft in anderer Weise die Frage nach der Schuld, indem er deutlich macht, dass wir alle ohne Ausnahme in der Situation des Blindgeborenen sind:

Ja, blind geboren sind wir alle miteinander, blind für die Wirklichkeit Gottes, blind für den Weg, der zum Leben führt. Natürlich kann man das alles auf die Abwendung der ersten Menschen von Gott zurückführen – aber es macht keinen Sinn, dass wir auf sie mit unserem Finger zeigen und so tun, als ob es uns irgendwie weiterhelfen würde, wenn wir denn sie als Schuldige ausgemacht haben. Nein, blind sind wir selber, und von dieser Blindheit kann sich kein Mensch selber befreien; von dieser Blindheit kann man tatsächlich nur geheilt werden. Und diese Heilung beginnt damit, dass Jesus uns sieht, dass er uns findet. So wenig wie der Blindgeborene auf Jesus zugegangen ist oder sich gar für ihn entschieden hat, so wenig haben wir irgendeinen Beitrag zu unserer Rettung, zu unserer Heilung von der Blindheit geleistet. Es war Jesus allein, der auf uns zugekommen ist, der seine Heilung an uns vollzogen hat. Nichts Spektakuläres gab es bei dieser Heilung zu sehen: Da wurde ein wenig Wasser auf unseren Kopf gegossen, da wurde uns die Hand aufgelegt, da haben wir die Stimme Jesu in seinem Wort vernommen. Aber dadurch ist das Wunder geschehen, vielleicht nicht unbedingt immer so schnell wie hier bei dem Blindgeborenen, vielleicht auch nur ganz langsam, dass Gott uns die Augen geöffnet hat, dass er uns hat erkennen lassen, wer denn allein das Licht dieser Welt, das Licht dieses Lebens ist:  Er, unser Herr Jesus Christus.

In den Anhörungen des BAMF sollen ja unsere Gemeindeglieder immer wieder erklären, wie sie denn zum Glauben an Jesus Christus gefunden haben. Aber das ist eben in vielen Fällen genauso wenig erklärbar wie die Blindenheilung hier in unserer Predigtlesung. Doch wenn unsere Gemeindeglieder dann mit Recht sagen, dass sie nur sagen können, dass Jesus ihnen die Augen geöffnet hat, dann ernten sie dafür natürlich nur Kopfschütteln. Wem Christus nicht selber die Augen geöffnet hat, der kann nicht verstehen, was es bedeutet, die Wirklichkeit Gottes wahrnehmen zu können, diese Welt und das eigene Leben mit anderen Augen sehen zu können. Ja, Menschen, die in vielen Fällen völlig blind für Gott und seine Wirklichkeit sind, entscheiden darüber, wer denn nun ein wahrer Christ ist, mit den entsprechenden Konsequenzen, so erleben wir es Woche für Woche in unserer Gemeinde.

Christus selber hat das damals auch schon angekündigt: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“ Wir spüren etwas von dieser Nacht, die uns umgibt, gerade jetzt in diesen Wochen und Monaten, fragen uns immer wieder auch, warum Christus denn nicht endlich eingreift, um dem Unrecht, das in unserem Land geschieht, der Verhöhnung seiner geringsten Brüder und Schwestern, endlich ein Ende zu bereiten, warum er nicht endlich eingreift, um dieser furchtbaren Seuche ein Ende zu bereiten. „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. Ja, es gibt solche Zeiten der Gottesfinsternis. Und doch geschehen mitten in dieser Finsternis immer wieder Wunder, so erleben wir es eben auch, dass Christus sich auch in dieser Gottesfinsternis als das Licht der Welt Menschen zu erkennen gibt, ihr Leben hell macht, viel heller, als sie es selber zuvor erwartet hatten.

Und wem Christus die Augen geöffnet hat, der sucht nicht mehr nach Schuldigen für die Probleme in seinem Leben, der staunt darüber, dass Christus ihm selber die ganze Schuld seines Lebens vergeben hat, ja, der fragt tatsächlich dann auch bei dem Schwerem in seinem Leben danach, was Gott damit wohl für ihn vorhat, was er dadurch für ihn erreichen will. Ja, der erkennt, wie Christus auch mitten in der Dunkelheit dieser Welt durch scheinbar lächerliche Dinge Großes wirkt, uns durch das Essen eines kleinen Stückes Brot nicht weniger als das ewige Leben im Licht seiner Gegenwart schenkt. Ja, dieses Wunder geschieht auch heute wieder an unserem Altar – und dagegen kommt auch kein Corona-Virus an. Amen.

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