St. Lukas 1, 26-38 | Vierter Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens
Da kommt doch gleich so richtig Weihnachtsstimmung auf, wenn man die Worte unserer heutigen Predigtlesung hört – möchte man meinen. Ein Engel, Maria, die Geschichte von einem kleinen Baby, das geboren werden soll – ist das nicht alles herzanrührend?
Doch bei den meisten derer, die heute Vormittag hier in der Kirche sitzen, lösen diese Worte, die wir eben gehört haben, überhaupt keine weihnachtliche Stimmung aus – auch wenn sie die Worte eben auf Farsi vernommen haben. Denn den meisten der heutigen Gottesdienstteilnehmer ist das, was wir Deutschen unter „Weihnachtsstimmung“ verstehen, insgesamt ganz fremd. Da kommen keine sentimentalen Gefühle auf, keine Kindheitserinnerungen. Und selbst wenn sie solche Gefühle von früher kennen würden, würden ihnen diese spätestens jetzt vergehen, da so viele von euch Bescheide erhalten haben, dass sie dieses Land wieder verlassen sollen, in dem für christliche Asylbewerber offenkundig kein Platz mehr ist. Weihnachten mit dem Abschiebebescheid in der Hand – nein, da will in der Tat keine romantische Stimmung aufkommen.
Doch in Wirklichkeit ging es eben auch damals bei Maria nicht so romantisch zu, wie wir uns das heute vorstellen mögen. Da steht nichts hier in unserer Predigtlesung, dass da mit einem Mal eine Lichtgestalt in das obere Stockwerk der Villa von Maria geflattert kam. Von Flügeln am Leib dieses Boten Gottes lesen wir nichts. Ich gehe davon aus, dass die Nachbarn das schon genau mitbekommen haben, dass da ein Unbekannter in das kleine Häuschen, in dem Maria wohnte, kam, und dass sich kurze Zeit später nach dem Besuch herausstellte, dass Maria mit einem Mal schwanger war – nun ja, da konnte ja wohl jeder anständige Bürger zwei und zwei zusammenzählen, um sich vorzustellen, was da wohl passiert sein musste! Der Erzengel Gabriel beglückt Maria nicht mit einem romantischen Geschenk, sondern bringt sie in größte Schwierigkeiten, denn dass ein Kind nicht von einer Jungfrau geboren sein kann, das wussten die Leute damals schon ganz genau so gut wie wir; das ist keine Errungenschaft der deutschen Aufklärung. Wir haben es also mit einem jungen Mädchen zu tun, das hier offenkundig von Gott selber in große Schwierigkeiten gebracht wird, seinen Ruf verliert und kurz davor steht, von seinem Verlobten wegen dieser Geschichte verlassen zu werden.
Ja, solch eine Geschichte ist schon viel dichter an unserer Erfahrungswelt dran, an der Erfahrungswelt all derer, die es selber erfahren müssen, wie sie von Mitbewohnern oder auch von Anhörern des Bundesamtes verspottet und ausgelacht werden, wenn sie sagen, dass sie etwas glauben, was doch jeder vernünftige Mensch sofort als Blödsinn und Märchen abtut. Solch eine Geschichte ist schon viel näher dran an denen, die in ihrem eigenen Leben erfahren haben, wie Gott auch ihr Leben völlig verändert hat – und wie sie das ihre Heimat, ihre Familie, ja nicht selten auch ihre Gesundheit gekostet hat. Ja, wie die Jungfrau zum Kinde sind auch so manche von euch zum christlichen Glauben gekommen, sind da einfach mitgekommen mit dem Freund in die Hauskirche – und wenn ihr eure Geschichte dann in den Anhörungen erzählt, dann merkt man gleich, wie die, die euch zuhören, den Kopf schütteln und gleich feststellen, dass solch ein Quatsch doch gar nicht stimmen kann. Ja, Maria, sie kann euch gut verstehen, wie es so vielen von euch in diesen Tagen und Wochen geht.
Doch nun geht es in der Predigtlesung des heutigen Tages nicht bloß darum, dass wir wahrnehmen, was für Probleme die junge Maria damals bekommen haben muss, als der Erzengel Gabriel zu ihr kam. Im Zentrum dessen, was St. Lukas uns hier schildert, steht natürlich das Kind, das Maria fortan unter ihrem Herzen tragen soll.
Ja, was wir hier gerade gehört und gelesen haben, ist in der Tat die Schilderung eines der allergrößten Augenblicke der Weltgeschichte überhaupt. Er spielt sich nicht ab in der Hauptstadt Rom, nicht in Alexandria oder in Athen, sondern er spielt sich ab in einem Kuhdorf in der galiläischen Provinz: Da wählt Gott dieses junge Mädchen Maria, das nichts, aber auch gar nichts an Besonderheiten vorzuweisen hat, um in dieser jungen Frau selber Mensch zu werden, um sich ganz und gar in die menschliche Geschichte hineinzubegeben, um uns tatsächlich ganz nahezukommen. Das Kind, das Maria unter ihrem Herzen trägt, ist kein Geringerer als der Sohn Gottes, ja, Gott selbst. Gott wird Mensch – darum und um nicht weniger geht es im christlichen Glauben, nicht um einen Propheten, der den Menschen ein paar grundlegende christliche Werte vermittelt, wie sich das viele Menschen und leider auch viele Entscheider im Bundesamt vorstellen, nicht um ein bisschen religiöse Erbauung. Es geht darum, dass Gott ein Teil unserer Menschheitsgeschichte wird, leidensfähig, sterblich – und das alles nicht bloß ein wenig zum Schein, sondern so real, dass er Wohnung nimmt in der Gebärmutter einer Frau. Gott wird Mensch – ja, das ist und bleibt ein einmaliges Ereignis, nicht etwas, was sich immer wieder im Verlaufe der Menschheitsgeschichte oder auch unseres Lebens wiederholt. Einzigartig ist das, was St. Lukas hier schildert, und einzigartig ist darum auch die Art und Weise, in der Gott zu uns kommt und Mensch wird – eben so, dass er die Männer bei diesem unfasslichen Geschehen einfach mal draußen vorlässt.
„Wie soll das zugehen?“ – So fragt Maria verständlicherweise. Sie ist kein Dummerchen, sie zeigt, dass wir auch als Christen ein Recht dazu haben, über Fragen des Glaubens nachzudenken und selber Rückfragen zu stellen. Doch die Antwort des Engels ist keine einfache, logische Antwort. Er sagt nicht: Der Heilige Geist wird in dir Mensch. Er beschreibt auch nicht genau, was der Heilige Geist da eigentlich tut. Er macht nur deutlich: Was da geschieht, geschieht unter der Wirkung und in der Gegenwart des Heiligen Geistes. Und damit kommen wir auch schon an eine Grenze heran, hinter die wir nicht vordringen können. Nicht anders ist es ja auch mit uns und mit unserem Glauben. Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass Sie Christ geworden sind? – So werden unsere Asylbewerber in ihren Anhörungen gefragt, so sind auch wir, die wir nichts mit dem Bundesamt zu tun haben, vielleicht schon gefragt worden. Und dann kann man versuchen, alle möglichen guten Argumente dafür zu liefern, warum wir eigentlich Christen sind. Doch letztlich können wir immer wieder nur mit Martin Luthers Kleinem Katechismus sprechen: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen ...“. Ja, ich weiß, diese Auskunft befriedigt keinen Anhörer im Bundesamt – und doch ist sie die Wahrheit, genau wie es die Wahrheit war, die der Erzengel Gabriel damals bei Maria aussprach.
Gott kommt zu uns, so dicht in unsere Welt hinein, dass er Anteil hat an unserem Leid, an unserer Not – was für ein Trost für uns, wenn wir in unserem Leben ganz unten sind und nicht mehr weiterwissen. Ja, da ganz unten, da ist Gott selber bei uns angekommen, ist sogar noch viel tiefer heruntergekommen, als wir es je könnten und müssten, hat sich für uns ans Kreuz nageln lassen, um uns Menschen zu retten – Maria selber mit eingeschlossen.
Gott kommt zu uns – es ist das glatte Gegenteil aller menschlichen Religionen, in denen wir jeweils zu Gott kommen müssen, uns mit unseren guten Werken ihm nähern müssen. Eben darum stecken diese Worte unserer heutigen Predigtlesung voll von Evangelium, weil sie so deutlich beschreiben, dass unser Heil, dass unsere Rettung so überhaupt nicht von uns, von unserem Einsatz, von unserer Zustimmung abhängt. Nein, unser Heil hängt auch nicht von den Worten Marias ab, von ihrem Ja, das sie zu Gottes Handeln spricht. Gott selber wird Mensch in ihr – und Maria kann nur rückblickend darüber staunen, was Gott Großes an ihr getan hat. Und nicht anders ist es bei uns auch. Wir können immer wieder nur darüber staunen, was Gott schon zuvor an und in uns in seinem Wort gewirkt hat. Ja, genau darum geht es in unserem Leben als Christen immer wieder, dass wir staunend entdecken, was Gott doch schon längst für uns und an uns getan hat. Das Ja, das wir dann sprechen, ist oft genug ein Ja gegen allen Augenschein, gegen alle Erfahrung. Es ist ein Ja, das uns oft genug nicht leichtfällt. Auch da könnten so viele von euch jetzt ihre eigenen Geschichten eintragen und erzählen. Aber wenn wir es dann doch sprechen, dann merken wir schnell: Es hängt alles gar nicht an diesem Ja. Es hängt alles an dem allein, der hier im Leib der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes, Mensch wird. Wenn uns das klar wird, dann kann es wirklich Weihnachten bei uns werden, dann erkennen wir, worum es zu Weihnachten wirklich geht: nicht um Stimmung, nicht um Geschenke, nicht um friedliches Beisammensein. Es geht um Gott, der sich für uns ganz klein macht, so klein, dass er damals in einem Futtertrog liegen konnte und heute zu uns kommt in einem kleinen Stück Brot und in einem kleinen Schluck Wein und doch wahrhaftig mit seinem Leib und Blut im Heiligen Mahl. Das hängt auch wieder nicht an uns, an unserem Glauben, sondern am Wort Gottes allein. Möge uns Maria, die Mutter Gottes, so immer wieder neu den Weg zum Heiligen Mahl weisen, inmitten all unserer Nöte, Sorgen und Enttäuschungen, möge Maria uns mit ihrem Vorbild dazu ermutigen, uns nicht auf unsere Gefühle, sondern auf Gottes Wort allein zu verlassen: „Mir geschehe, wie du gesagt hast!“ Amen.