St. Lukas 10, 25-37 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Da liegt einer. Kaputt ist er, verletzt, nicht dazu in der Lage, sich selber zu helfen. Da liegt einer – und ich sehe ihn. Was soll ich bloß tun? Es gibt so viele Gründe, schnell wieder wegzuschauen, vorbeizugehen, anderen die Behandlung dieses Mannes zu überlassen. Es gibt so viele Gründe, sich nicht um diesen Menschen zu kümmern, ganz klar.
Schwestern und Brüder: Wir hören diese Geschichte vom sogenannten Barmherzigen Samariter als Gottesdienstteilnehmer an diesem Morgen mit ganz unterschiedlichen Ohren: Da gibt es nicht wenige unter uns, denen diese Geschichte in moralinsaurer Soße eingelegt in der Vergangenheit immer und immer wieder unter die Nase gerieben worden ist, nicht selten schnell in die Gegenwart versetzt mit dem türkischen Gemüsehändler, der einen Verletzten am Rand der Landstraße behandelt, während irgendwelche reichen herzlosen Deutschen mit ihrem Mercedes an ihm vorbeifahren – und mit dem erhobenen Zeigefinger am Schluss der Erzählung, dass wir uns für irgendwelche unterdrückten Menschen in anderen Ländern und Erdteilen einsetzen sollten. Dabei fällt dann die Erzählung Jesu selber in fürchterlicher Weise unter die Räuber und bleibt am Ende halbtot liegen.
Doch es gibt eben auch die anderen unter uns, die diese Geschichte noch nicht so oft gehört haben, die von ihr vielleicht doch noch sehr unmittelbar angesprochen werden und die gar nicht auf die Idee kommen, dass man diese Geschichte als Moralkeule missbrauchen könnte. Nein, es geht in der Geschichte nicht um Menschen, die Tausende von Kilometern von uns entfernt leben – so richtig es auch ist, dass wir uns auch über ihr Geschick Gedanken machen. Es geht um Menschen, mit deren Geschick wir ganz direkt und unmittelbar konfrontiert werden. Und es geht auch nicht um den türkischen Gemüsehändler. Es geht um uns selber, darum, wie wir reagieren, wenn wir damit konfrontiert werden, dass da einer vor unserer Nase liegt, kaputt, verletzt, nicht in der Lage, sich zu helfen.
Das ist kein Gedankenspiel, keine Geschichte, die sich bloß vor langer Zeit in scheinbar malerischer Umgebung auf der Straße durch die Wüste zwischen Jerusalem und Jericho abgespielt hat. Die Menschen liegen vor uns hier in Steglitz, und gleich mehrfach in der Woche liegen da wieder die nächsten: Menschen, die nach langer Flucht hier in Berlin angekommen sind und nun erst einmal überhaupt keinen Platz haben, wo sie schlafen könnten. Menschen, die nach tagelangem Warten beim Landesamt für Gesundheit und Soziales lediglich einen wertlosen Hostelgutschein erhalten haben, mit dem sie in Wirklichkeit kaum etwas anfangen können, und die völlig verzweifelt hier bei uns vor der Tür stehen, weil sie nicht noch eine Nacht auf der Straße schlafen wollen – gerade gestern Abend wieder drei, die schon seit neun Tagen mit einem solchen Hostelgutschein auf der Straße lagen. Da liegen sie – Menschen, die schon in ihrer Heimat im ganz wörtlichen Sinne zusammengeschlagen worden sind, die in Gefängnissen und Folterkellern Furchtbares erlebt haben. Menschen, die auf dem Fluchtweg hierher nach Deutschland viele tiefe Wunden in ihren Seelen erlitten haben. Menschen, die einfach kaputt sind, die einfach nicht mehr können.
Ja, ich kann sie gut verstehen, den Priester und den Levit hier in der Geschichte. Es war gefährlich für sie, dort in der Wüste anzuhalten. Vielleicht lauerten die Räuber ja hinter der Ecke, um auch sie noch zu überfallen, wenn sie sich zu lange dort bei dem verletzten Menschen aufhielten. Außerdem hatten sie wirklich keine Zeit – und abgesehen davon war der Mensch, der da lag, ja wohl selber schuld: Warum musste er denn ausgerechnet diesen Weg gehen? Und überhaupt war das ja wohl die Aufgabe der römischen Regierung, diesen Weg sicherer zu machen, politische Lösungen zu finden. Schließlich hatten sie beide, der Priester und der Levit, diesen Menschen nicht zusammengeschlagen! Und dass sie nun womöglich auch noch etwas von ihrem Geld abgeben sollten, um dem Verletzten zu helfen, dass sie sich ihre Hände schmutzig machen sollten, um ihm zu helfen – das war ja nun wirklich zu viel verlangt!
Ich kann sie gut verstehen, den Priester und den Levit hier in der Geschichte. Wir können doch nicht die ganze Welt retten, und wenn wir uns zu sehr um die kümmern, die auch hier in unserem Land unter die Räuber gefallen sind, die durchaus auch Schlipse haben und an Schreibtischen sitzen können, dann könnte es für uns doch auch gefährlich werden! Und wenn es dann nicht nur einer ist, der uns da vor die Füße gelegt wird, sondern gleich ganz viele – da müssen wir doch Schlussstriche ziehen, da bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, als wegzuschauen, Türen zu schließen, Mauern zu errichten!
Man kann das Ganze natürlich auch noch diplomatischer formulieren: Wir müssen Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen; das Boot ist voll, wir können doch nicht immer noch mehr nehmen, wir haben doch kein Geld – und wer weiß, ob die, denen wir da helfen, es überhaupt verdient haben! Alles verständlich, alles vernünftig – nur es ändert alles an einem nicht: Da liegt der eine, ja, da liegen die vielen immer noch direkt vor uns, verletzt, kaputt, nicht dazu in der Lage, sich selber zu helfen.
Der Samariter in der Geschichte reagiert völlig unvernünftig: Er gefährdet sich, er nimmt sich Zeit, die er eigentlich nicht hat, versaut sich seine Kleidung, gibt dann auch noch jede Menge Geld für diesen ihm unbekannten Menschen aus. Warum eigentlich?
„Er jammerte ihn“ – so formuliert es Jesus in dieser Geschichte. Wenn dieses Wort ansonsten in den Evangelien verwendet wird, dann ist mit diesem Wort immer wieder Jesus selber gemeint. Den jammert das Volk, den jammern wir. Jesus kann nicht wegschauen, wenn er unsere Not sieht; er macht sich für uns die Hände dreckig, ja mehr noch, lässt sie sich für uns durchbohren, schleppt sich mit uns ab, hat uns in der Heiligen Taufe in die Herberge der Kirche gebracht, wo wir gesunden können, wo wir wieder heil werden können mit all den Verwundungen und Verletzungen unseres Lebens, mit unserer Schuld, mit unserer Unfähigkeit, uns selber zu retten.
Jesus guckt nicht weg, er geht nicht an uns vorbei, und dafür hat er sogar sein Leben hingegeben. So und nicht anders ererben wir das ewige Leben – nicht mit unserem Tun, nicht mit unserem sozialen Engagement, nicht mit unserem Einsatz für Menschen in Not. Jesus rettet uns; nicht wir schaffen es mit unserem Tun.
Aber gerade damit schenkt er uns die Kraft, seiner Weisung zu folgen: Geh hin und tu desgleichen! Nein, nicht die Welt zu retten, sondern an dem nicht vorbeizugehen, der unter die Räuber gefallen ist, der kaputt, verletzt, hilflos ist. Nicht mehr und nicht weniger machen wir hier in unserer Gemeinde. Wir versuchen, nicht wegzuschauen, wenn Menschen uns vor die Füße gelegt werden, tun, was in diesem Augenblick getan werden kann, oft mehr schlecht als recht, bringen uns vielleicht dabei sogar hier und da in Gefahr, mag sein. Ja, wir machen uns mitunter auch die Hände dreckig, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, wenn wir beispielsweise hier in unserer Gemeinde Kirchenasyle gewähren. Das ist nicht schön, das ist nicht romantisch – aber wenn die Leute daliegen, wenn ihr Leben in Gefahr ist: Was sollen wir denn machen?
Nein, wir machen das nicht, weil wir mit dem, was wir tun, etwas bei den Menschen erreichen wollen. Der Samariter hat damals den Mann in die Herberge gebracht, hat das Geld gezahlt und war weg. Wir helfen Menschen nicht, um sie zu Christen zu machen – und der barmherzige Samariter sollte uns auch immer daran erinnern, dass Jesus uns das Beispiel einer Hilfe über Religionsgrenzen hinweg als Vorbild vor Augen stellt. Wir wollen nicht die Not von Menschen ausnutzen, um etwas für unsere Zwecke zu erreichen. Dass sie da liegen und unsere Hilfe brauchen, sollte uns reichen. Denn das Wichtigste brauchen wir eben nicht mehr zu tun: Wir müssen uns nicht das ewige Leben ererben und erwerben. Das hat Christus schon ganz und gar getan. So gut geht es uns als Christen, die von Christus hierher in seine Herberge, in sein Haus gebracht worden sind, so gut, dass Christus uns damit zugleich alle Ausreden nimmt. Darum schau nicht weg, geh hin, jawohl, geh hin und tu desgleichen! Amen.