St. Lukas 10,25-37 | Vorabend zu St. Matthäus | Pfr. Dr. Martens

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“ – So lautete vor einigen Jahren ein sehr eingängiger Werbeslogan des Möbelhauses IKEA. Gemeint war: Erst wenn du anfängst, dir deine Wohnung mit IKEA-Möbeln vollzustellen, wenn du sie damit kreativ gestaltest, fängst du richtig an zu leben, entwickelst du überhaupt erst deinen richtigen Lebensstil. Böse Zungen formulierten den Werbeslogan allerdings bald schon um: „Schraubst du noch oder wohnst du schon?“ Wer einmal versucht hat, IKEA-Möbel zusammenzubauen, weiß, wie treffend dieser umformulierte Werbeslogan ist.

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“ – So kann man auch das Heilige Evangelium des heutigen Tages des Apostels und Evangelisten St. Matthäus zusammenfassen. Da hatte sich der Zöllner Matthäus in seinem Zöllnerhäuschen in Kapernaum ganz gut eingerichtet. Gewiss, Zöllner zu sein war nicht unbedingt der Traumjob; er hatte eine Menge Geld investieren müssen, um die Erlaubnis von den Römern zu bekommen, anderen Leuten am Eingang zur Stadt Geld abknöpfen zu dürfen, wenn sie ihre Waren dort in der Stadt verkaufen wollten. Aber allmählich war das Geschäft ganz gut angelaufen, und er merkte, dass es sich lohnte, dass er diesen Laden übernommen hatte. Gewiss, sehr viel Freunde machte er sich mit dieser Arbeit nicht gerade. Viele Leute machten um ihn einen großen Bogen. Aber das Geld, das er nun verdiente, wog das alles doch ganz gut auf – und ein paar Zöllnerkumpel hatte er schließlich auch, denen es genauso ging wie ihm.

Und dann kommt Jesus und stellt ihn genau vor diese Entscheidung: „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Bleibst du da, wo du bist, oder lässt du dich darauf ein, dass alles in deinem Leben ganz anders wird – ja mehr noch: Lässt du dich darauf ein, überhaupt wirklich zu leben? Nun steht Jesus da vor dem Matthäus allerdings nicht mit einem IKEA-Katalog in der Hand, um ihm bei der Einrichtung seines Zöllnerhäuschens behilflich zu sein. Sondern er bringt die Dinge noch knapper auf den Punkt als in dem IKEA-Werbeslogan: „Folge mir nach!“ Doch der Matthäus merkt, dass es in diesem Ruf Jesu genau darum geht – um Leben, um wirkliches Leben, das mehr ist als einfach nur ein Tapetenwechsel und das man nicht dadurch gewinnt, dass man das eine oder andere Billy-Regal in der Ecke aufstellt.  Ja, dieses wirkliche Leben gewinnt man einzig und allein in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, dadurch, dass man mit ihm lebt, auf sein Wort hört, seinem Ruf folgt. Eindrücklich schildert St. Matthäus hier, wie ihn dieser Ruf Jesu damals erreichte und traf. Nichts steht davon, dass Matthäus erst noch überlegt hätte, dass er sich schließlich zu einer Entscheidung durchgerungen hätte, Jesus zu folgen. Sondern der Ruf Jesu, er hatte für Matthäus eine solche Kraft, dass er gar nicht anders konnte, als das auszuführen, wozu Jesus ihn gerufen hatte: Und er stand auf und folgte ihm. Leben statt Wohnen – ganz klar: Wen das Wort Jesu erreicht und getroffen hat, der kann gar nicht anders.

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“ – Wie viele gibt es in unserer Gemeinde, denen es in ihrem Leben ähnlich ergangen ist wie dem Matthäus damals! Auch sie haben den Ruf Jesu in ihrem Leben vernommen, ja damals noch im Iran und zum Teil sogar auch in Afghanistan. Und dann war es klar für sie: Sie konnten nicht mehr dort wohnen bleiben, wo sie wohnten, mussten die vertraute Wohnung aufgeben – und das alles einzig und allein, weil sie nicht mehr bloß wohnen, sondern leben wollten, wirklich leben wollten in der Gemeinschaft mit Jesus Christus, ihrem Herrn.

„Wohnst du noch oder lebst du schon?“ – Viele bewegende Geschichten zu diesem Thema könnte ich aus unserer Gemeinde berichten. Doch noch aktueller ist für so viele in unserer Gemeinde nun schon wieder eine andere Frage: „Lebst du noch oder wohnst du schon wieder?“ Ja, wie groß ist die Gefahr auch gerade für diejenigen, die so klar den Weg hinter Jesus Christus in ihrem Leben gegangen waren, hier in Deutschland allmählich doch wieder ins bloße Wohnen zurückzufallen, ihr Herz gefangen nehmen zu lassen von Fragen des Aufenthalts, der Wohnung, der Entwicklung eines ganz normalen westlichen Lebensstils! Ja, so groß ist die Gefahr, dass das wahre Leben, das Leben in der Gemeinschaft mit Jesus Christus dabei auf der Strecke bleibt, dass man sich in seinem Häuschen, in seiner Wohnung einrichtet und gar nicht auf die Idee kommt, dass man sich wieder in dieselbe Situation zurückbegibt, aus der man sich einst von Jesus doch hatte herausrufen lassen. „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ – Das ist nicht bloß eine einmalige Frage im Leben, das ist eine Frage, die er, Christus, immer wieder neu stellt, immer wieder neu richtet an einen jeden von uns.

Und diese Frage ergänzt er durch eine zweite Frage: „Stehst du noch oder liegst du schon?“ Im Anschluss an die Berufung des Matthäus feiert Jesus mit ihm und vielen anderen, die in den Augen der Frommen als Sünder galten, ein großes Fest. Gemeinsam liegen sie mit Jesus zu Tisch. Doch draußen an der Tür stehen die Frommen, die Pharisäer. Sie bleiben auf Abstand zu diesem Fest, stehen und legen sich nicht zu den anderen. Sie glauben, gerade so in Gottes besonderer Nähe bleiben zu können. Doch Jesus macht deutlich: Nicht die, die stehen, sondern die, die liegen, sind in Gottes besonderer Nähe. Und das entfaltet er gleich in doppelter Weise: Von den Kranken spricht er, die des Arztes bedürfen, im Unterschied zu den Gesunden. Jesus ist Arzt, er kümmert sich um die Kranken. Leben in der Gemeinschaft mit Jesus bekommen wir gerade da, wo wir uns nicht als die Starken und Gesunden präsentieren, sondern klar zu erkennen geben, dass wir diesen Arzt brauchen, weil wir selber seine Hilfe, seine Heilung brauchen. Leben in der Gemeinschaft mit Jesus bedeutet gerade nicht, immer stark, immer gut, immer gesund zu sein. Sondern Leben in der Gemeinschaft mit Jesus bedeutet: immer wieder zur Krankenstation zu kommen, wo wir von Jesus selber behandelt werden. Ja, die Kirche ist und bleibt ein Krankenhaus, in dem sich Menschen einfinden, die krank und kaputt sind – ja, die vor allem Sünder sind, Menschen, die sich selber nicht heilen und retten können und einzig und allein angewiesen sind auf das rettende Wort ihres Heilandes Jesus Christus. Stehst du noch, oder liegst du schon? Ja, wo bist du? Auf der Seite derer, die auf die im Krankenbett herabblicken, oder mitten unter denen, die wissen, dass sie als Kranke, als Sünder, selber auf Heilung angewiesen sind?

Und wenn du dich denn mit den anderen zusammen hinlegst, wirst du feststellen, dass du damit zugleich an Jesu Seite liegst bei seinem großen Fest. Damals zur Zeit Jesu lag man zu Tisch, saß man nicht, veranstaltete man erst recht keine Stehempfänge. Ja, wenn du aufhörst zu stehen und auf andere herabzublicken, wenn du dich selber hinlegst, dann nimmt Jesus dich mit hinein in sein Fest, lässt dich teilhaben an seinem Festmahl, das zugleich immer auch Arznei der Kranken bleibt, Arznei des ewigen Lebens. Stehst du noch, oder liegst du schon? Es hat seinen tiefen Sinn, dass wir das Heilige Mahl, wenn denn schon nicht im Liegen, so doch wenigstens im Knien empfangen, als Menschen, die nicht auf andere herabblicken, sondern darum wissen, dass sie ganz auf die Fürsorge ihres Herrn angewiesen sind. Und darum wird das Heilige Mahl bei uns auch wie eine Medizin ausgeteilt: Wir tun nichts, öffnen nur den Mund, und Christus selber speist uns mit seinem Leib und Blut, dem Heilmittel des ewigen Lebens. Stehst du noch, oder liegst du schon? Lass dich hineinnehmen in die Gemeinschaft der Kranken und Schwachen hier am Altar, bleibe nicht sitzen, sondern lass dir von Christus das ewige Leben schenken! Genau das ist es, was dir der Apostel und Evangelist St. Matthäus zuruft, was er dir predigt mit seinem Wort und mit seinem eigenen Vorbild – heute am Vorabend zu seinem Gedenktag. Es geht in der Tat um dein Leben. Amen.

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