St. Lukas 10,25-37 | Vorabend zum 13. Sonntag Nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Da lag er mit einem Mal vor ihnen – mitten auf dem Weg herab von Jerusalem nach Jericho. Ein äußerst unangenehmer Anblick – erst recht nach dem schönen Gottesdienst im Tempel. Der brachte einem die ganze Andacht durcheinander. Und machte einem dazu auch noch irgendwo ein schlechtes Gewissen. Der konnte einem ja auch wirklich leidtun – war wirklich nicht schön, von Räubern zusammengeschlagen zu werden, und dann auch noch in dieser Gegend, in der man nicht lange überlebte, wenn man da ohne Hilfe mitten in der Sonne lag. Aber das musste der Mann nun auch einsehen: Für die Betreuung von solchen Menschen waren sie als Priester oder Levit wirklich nicht zuständig, da fehlte ihnen auch alle Fachkenntnis. Und letztlich war dieser Mensch ja auch selber schuld – das wusste man doch, dass man auf diesem Wege möglichst keine Wertsachen mitnehmen sollte, weil man sonst nur allzu leicht überfallen wurde. Selber schuld, wenn er sich daran nicht gehalten hatte! Ja, es wurde höchste Zeit, dass man diesen Weg mal sicherer machte, dass man die Ursachen für diese dauernden Überfälle bekämpfte! Aber bis dahin konnte man natürlich nicht warten – da blieb einem nichts anderes übrig, als entschlossen wegzuschauen, den Schritt ein wenig zu beschleunigen und dieses Elend schnell hinter sich zu lassen, bevor man noch persönlich in diese ganze Geschichte verwickelt wurde!
Da stehen sie mit einem Mal vor uns – ja, stehen, können sie meistens noch. Aber unter die Räuber gefallen sind sie oft in ganz ähnlicher Weise wie der Mann, von dem im Heiligen Evangelium dieses Sonntags berichtet wird. Jeder hat seine persönliche Räubergeschichte zu erzählen: von den Taliban, die ihn mit 14 Jahren zwingen wollten, sich ihnen anzuschließen, und vor denen er nur noch aus dem Land fliehen konnte, von den iranischen Behörden, die ihn, den afghanischen Jugendlichen, erpressen wollten, beim Krieg in Syrien mitzumachen, von dem iranischen Geheimdienst, der sie, die Christin, beim Besuch der Hausgemeinde erwischt hatte und sie nun vor Gericht stellen wollte, von den Behörden in Norwegen und Schweden, die wieder einmal einen Christen aus ihrem Land in den Iran oder nach Afghanistan zurückschicken wollten, weil er dort doch wieder als Muslim weiterleben könne. Ja, fast täglich liegen sie bei uns vor der Tür – die unter die Räuber Gefallenen, wobei es für diese Menschen keinen Unterschied macht, ob die Räuber nun Pashtu, Farsi, Norwegisch oder Deutsch sprechen. Um ihr Leben geht es allemal – und um uns, wie wir darauf denn nun reagieren sollen, wenn sie da mit einem Mal vor uns liegen. Ja, wie sollen wir darauf reagieren? Sollen wir darauf verweisen, dass das nun wirklich nicht die Kernaufgabe der Kirche ist, sich um Flüchtlinge zu kümmern, die von der Abschiebung bedroht sind? Sollten wir darauf verweisen, dass wir mit dem Feiern von Gottesdiensten, mit Taufunterrichten und Bibelstunden arbeitsmäßig nun wirklich schon ganz ausgelastet sind? Sollten wir darauf verweisen, dass das keiner von uns gelernt hat, sich mit Fragen des Asylrechts zu befassen? Oder sollten wir eher darauf verweisen, dass es doch Aufgabe des Staates ist, sich um die Fluchtursachen zu kümmern und diese zu beseitigen? Und solange er das nicht getan habe, seien wir ja wohl aus der Verantwortung heraus? Das Problem ist: So schön all diese Argumente auch sind – die Betreffenden liegen immer noch bei uns vor der Tür. Ja, ich weiß, es gibt genügend andere, die schon Nerven genug hatten, an ihnen vorbeizugehen und dabei auch noch ganz fromm zu gucken. Und wenn man das nicht schafft? Bleibt einem dann doch nichts anderes übrig, als sich so richtig dreckig zu machen, wenn man sich um diese Menschen, die unter die Räuber gefallen sind, kümmert, als sich vielleicht auch noch beschimpfen zu lassen, weil man sich doch um Menschen kümmert, die doch angeblich Feinde unseres Landes und unserer Bevölkerung sind, die unser Land doch angeblich nur bedrohen? Juden und Samariter – das Thema hat seit 2000 Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt!
Ja, warum machen wir das alles, warum schauen wir nicht weg, warum schleppen wir uns mit diesen Menschen ab, oft bis über die Grenzen unserer Kräfte hinaus, warum geben wir für die Betreuung dieser Menschen dann auch nicht selten noch unser letztes Geld aus, nicht anders als der Samariter in der Geschichte, die Jesus uns hier erzählt?
Ja, das mag etwas mit ganz simpler Mitmenschlichkeit zu tun haben, wenn man in die Augen dieser Menschen blickt, wenn man sich dann auch noch die Geschichten anhört, die diese Menschen einem aus ihrem Leben erzählen. Da braucht man dann in der Tat schon ein Herz aus Stein, um sich dann der Not dieser Menschen zu verschließen. Aber wir machen das alles eben auch noch aus einem anderen, viel wichtigeren Grund: Wir wissen, dass wir alle miteinander schon zuvor aufgehoben worden sind, hierher in die Herberge der Kirche gebracht und getragen worden sind von dem einen guten, barmherzigen Samariter, der uns allen das Leben gerettet hat: von ihm, unserem Herrn Jesus Christus. So viele gute Gründe hätte er gehabt, an uns vorüberzugehen, uns darauf zu verweisen, dass wir selber schuld sind an dem Elend, das wir mit unserer Schuld, mit unserer Abwendung von Gott über uns gebracht haben. Aber er, Jesus Christus, konnte einfach nicht wegschauen, hat sich zu uns herniedergebeugt, hat sich für uns nicht nur dreckig gemacht, hat für uns sein eigenes Blut vergossen – nur damit wir nicht in unserer Sünde, in unserer Abwendung von Gott umkommen. Nichts, aber auch gar nichts konnten wir zu unserer Rettung beitragen. Er, Christus allein, hat uns gerettet und uns in das Krankenhaus der Kirche gebracht, um uns hier heil werden zu lassen, ja, mehr noch: um uns hier ein ganz neues Leben zu schenken. Und wer darum weiß, dass er ohne alles eigene Verdienst von Christus gerettet ist, der wird mit anderen Augen auf die schauen, die vor einem liegen, der kann nicht mehr wegschauen, dem bleiben alle blöden Ausreden im Halse stecken. Darum machen wir unsere Türen nicht zu, darum schleppen wir uns ab mit den Menschen, die vor unserer Tür liegen – weil wir wissen, was Christus für uns getan hat, ja, was Christus für alle Menschen getan hat, ganz gleich, ob sie aus dem Iran, aus Deutschland oder Afghanistan stammen. Feinde waren wir für ihn allemal – und er hat in seiner Feindesliebe keinen Unterschied gemacht, hat sein Leben für uns alle in den Tod gegeben. Ja, Gott geb’s, dass der Blick auf den gekreuzigten Christus uns immer wieder davor bewahren möge, Menschen zu sehen, die unter die Räuber gefallen sind, ja, auch unter Räuber, die von Schreibtischen aus agieren, und an diesen Menschen vorüberzugehen. Ja, Gott geb’s, dass sich auch in unserem Leben, ja auch im Leben unserer Gemeinde spiegelt, was Christus einst von dem barmherzigen Samariter berichtete: „und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm.“ Und er ging zu ihm. Amen.