St. Lukas 1,26-38 | Vierter Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens

Zu den Begründungen, die ich immer wieder in den Abschiebebescheiden des Bundesamtes für unsere Gemeindeglieder lese, gehört oft der Hinweis darauf, dass sich unser Gemeindeglied vor seiner Hinwendung zum christlichen Glauben nicht genügend mit anderen Weltreligionen beschäftigt habe. Abgesehen von der abenteuerlichen Weltfremdheit dieser Argumentation, die es sich allen Ernstes so vorstellt, dass man als religiöser Mensch eine Reihe von Religionen durchprobiert und dann das Angebot nimmt, das einem am meisten zusagt, hinkt diese Argumentation auch noch an einer ganz anderen Stelle: Sie setzt stillschweigend voraus, dass der christliche Glaube auch eine „Religion“ ist wie alle anderen auch. Religion, das bedeutet: Menschen machen sich irgendwelche Gedanken über Gott, überlegen sich, wie wir als Menschen wohl zu Gott kommen können, und dann fassen sie ihre Gedanken und Erfahrungen in einer Religion zusammen. Menschen bewegen sich auf Gott zu – und das kann natürlich jeder auf seine Weise tun; wie sollte man denn einem anderen Menschen vorschreiben wollen, wie er sich auf Gott hinzubewegen hat, was er dafür zu tun hat? Mit den Worten des Weihnachtsgrußes unserer Staatsministerin im Bundeskanzleramt: „Egal woran Sie glauben – wir wünschen Ihnen eine besinnliche Zeit“. So geht Religion.

Doch der christliche Glaube ist eben gerade keine Religion, so macht es uns St. Lukas in der Predigtlesung dieses Sonntags deutlich; er ist genau das Gegenteil von Religion. Auch Weihnachten hat nichts mit Religion zu tun, sondern ist Anti-Religion pur. Und genau das wollen wir uns nun hier in dieser Geschichte noch einmal etwas genauer anschauen.

Die Geschichte beginnt mit einem völlig unerwarteten Besuch. Maria, das junge Mädchen, ist allein zu Hause, als mit einem Mal ein Bote Gottes bei ihr im Raum steht. Davon, dass dieser Engel durchs Fenster geflogen wäre oder überhaupt Flügel gehabt haben könnte, wird nichts gesagt. Wichtig ist nicht, wie der Engel aussieht oder sich fortbewegt, wichtig ist einzig und allein, was er Maria zu sagen hat. Und der Engel begrüßt Maria tatsächlich mit den Worten des „Ave Maria“: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! So geht die Geschichte los. Sie beginnt nicht damit, dass Maria dort irgendwo gesessen hätte und so lange meditiert hätte, bis ihr schließlich irgendwelche wunderbaren religiösen Einsichten gekommen wären. Sie beginnt nicht damit, dass nun erst einmal irgendwelche besonderen Vorzüge geschildert würden, die hätten begründen können, warum der Engel nun ausgerechnet zu Maria gekommen ist. Später hat man in der Geschichte der Kirche sich Gründe dafür ausgedacht, warum der Engel nun gerade zu Maria gekommen ist. Doch St. Lukas selber sagt davon nichts. Er schildert nur, was der Engel sagt: Begnadet ist Maria, beschenkt von Gott ohne irgendeine Voraussetzung oder Gegenleistung. Die Geschichte beginnt nicht mit dem Bemühen eines Menschen, sich Gott zu nähern. Sie beginnt damit, dass Gott auf einen Menschen zukommt und ihn erwählt – ohne jede Voraussetzung, ohne jeden erkennbaren Grund. Das ist das Gegenteil aller menschlichen Religion.

Und dann überbringt Gabriel Maria die entscheidende Botschaft: Sie wird schwanger werden und einen Sohn gebären, der Gottes Sohn, Sohn des Höchsten, genannt werden wird. Gott sendet also nicht bloß einfach einen Menschen in die Welt, der im Auftrag Gottes den Menschen Botschaften übermittelt, sie dazu anleitet, was sie tun sollen. Solche Propheten gibt es tatsächlich in verschiedenen Religionen, und dann kann man sich überlegen, ob es bei ihren Botschaften Überschneidungen gibt, ob man die vielleicht gar zu einer Einheitsreligion zusammenfügen kann. Doch der Engel kündigt hier etwas völlig anderes an als bloß die Geburt eines Propheten oder Religionsstifters. Er kündigt an, dass in Maria Gott selber Mensch wird. Das ist unendlich mehr als einfach nur ein schöner religiöser Gedanke, das ist auch nicht ein Geschehen, das sich im Grunde genommen ja im Leben eines jeden Menschen vollzieht, dass er irgendwo die Nähe Gottes spürt und dann irgendwie den Eindruck hat, dass Gott in ihm lebt. Sondern Gabriel spricht hier von einem einmaligen Ereignis in der Menschheitsgeschichte, von einem Geschehen, das sich in dieser Form nie mehr in der Menschheitsgeschichte wiederholen wird.

Gott wird Mensch – das ist das Ende aller Religion, das Ende aller menschlichen Bemühungen, sich Gott zu nähern. Wenn Gott so dicht an uns herankommt, dass er selber einer von uns wird, dann müssen wir uns nicht mehr auf Gott hin bewegen, weil er schon längst da ist, bevor wir uns auf den Weg zu ihm hätten machen können.

Und auf seinem Weg zu uns Menschen macht Gott nun etwas Unerhörtes: Er verzichtet bei seinem Kommen in die Welt doch allen Ernstes auf die Mitwirkung der Männer. Und das nehmen ihm vor allem männliche Theologen bis heute übel: So ein Quatsch – das kann doch gar nicht sein, dass eine Frau ohne einen Mann schwanger wird. Hat das jemals schon einer von uns erfahren, dass eine Frau ohne Mitwirkung eines Mannes schwanger wird? Und wenn wir das nicht erfahren haben, dann kann das doch gar nicht sein, dann ist es doch klar, dass das nur ein Märchen sein kann, eine schöne Geschichte, an die Leute damals noch geglaubt hatten, die nicht so aufgeklärt waren wie wir heute!

Doch Maria war damals offenkundig schon sehr wohl aufgeklärt. Sie wusste schon, dass man nicht einfach aus heiterem Himmel schwanger werden kann, dass man dazu schon mit einem Mann zusammen sein muss. Ja, das Wort, das sie hier dem Engel gegenüber verwendet, ist schon ein sehr technisches Wort, das deutlich macht, dass ihr genau bekannt ist, wie üblicherweise in dieser Welt Kinder gezeugt werden. Und darum hält Maria selber es ja auch für ausgeschlossen, dass sie schwanger sein kann. Denn sie war weder mit Josef noch mit irgendeinem anderen Mann so dicht zusammen, dass da auch nur irgendetwas hätte passieren können. Doch der Engel antwortet ihr, macht ihr deutlich, dass an ihr, Maria, etwas geschieht, was einmalig in der Menschheitsgeschichte ist: Durch das Wirken des Heiligen Geistes wird sie schwanger werden, wird eben darum das Kind, das sie zur Welt bringen wird, auch mit Recht Gottes Sohn genannt werden.

Geht nicht – sagst du? Geht doch, sagt der Engel: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und damit fordert er nun auch unser religiöses Denken heraus: Glauben wir, dass letztlich alles, was in der Heiligen Schrift steht, doch nur Ausdruck frommer religiöser Gedanken von Menschen ist, die in bildlicher Weise Dinge beschreiben, die ihnen wichtig erschienen? Oder glauben wir, dass Gott tatsächlich Gott ist, dass er nicht nur ganz real in das Leben dieser Welt eingreifen kann, sondern dass er es tatsächlich getan hat? Die Frage der Jungfrauengeburt Jesu ist nicht einfach bloß eine Nebensache, die man so oder so sehen kann, bei der es letztlich nicht darauf ankommt, ob man das denn nun wirklich biologisch oder bloß irgendwie bildlich versteht. Sondern die Frage der Jungfrauengeburt Jesu ist letztlich eine Art von Lackmustest unseres Glaubens: Gründet sich unser Glaube auf kluge und fromme Gedanken, oder gründet er sich auf ein reales Eingreifen Gottes in dieser Welt? Und wenn ich im Glauben ernst nehme, dass Gott Gott ist – sollte ich ihm dann allen Ernstes das besondere Vergnügen verwehren, die selbstbewussten Männer, die immer glauben, dass nichts ohne sie läuft, einfach mal dumm in der Ecke stehen zu lassen? Ja, die Botschaft von der Geburt Jesu von einer Jungfrau kratzt an unserem Ego, das mögen wir nicht, dass Gott ganz anders handelt, als wir es uns vorstellen können. Aber als derselbe König, dessen Geburt Gabriel hier ankündigt, schließlich seinen Königsthron auf Golgatha bestieg – war das etwa logischer und nachvollziehbarer als die Art seines Kommens in diese Welt? Jesus kommt nicht als Religionsstifter in diese Welt, sondern er kommt und macht die Weisheit der Weisen zunichte, so zeigt es uns der Apostel Paulus so eindrücklich in seinem ersten Brief an die Korinther. Er kommt nicht als Prophet, sondern als Mensch gewordener Gott. Darum geht es in unserem christlichen Glauben.

Gott schafft Wirklichkeit, Gott schafft unser Heil, bevor wir auch nur irgendwie mitwirken könnten. Wir können immer wieder nur über das staunen, was er schon längst zuvor getan hat. Darum ist der christliche Glaube keine Religion. Es geht in ihm nicht um das, was wir frommen Menschen tun. Es geht einzig und allein um das, was Gott tut. Genau das erkennt auch Maria. Nein, Gott macht seinen Heilsplan nicht von ihrer Mitwirkung, von ihrer Entscheidung abhängig. Sondern wenn Maria sagt: Mir geschehe, wie du gesagt hast, dann nimmt sie im Glauben an, was schon ohne sie Wirklichkeit geworden ist. Gott macht alles für uns und an uns – und wir stellen staunend für uns fest: Ja, so ist es gut, so soll es sein. Es ist wie bei der Feier des Heiligen Altarsakraments: Es hängt nicht von unserem Glauben, nicht von unserer Zustimmung ab, ob wir hier im Brot und Wein den Leib und das Blut Christi empfangen. Es ist das Wort Christi allein, das dies bewirkt. Aber natürlich zielt das, was Christus uns da schenkt, auf unseren Glauben ab, zielt darauf ab, dass wir staunend annehmen, was er für uns erwirkt hat. Nein, das ist gerade keine Religion.

Und erst recht ist das keine Religion, die man sich von sich aus aussuchen würde. Maria sagt hier nicht Ja zu einem großen Karrieresprung, sondern sie sagt Ja zu einem Weg, von dem sie genau weiß, dass er für sie Verachtung und Verdächtigungen mit sich bringen wird, sagt Ja zu einem Weg, den sie letztlich niemandem anders erklären kann, sagt Ja zu einem Weg, der sie schließlich unter das Kreuz ihres Sohnes führt. Nein, solch einen Weg sucht man sich nicht aus; auf solch einen Weg wird man gerufen. Und genauso habt auch ihr euch Christus oder den christlichen Glauben nicht ausgesucht. Sondern Christus hat euch gefunden, so wie der Engel damals Maria gefunden hat. Christus hat durch seinen Heiligen Geist an euch gewirkt – und dann konntet ihr gar nicht mehr anders als Ja zu sagen, Ja zu einem schweren Weg und doch zugleich zu dem einzig wahren Weg, weil ihr auf diesem Weg Christus, euren Herrn und Gott gefunden habt. Ja, das ist Anti-Religion pur – und das ist gerade so eure Rettung! Amen.

Zurück