St. Lukas 15,1-10 | 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Ich hatte ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Da hatte ich ihn zu Hause noch einmal besucht. Seitdem war er nie mehr gekommen, hatte auch auf kein Schreiben von mir reagiert. Und nun stand er mit einem Mal vor mir nach dem Gottesdienst – mit der Ladung für seine Gerichtsverhandlung in der übernächsten Woche in der Hand. Er erklärte mir, dass er jetzt Hilfe von mir brauche. Ich fragte ihn, wie ich ihm denn im Gericht helfen sollte, wenn er mehr als drei Jahre kein einziges Mal zum Gottesdienst gekommen sei. Er antwortete mir, er bräuchte von mir eine Bescheinigung, dass er die letzten drei Jahre jede Woche ein bis zweimal am Gottesdienst teilgenommen habe. Mir blieb fast die Luft weg. Ich versuchte, mich zu beherrschen und ihm zu erklären, dass ich ganz sicher nicht für ihn vor Gericht lügen würde. Er antwortete mir: „Das habe ich gleich gewusst, dass Sie ein schlechter Pastor sind und mir nicht helfen wollen.“ Daraufhin drehte er sich um und verschwand. Ich ahne schon, was für Lügenmärchen er im Gericht in der übernächsten Woche über mich erzählen wird.

Und dann lese ich am Tag danach das Evangelium dieses 3. Sonntags nach Trinitatis, über das ich nun also heute zu predigen habe. Ist es nun meine Aufgabe, hinter diesem Menschen herzulaufen und ihn in die Gemeinde zurückzuholen – diesen Menschen, der mit seinem Verhalten ja nicht nur mir gegenüber nicht gerade sehr freundlich war, sondern der mit seinem Verhalten nun und in der kommenden Zeit möglicherweise unserer Gemeinde insgesamt Schaden zufügen wird?

Schwestern und Brüder, ich habe diese ganz aktuelle Erfahrung von dieser Woche als Einstieg in die Predigt gewählt, damit wir noch einmal besser die Situation verstehen können, in die hinein unser Herr Jesus Christus damals die beiden Gleichnisse von dem verlorenen Schaf und dem verlorenen Groschen erzählt hat. Wir sind ja schnell dabei, die Schubladen in dieser Geschichte aufzumachen: Da sind die bösen Pharisäer, und da ist das arme Schaf, von dem die bösen Pharisäer nicht wollen, dass der gute Hirte es wieder auf seinen Schultern nach Hause trägt. Klar sind wir da auf der Seite der Guten und nicht auf der Seite der Bösen.

Doch so einfach ist das mit der Geschichte nicht: Da sehen die Pharisäer, wie Jesus sich ausgerechnet mit Zöllnern umgibt und mit ihnen zusammen an einem Tisch isst – mit Zöllnern, die mit ihrem Verhalten die Solidarität des Volkes Gottes zerstörten, die ihre Landsleute erpressten und ruinierten. Dass da die Pharisäer ähnliche Gefühle in ihrem Herzen entwickelten, wie ich gegenüber jenem Knaben, der von mir erwartete, dass ich für ihn das Gericht anlüge – wer wollte es ihnen verdenken?

Soll ich nun also doch hinter jenem jungen Mann herlaufen, ihm womöglich auch noch seine Wünsche erfüllen?

Ach, wie gut, dass Jesus im heiligen Evangelium dieses Sonntags keine moralischen Appelle an uns richtet, keine Forderungen aufstellt, wie wir uns verhalten sollen. Sondern er erzählt in den beiden Gleichnissen von sich selber, von seinem Verhalten, nicht von unserem Verhalten. Von dem Hirten erzählt er, der beim abendlichen Durchzählen merkt, dass von seinen 100 Schafen eines fehlt, und der daraufhin die 99 anderen Schafe in der Wüste lässt und sich auf die Suche nach dem einen verlorenen begibt. Für die anderen 99 war übrigens in der Zwischenzeit gut gesorgt; denn damals war es üblich, dass mehrere Hirten sich in der Wüste mit ihren Herden zusammentaten, sodass ein Hirte dann auch mal solch eine Suchaktion ohne Probleme starten konnte. Von dem Hirten erzählt Jesus, der schließlich das verlorene Schaf findet und sich dann auch noch mit ihm abschleppen muss, weil Schafe, die sich irgendwo im Gebüsch verheddert hatten oder sonst in eine aussichtslose Lage geraten waren, oft nur noch in sich zusammensinken und gar nicht mehr dazu in der Lage sind, noch zu laufen. Schwerstarbeit leistet der Hirte – und plant auf dem Rückweg doch zugleich schon ein großes Fest, weil er das eine verlorene Schaf wiedergefunden hat. Freude kann man nicht für sich behalten, die muss man teilen. Genauso ergeht es auch der Frau, die den einen Silbergroschen bei sich in der Wohnung verloren hat und sich in ihrer Freude gar nicht mehr bremsen kann, als sie diesen einen Silbergroschen schließlich wiederfindet. Auch sie teilt ihre Freude mit anderen, feiert mit ihnen, weil sie das Verlorene wiedergefunden hat.

Gleich in mehrfacher Hinsicht leitet uns Jesus hier also zu einem Perspektivwechsel an:

Zum einen macht er deutlich: Wenn jemand in unserer Gemeinschaft fehlt, dann ist das nicht bloß ein Problem für diesen einzelnen, der hier bei uns etwas verpasst. Sondern es ist auch ein Problem für die verbliebene Gemeinschaft, wenn sie nicht vollständig ist. Wenn Menschen, die eigentlich zu uns gehören, fehlen, dann soll und kann uns das nicht egal sein, dann sollen wir ein Gespür dafür entwickeln, dass da eine Lücke ist, und nicht bloß das Gefühl haben: Selber schuld! – Oder vielleicht gar: ein Glück, dass wir den oder die los sind!

Zum anderen aber stellt Jesus auch an uns die Frage: Wie gehen wir damit um, wenn Gott selber Menschen in unsere Gemeinde führt oder zurückbringt, von denen wir genau wissen, was sie früher getan haben? Wie gehen wir damit um, wenn Menschen in unsere Gemeinde zurückwollen, die wir doch eigentlich selber gar nicht mehr dabeihaben wollten und wollen? Lassen wir uns da noch anstecken von der Freude Gottes, dass er einen Menschen gefunden und dorthin zurückgebracht hat, wo er hingehört? Lassen wir uns von dieser Freude Gottes jedes Mal neu anstecken, wenn wir miteinander das Heilige Mahl empfangen – das Mahl, zu dem Jesus die Kranken einlädt, nicht die Gesunden, die Sünder und nicht die Gerechten?

Ja, dann beginnen wir hoffentlich zu ahnen, was uns eigentlich als christliche Gemeinde zusammenhält: Ganz gewiss nicht dies, dass wir alle miteinander Menschen ohne Sünde und Fehler sind. Aber ganz gewiss auch nicht dies, dass wir eine Gruppe von Menschen sind, die sich alle miteinander so sehr mögen und sich sympathisch sind. Sondern was uns als christliche Gemeinde zusammenhält, ist einzig und allein dies, dass Jesus, unser guter Hirte, einen jeden von uns auf seinen Schultern hierher geschleppt hat, dass er uns gefunden und in seine Herde eingefügt hat. Was uns als christliche Gemeinde zusammenhält, ist die Freude Gottes über uns, die Jesus hier so wunderbar mit der Freude jener Frau vergleicht, die ihr verlorenes Geldstück wiedergefunden hat. Erinnert ihr euch noch daran, wie glücklich ihr wart, als ihr lange Zeit nach etwas gesucht hattet und es dann schließlich am Ende gefunden habt? Dann versteht ihr, wie Gott sich freut, wenn er sieht, wie sich Menschen hier in unserer Kirche immer wieder neu um den Altar versammeln, um an Gottes großem Freudenmahl teilzuhaben. Ja, auch du bist heute hier im Gottesdienst, nicht, weil du dich für Jesus entschieden hast, sondern weil Jesus dich gefunden hat. Und Gott nimmt dich nicht deshalb hier in diesem Gottesdienst an, weil du vorher alles wiedergutgemacht hast, was du vorher an Schlechtem getan hast. Sondern Gott nimmt dich in diesem Gottesdienst an, weil sein Sohn Jesus Christus alles wiedergutgemacht hat für dich, als er am Kreuz für dich gestorben ist.

Ja, auch für diesen Menschen, der von mir verlangte, dass ich für ihn das Gericht belüge, ist Jesus am Kreuz gestorben. Und darum gibt Jesus auch diesen Menschen nicht auf, auch und gerade dann, wenn ich selber überhaupt nicht mehr weiß, wie ich an ihn noch herankommen könnte. Es mag ja sein, dass der sich erst noch mal sehr viel tiefer in den Büschen verheddern muss, bevor ihn Jesus da wieder rausholt. Aber einfach abschreiben wollen wir ihn nicht, wollen dazu bereit sein, auch diesen Menschen mit Freuden zu empfangen, wenn er doch wieder hier bei uns auftauchen sollte. Vergiss es nie: Jesus hat auch dich gefunden und hierhergetragen. Und darüber herrscht Freude im Himmel, auch jetzt gleich wieder, wenn du hier am Altar niederkniest und mit den anderen Sündern gemeinsam isst und trinkst. Und wie gut, dass selbst in Corona-Zeiten dann immer noch ein Platz an deiner Seite frei ist! Amen.

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