St. Lukas 15,11-32 | Mittwoch nach dem 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Irgendwann wird es im Leben mal nötig, sich vom Elternhaus abzunabeln. Wenn der Sohn mit 40 immer noch bei Muttern auf dem Sofa sitzt und nicht den Sprung in die Selbstständigkeit geschafft hat, dann wird es allmählich Zeit, sich ein wenig Sorgen um ihn zu machen. Nein, das gehört einfach dazu, wenn man erwachsen wird, dass man aus dem Elternhaus weggeht.
Die Frage ist allerdings, auf welche Weise dies geschieht. Es gibt den ganz normalen, organischen Übergang, wenn der Sohn oder die Tochter zum Studium in eine andere Stadt zieht oder nach dem Abschluss der Berufsausbildung sich endlich die eigenen vier Wände leisten kann. Ich kenne allerdings aus unserer Gemeinde auch sehr viel dramatischere Abnabelungsgeschichten, wenn etwa ein minderjähriger Jugendlicher nach dem illegalen Grenzübertritt feststellt, dass seine Eltern nicht mitgekommen sind, oder wenn ein Jugendlicher beim Aussteigen aus dem Flüchtlingsboot feststellt, dass das andere Boot, in dem seine Eltern saßen, nicht mehr da ist. Und ich habe im Laufe meines Dienstes natürlich auch immer wieder miterlebt, wie Kinder einfach die Verbindung zu ihren Eltern abgebrochen haben, verschwunden sind und nichts mehr von ihnen wissen wollten.
Solch eine ähnliche Geschichte erzählt uns Jesus auch im Heiligen Evangelium des heutigen Abends. Da haut ein Sohn von zu Hause ab – nein, nicht einfach Knall auf Fall, er will ja erst noch mal abkassieren. Aber schließlich ist er dann doch weg, und der Rest der Geschichte ist uns allen bekannt. Schließlich gehört das Gleichnis vom Verlorenen Sohn beziehungsweise vom Barmherzigen Vater zu den bekanntesten Geschichten der Heiligen Schrift, und es dürfte auch hier in diesem Kreis kaum jemanden geben, der diese Geschichte heute Abend zum ersten Mal in seinem Leben gehört hat. Die kommt natürlich auch immer im Taufunterricht dran.
Von daher wollen wir heute Abend mal von der anderen Seite an dieses Gleichnis herangehen. Jesus macht uns in dieser Geschichte nämlich noch etwas Anderes deutlich als das, was wir üblicherweise als erstes hören: Dass Gott, unser Vater, immer wieder dazu bereit ist, uns in seine Arme zu schließen, wenn wir wieder zu ihm zurückkehren.
Jesus macht uns deutlich: Von Gott, unserem Vater, müssen wir uns nicht abnabeln; bei ihm können wir, ohne Schaden zu nehmen, unser ganzes Leben bleiben. Um zu Gott eine gute, stabile, dauerhafte Beziehung zu haben, müssen wir nicht vorher einmal bei den Schweinen gelandet sein. Es geht auch anders. Gott ist nicht einfach nur ein freundlicher Begleiter in unserer Kindheit, jemand, der uns das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, bis wir schließlich auf eigenen Beinen stehen. An Gott, den Vater, als Erwachsener immer noch zu glauben, ist kein Zeichen von verzögerter Reife oder Infantilität. Im Gegenteil: Reifen kann ich auch und gerade da, wo ich in der Nähe meines Vaters bleibe und mich nicht von ihm entfernt habe.
Ja, gewiss, wir werden uns immer auch in der Gestalt des jüngeren Sohnes wiedererkennen, der zu seinem Vater zurückkehrt und von ihm in den Arm genommen wird. Natürlich geht es darum auch immer wieder in der Beichte, dass wir zu Gott umkehren und von ihm wieder angenommen werden. Aber wenn ich mich heute Abend so umgucke, sehe ich nicht so fürchterlich viele hier sitzen, die schon mal Schweine gehütet haben, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne. Da gibt es so manchen unter uns, der sein ganzes Leben im Vaterhaus zugebracht hat, ganz selbstverständlich zu Hause bei Gott war und geblieben ist. Und da gibt es so manchen unter uns, der erst später in seinem Leben ins Vaterhaus Gottes gefunden hat, der aber dann auch dort geblieben ist und nicht mehr von dort weggegangen ist.
Und das ist gut so, so macht es der Vater selber in dem Gleichnis deutlich, das Jesus hier erzählt. Ja, das ist sogar noch viel besser, als wir selber es oftmals zunächst wahrnehmen und erkennen. Genau das ist ja das Problem des älteren Sohnes, dass er überhaupt nicht erfasst hat, wie gut er es eigentlich bei seinem Vater hat, dass er das als so selbstverständlich angesehen hat, dass er die Freude des Vaters gar nicht begreifen kann, dass nun auch der andere Sohn in eben diese Gemeinschaft zurückgekehrt ist, die der ältere Sohn die ganze Zeit erfahren durfte.
„Mein Sohn, du bist allezeit bei mir.“ Schwestern und Brüder: Wie oft haben wir eigentlich in letzter Zeit Gott, unserem Vater, dafür gedankt, dass wir unser Leben so selbstverständlich immer in seiner Nähe verbringen durften? Wie oft haben wir Gott, unserem Vater, eigentlich in der letzten Zeit dafür gedankt, dass er uns in unserem Leben davor bewahrt hat, auf Abwege zu geraten? Wie oft haben wir Gott, unserem Vater, eigentlich in der letzten Zeit dafür gedankt, dass wir uns in unserem Leben ganz einfach und selbstverständlich daran gewöhnen durften, immer bei ihm zu sein, immer sein Wort zu hören, immer sein Heiliges Mahl zu empfangen? Ja, das ist auch eine Frage an euch, die ihr noch etwas neuer in der Gemeinde seid: Dankt ihr Gott immer noch dafür, dass er euch hier in die Gemeinde geführt hat, dass ihr bei ihm euer Zuhause gefunden habt – oder ist das auch für euch vielleicht schon allzu selbstverständlich geworden?
Bei Gott zu Hause zu sein – das heißt ja, so macht es der Vater hier deutlich: Alles, was mein ist, das ist dein. Ja, darum und um nicht weniger geht es, wenn wir mit Gott in seiner Nähe, in seiner Familie leben. Gott behält nichts für sich zurück; er teilt wirklich alles mit uns. Genau darum und um nicht weniger geht es bei jeder Feier des Heiligen Altarsakraments. Da bekommst du eben nicht bloß Brot und Wein zur Erinnerung an Jesus. Da erhältst du Anteil an dem heiligen Leib und Blut deines Herrn – und damit nicht weniger als Anteil an Gott selber. Du bekommst sein ewiges, unzerstörbares Leben. Du bekommst Anteil an seiner Heiligkeit. Du bekommst Anteil an seiner Freude. Du bekommst Anteil an seinem göttlichen Wesen. Gott teilt alles mit dir, öffnet sich dir ganz, lässt dich teilhaben an seinem Reichtum. Weißt du es, ahnst du es, wie gut du es hast, wenn Christus, unser Herr, dich gleich wieder zum großen Güteraustausch hier an seinen Altar lädt? Bill Gates hat seine Kinder an der kurzen Leine gehalten, wird ihnen auch nur einen ganz kleinen Teil seines Vermögens vermachen – und das ist erzieherisch sicher eine richtige und sinnvolle Maßnahme. Doch Gott erzieht uns anders – er erzieht uns dadurch, dass er uns mit seiner Liebe, mit seinen Gaben geradezu überschüttet, sich uns ganz schenkt und hingibt. Ja, da wäre es wirklich Wahnsinn, wenn wir vor so viel Liebe davonlaufen würden.
Und wenn uns das klar wird, wie reich beschenkt wir sind, wie gut wir es haben bei einem Vater, der alles mit uns teilt, dann werden wir auch nie mehr auf die Idee kommen, dass wir bei diesem Gott zu kurz kommen könnten, nur weil so viele andere auch bei ihm sein wollen, auch in seiner Nähe leben wollen. Wir kennen diese Reaktion des älteren Sohnes nur allzu gut, diese Angst, zu kurz zu kommen, benachteiligt zu werden gegenüber dem anderen, der erst nach einem gekommen oder eben zurückgekommen ist. Wir kennen solche Reaktionen auch in christlichen Gemeinden, dass der Gemeindekern sich zurückgesetzt fühlt, wenn neue Menschen in die Gemeinde kommen, weil er denkt, nun werde er nicht mehr genügend beachtet und wahrgenommen. Ach, wie wenig haben die, die neue Gemeindeglieder als Konkurrenz empfinden, davon verstanden, was Gott auch ihnen zusagt: Alles, was mein ist, das ist dein! Wie wenig haben sie davon verstanden, was für ein Geschenk es ist, in der Gemeinschaft mit dem Vater ein ganzes Leben lang verbringen zu dürfen, wenn sie nicht in die Freude des Vaters einstimmen können, dass ein Mensch, der verloren war, nun lebendig geworden ist, nun Anteil am neuen Leben bekommen hat, das auch ihm in der Familie Gottes geschenkt wird!
Nein, niemals haben wir es dadurch schlechter, dass Gottes Familie größer wird, dass wir nicht mehr die einzigen sind, die in Gottes Nähe leben. Die Freude darüber, dass auch andere Menschen zum ewigen Leben gerettet werden, nicht verloren werden, tut auch uns selber gut, lässt uns selber wieder neu erkennen, was es heißt, dass auch wir in der Gemeinschaft mit Gott das ewige Leben haben, lässt uns selber wieder neu erkennen, wie wunderbar es ist, Gott den Vater kennen und mit ihm leben zu dürfen!
Ja, da mag es durchaus sein, dass auch wir, die wir schon länger mit dabei sind, noch weitere Lernprozesse und Reifungsprozesse durchmachen müssen, dass uns Dinge wieder neu oder ganz neu aufgehen, die uns doch eigentlich längst hätten klar sein können. Aber um Gottes Liebe neu zu erkennen und zu entdecken, müssen wir nicht weg aus Gottes Vaterhaus, müssen wir nicht weg zu den Schweinen. Die, die zu uns dazukommen, sie leiten uns von sich aus schon zur Freude über diese Liebe Gottes an. Wie sollten da nicht auch wir fröhlich und guten Mutes sein – fröhlich über die anderen, fröhlich über Gottes bedingungslose Liebe, fröhlich damit auch über uns selbst? Alles, was mein ist, das ist dein. Mensch, was haben wir es bei diesem Vater gut! Amen.