St. Lukas 17, 11-19 | 14. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Vielleicht hieß er Ruben. Er lebte in einem Dorf in Galiläa nahe der Grenze zu Samaria im nördlichen Teil des heutigen Israel. Es ging ihm gut, er hatte seinen Handwerksberuf, er hatte Frau und Kinder – alles war in seinem Leben in Ordnung. Bis zu dem Tag, an dem er auf seiner Haut diese merkwürdigen Flecken entdeckte. Verbergen ließen sie sich sehr bald nicht mehr – und er wollte sie auch gar nicht verbergen. Zu groß war die Gefahr, dass er damit auch noch seine Frau und seine Kinder anstecken würde. Was das für ihn selber hieß, war klar: Er musste seine Familie, sein Dorf verlassen, musste als Leprakranker außerhalb des Dorfes in einer kleinen Kolonie mit anderen Leprakranken hausen, gleichsam bei lebendigem Leibe schon in einer Art von Totenreich, getrennt von allem, was einem im Leben Glück und Freude schenkt.
Doch eines Tages vernimmt er mit seinen neun Lepra-Kumpeln, dass Jesus in das Dorf kommt, in dem er einst gewohnt hatte. Nein, nähern durften sie sich ihm natürlich nicht. Aber von weitem konnten er und die anderen Jesus auf sich aufmerksam machen, ihn, von dem sie schon so viel gehört hatten, dass er anderen Kranken schon geholfen hatte. „Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!“
Und Jesus hört die Schreie von Ruben, hört die Schreie auch der anderen neun. Ungewöhnlich ist seine Reaktion: Er äußert keine mitfühlenden Worte, er zieht auch keine Heilungsshow ab, sondern er antwortet auf die Rufe der zehn mit einem sehr nüchternen Befehl: Geht hin und zeigt euch den Priestern! In heutigem Deutsch: Geht zum Gesundheitsamt und lasst euch bestätigen, dass ihr nicht mehr ansteckend seid!
Das war schon heftig: Den zehn Leprakranken wird zugemutet, ohne irgendeinen Beweis zu den Priestern zu marschieren und ihnen zu erklären: An uns ist ein Wunder geschehen, das kein Mensch, das Gott allein vollbringen kann. Denn die Heilung eines Leprakranken galt damals in Israel als genauso schwierig, ja menschenunmöglich wie die Auferweckung eines Toten. Doch offenkundig nehmen sie das Wort Jesu ohne weitere Diskussion ernst, marschieren los – und erleben schon auf dem Weg, dass sie offenkundig geheilt sind.
Auch Ruben erfährt das. Er geht zum Priester, lässt sich gesundschreiben, bringt das vorgeschriebene Dankopfer im Tempel dar, zeigt damit, wie dankbar er Gott für die Heilung ist, die er erfahren hat – und dann geht er nach Hause, geht zu seiner Frau und zu seinen Kindern, feiert mit ihnen seine unglaubliche Heilung und dankt Gott gemeinsam mit seiner Familie von Herzen für das neue Leben, das ihm nun geschenkt wurde.
Eine schöne, rührende Geschichte mit Happyend? Nicht so ganz. Denn nur einige Kilometer vom Dorf entfernt steht Jesus und stellt eine einfache Frage: Wo ist Ruben? Warum ist er nicht zu mir zurückgekommen? Ja, Ruben ist gesund geworden – aber heil, gerettet ist er dadurch nicht. Gerettet ist, so macht es Jesus einige Kilometer von Rubens Wohnhaus deutlich, gerettet ist einzig und allein der eine Samariter aus dem Kreis der Zehn, der eine, der vor ihm, Jesus, auf die Füße gefallen ist, seinen Dank an Gott ihm, Jesus, abgestattet hat. So sieht Glaube aus, sagt Jesus, Glaube, der rettet, der selig macht.
NNennen wir sie Heidemarie. Heidemarie hat in ihrem Leben auch so einiges durchgemacht. Als Kind hatte sie den Krieg noch miterlebt, die Flucht aus der Heimat, in der sie geboren worden war, dann auch die schweren Jahre nach dem Krieg, war selber ein paar Mal schwer krank. Aber schließlich hatte sich doch alles zum Guten gewendet. Sie hatte ihre Ausbildung gemacht, hatte später Familie, Kinder und Enkel, eine gute Rente. Ja, ich bin dankbar für mein Leben, so sagt sie es gerne. Nur – wem sie eigentlich dankbar sein soll, kann sie auch nicht so ganz genau sagen. Ja, irgendwie dem da oben, meint sie. Aber sehr viel Kontakt zu ihm hat sie in ihrem Leben auch nicht gehabt, jedenfalls nicht mehr seit ihrer Konfirmation. Ja, am Heiligen Abend trifft sie ihn jedes Jahr noch mal kurz; aber ansonsten lassen ihr die familiären Verpflichtungen nicht sehr viel Zeit, sich mit diesem Thema zu befassen. Immerhin: Dies eine weiß sie: Dass sie in ihrem Leben eigentlich ein guter Mensch war. Das sollte doch allemal dafür reichen, dass sie schließlich auch mal in den Himmel kommt.
Nennen wir ihn Ali. Ja, das waren schon ganz ernsthafte Probleme, die ihn vor ein paar Jahren dazu veranlasst hatten, den Iran zu verlassen. Ärger mit dem Geheimdienst hatte er gehabt; das ist dort wahrlich kein Spaß. Lang und gefährlich war seine Flucht hierher nach Deutschland gewesen; aber schließlich war er hier doch angekommen, hatte das Glück gehabt, auf dem Weg nach Deutschland nicht irgendwo erwischt worden zu sein. Bald nach seiner Ankunft wurde er von einem Bekannten auf den christlichen Glauben angesprochen. Nein, an diesen Gott, der seinen Gläubigen befiehlt, keinen Alkohol zu trinken und Frauen zu steinigen, hatte er eigentlich schon länger nicht mehr so richtig geglaubt. Und was er dann da in der Kirche hörte, das gefiel ihm, das war schön, das war so viel positiver als alles, was er bisher im Islam gehört hatte. Und so ließ er sich taufen, nein, nicht bloß oberflächlich, sondern schon ganz bewusst, erst recht nicht bloß wegen seines Asylverfahrens – obwohl das natürlich auch ein praktischer Nebeneffekt war. Und dann lief ja auch alles gut – nach einigem Warten erhielt er schließlich seinen Aufenthalt hier in Deutschland. Jetzt war er am Ziel seiner Wünsche. Nun konnte er endlich eine Ausbildung machen, konnte endlich Geld verdienen, sich endlich die Zukunft schaffen, die er sich immer gewünscht hatte. Nein, für die Kirche hatte er jetzt natürlich keine Zeit mehr, ganz klar. Jetzt war erst einmal anderes dran. Aber natürlich, so versicherte er immer wieder, war er dankbar dafür, wie ihm dort geholfen worden war, würde er diese Hilfsbereitschaft nie vergessen. Und natürlich würde er immer wieder auch einmal an Jesus denken, den er eigentlich immer noch sehr gut fand.
Geschichten mit Happyend? Nicht so ganz, besser gesagt: Ganz und gar nicht. Denn da steht Jesus nun auch heute und fragt nach: Wo ist Heidemarie, wo ist Ali? Wo sind all die anderen, denen ich mich zugewandt hatte, die mir ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Zukunft verdanken? Wo sind sie? Nein, sagt Jesus, ich karte nicht nach. Ich lasse es denen, die von mir in ihrem Leben nichts mehr wissen wollen, nicht schlechter gehen als denen, die immer wieder zu mir zurückkehren. Ja, es mag ihnen in ihrem Leben richtig gut gehen – aber gerettet sind sie damit nicht. Gerettet wird nur der, der mir zu Füßen fällt, der in mir Gott selber erkennt und in mir Gott selber dankt.
„Dein Glaube hat dir geholfen“ übersetzt Martin Luther. „Dein Glaube hat dich gerettet“, so heißt es dort wörtlich. Glaube ist nicht ein allgemeines Gefühl der Dankbarkeit gegenüber einem höheren Wesen, sondern Glaube heißt ganz konkret: zu Jesus Christus kommen, so haben wir es schon im Kleinen Katechismus gelernt. Dieser Glaube rettet, der sich dorthin begibt, wo Christus zu finden ist, und Christus gegenüber bekennt, dass er alles, was er hat und ist, allein ihm, Christus, verdankt.
Ein Fremder bringt diesen Glauben an Jesus Christus zum Ausdruck, gerade nicht Ruben, gerade nicht Heidemarie. Das sollte uns schon zu denken geben. Nein, das bedeutet nicht eine Verklärung aller Fremden, als ob sie grundsätzlich besser wären als andere. Und auch ein Ali kann sich genauso verhalten wie ein Ruben und eine Heidemarie, kann schon nach kurzer Zeit wieder vergessen, wem er denn alles zu verdanken hat, was er jetzt so gedankenlos genießt. Aber es ist eben doch Gottes Art, auf ganz unerwartete Weise sein Reich zu bauen, mit Menschen, mit denen wir erst einmal gar nicht rechnen würden. Genauso erleben wir es heute in unserer Mitte, wie Jesus es damals erlebt hat.
Ihr alle seid heute hier im Gottesdienst zu Jesus zurückgekehrt, habt euch nicht damit begnügt, zu Hause in euren Wohnungen zu bleiben und euch mit allem möglichen anderen zu beschäftigen. Ihr alle fallt ihm, eurem Herrn, nun gleich zu Füßen beim Mahl der Danksagung, der Eucharistie, wenn er, euer Herr, mit seinem Leib und Blut zu euch kommt. Ja, da empfangt ihr euer Heil, eure Rettung, euer Leben – Gott sei gepriesen!
Doch wenn ihr dann wieder nach Hause geht, dann vergesst ja nicht die Geschichte von diesem einen dankbaren Samariter. Lasst euch durch ihn daran erinnern: Es nützt euch gar nichts, wenn ihr gesund sein, wenn ihr einen Beruf habt, wenn ihr eine Familie habt, wenn ihr vielleicht auch ein bisschen religiös seid und von Zeit zu Zeit mal an den lieben Gott denkt. Gerettet werdet ihr einzig und allein, wenn ihr zu Jesus Christus kommt und bei ihm bleibt, wenn ihr nicht bloß mal an ihn denkt, sondern euch dort einfindet, wo er ist, wo er auf euch wartet, jawohl, hier an seinem Altar. Denke daran: Jesus fragt auch nach dir, jeden Sonntag neu: Wo bist du? Brauchst du mich jetzt nicht mehr? Und er freut sich umso mehr über jeden, der kommt, freut sich über dich, wenn er dich hier sieht. Jesus Christus will doch, dass niemand verloren geht. Er will viel mehr als bloß 10%. Amen.