St. Lukas 18,31-43 | Estomihi | Pfr. Dr. Martens

„Für die Beurteilung der religiösen Überzeugung und Identität der Klägerin verfügt das Gericht über ausreichende Sachkunde und es bedurfte hierfür keines Experten vorbehaltenen Wissens.“ Solche Sätze lese ich immer wieder in den Urteilen von Verwaltungsgerichten, in denen der Glaubensrichter oder die Glaubensrichterin Gliedern unserer Gemeinde die Ernsthaftigkeit des christlichen Glaubens abspricht. Was christlicher Glaube ist, ist doch völlig klar. Dafür braucht man keinen Pastor, um zu erkennen, dass es im christlichen Glauben nicht um Sündenvergebung oder Sakramente geht, sondern nur um eine Morallehre. Und wenn der oder die Betreffende in der Gerichtsverhandlung nur über so unwichtige Dinge wie über Christus und das Heilige Abendmahl geredet hat, dann ist es offenkundig, dass das kein ernsthafter Christ sein kann!

Ja, das ist eine Erfahrung, die wir in ganz vielen Bereichen unserer Gesellschaft machen, dass Menschen zu wissen glauben, was den christlichen Glauben in Wirklichkeit ausmacht, und tatsächlich doch völlig blind für Christus und die christliche Botschaft sind.

Da marschieren jede Woche in Dresden Menschen durch die Stadt, um das christliche Abendland zu verteidigen. Doch wenn man diese Leute fragt, was denn eigentlich nun das Christliche sei, was sie da zu verteidigen vorgeben, dann fallen die Antworten in aller Regel mehr als dünn aus, beschränken sich zumeist eher auf eine kleinbürgerliche Schrebergartenidylle, als dass sie auch nur irgendetwas mit der Botschaft des christlichen Glaubens zu tun hätten. Oder da geben sich amerikanische Fernsehprediger gerne als christliche Prediger aus – aber was sie dann verkündigen, hat mit der christlichen Heilsbotschaft oft nur herzlich wenig zu tun: Ein bisschen Show, vermischt mit positivem Denken und ein wenig Personenkult – das reicht, um die Leute in Begeisterung über etwas zu versetzen, was in Wirklichkeit von der Botschaft des christlichen Glaubens meilenweit entfernt ist, auch wenn es beim ersten Hinhören vielleicht sogar fürchterlich fromm klingt.

In unserer heutigen Predigtlesung haben wir es auch mit Experten zu tun, die glauben, sie wüssten ganz genau über Christus und den christlichen Glauben Bescheid. Von den 12 Aposteln berichtet St. Lukas hier, die Jesus nun auf seinem ganzen Weg gefolgt sind, von ihm so viel gehört und gesehen haben, dass sie doch eigentlich genau Bescheid wissen müssten, jetzt, wo er auf dem Weg nach Jerusalem ist, nicht mehr weit entfernt davon ist, dort in der Hauptstadt einzuziehen. Doch dann kündigt ihnen Jesus nicht zum ersten Mal, sondern zum dritten Mal sehr detailliert an, was nun schon bald mit ihm passieren wird, dass er verhaftet werden wird, verspottet, misshandelt, angespuckt, gegeißelt, getötet werden wird – und dann auferstehen wird. Doch das widerspricht so voll und ganz ihren eigenen Erwartungen und Vorstellungen von Jesus. Er ist doch der Messias – also wird er in Jerusalem einziehen, die Römer aus der Stadt verjagen und sein Friedensreich in Israel errichten. Für eine Verhaftung, ja Hinrichtung ist da nun wirklich kein Platz. Das kann gar nicht sein. Ja, sie, die Experten, begreifen überhaupt nichts, verstehen nichts, bekommen das überhaupt nicht in ihre Vorstellungen von Jesus hinein, was er ihnen da sagt. Mit den Worten des Evangelisten: „Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.“ Da sind Menschen mit Jesus zusammen – und sind doch blind für ihn, für das, was er ihnen sagt.

Ja, Menschen, die genau zu wissen glauben, wer Jesus ist und was er sagt, sind in Wirklichkeit immer wieder blind für ihn. Genau so erleben wir es bis zum heutigen Tag. Und immer ist es derselbe Punkt, den die Menschen einfach nicht begreifen können und wollen, der ihrem eigenen Denken über Jesus, über den christlichen Glauben ganz und gar widerspricht: Immer geht es um das Kreuz, um den Weg Jesu ans Kreuz. Das passt so gar nicht hinein in das religiöse Denken der Leute. Das passt nicht in unsere heutige Staatsreligion, an der der Glaube der Glieder unserer Gemeinde heutzutage in den Gerichten gemessen wird und die den Glauben immer wieder in ein System von „Regeln und Werten“ verdreht. Das passt nicht in die Vorstellung derer, die aus dem christlichen Glauben eine germanische Volksreligion machen wollen. Und das Kreuz passt erst recht nicht in die Verkündigung jener Fernsehprediger, die behaupten, Jesus würde alle unsere Probleme lösen, wenn wir denn nur fest genug daran glauben. Ja, sagen wir es ganz offen: Das Kreuz passt in das Denken keines einzigen Menschen, es passt auch nicht in unser Denken. Auch wir möchten am liebsten einen Jesus haben, der unseren Wünschen entspricht, ja, der unsere Wünsche und religiösen Bedürfnisse erfüllt. Doch stattdessen spricht Jesus immer wieder von seinem Kreuz, von seinem Tod. Und dafür sind wir Menschen schlicht und einfach blind, menschlich gesprochen unheilbar blind. Das geht nicht in unser Hirn, wozu es gut sein soll, dass Jesus uns dadurch rettet, dass er sich foltern und töten lässt.

Ja, von vielen blinden Menschen berichtet St. Lukas hier in unserer Predigtlesung. Und dann taucht mit einem Mal noch ein weiterer blinder Mensch auf. Der weiß allerdings im Unterschied zu den blinden Jüngern selber ganz genau, dass er blind ist, dass er Hilfe braucht. Am Straßenrand sitzt er und bettelt. Doch dann bekommt er mit, dass da offenkundig sehr viele Füße an ihm vorbeilaufen, und so erkundigt er sich, was denn da los ist. Und die Leute erzählen ihm, dass Jesus von Nazareth gerade vorbeigelaufen sei. Und von dem hatte dieser blinde Mann offenbar schon gehört, hatte schon mitbekommen, dass dieser Jesus nicht einfach bloß ein netter Mensch ist, sondern der Messias, der, der dazu in der Lage ist, Menschen zu helfen, ja selbst Blinde zu heilen. Und so schreit er laut vom Straßenrand aus sein „Christe eleison“, so laut, dass die Leute in dem feierlichen Zug, der Jesus begleitet, ihn anfahren, ihm sagen, er solle den Mund halten und Jesus nicht stören. Doch dieser Blinde lässt sich davon nicht abhalten. Im Gegenteil: Er schreit jetzt noch viel lauter sein „Christe eleison“ am Straßenrand – so laut, dass es auch Jesus nicht überhören kann. Und der bleibt allen Ernstes stehen, stoppt den ganzen Zug und lässt diesen Blinden zu sich bringen. Und dann stellt Jesus diesem Blinden eine Frage, die uns beim ersten Hinhören reichlich blöd vorkommen mag: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Ja, was denn wohl? Dass der Blinde sich nicht einen BigMac wünscht oder 20 Tage Sonnenschein, ist doch klar. Doch so klar ist das in Wirklichkeit eben doch nicht: Jesus will, dass der Blinde ihm seine Blindheit bekennt, ja, dass er von ihm nicht weniger als die menschenunmögliche Heilung von seiner Blindheit erbittet. Genau das sagt der Blinde dann auch – und Jesus antwortet prompt: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Weil der Blinde von Jesus die Heilung von seiner Blindheit erwartet, wird ihm auch geschenkt, was er erbeten hatte: Das Augenlicht.

Ach, Schwestern und Brüder, wenn wir es genau betrachten, war der Blinde eigentlich ja schon vorher geheilt worden: Während die scheinbar sehenden Jünger nichts von dem erkannten, wer Jesus in Wirklichkeit ist, erkennt es der Blinde am Straßenrand aufgrund der Worte, die ihm die vorbeilaufenden Leute sagen. Geistlich sieht er schon, während er körperlich noch blind ist. Aber als Jesus ihn dann auch von seiner körperlichen Blindheit heilt, wirkt sich das bei dem Ex-Blinden nun auch gleich geistlich aus: Er folgt Jesus nach – und preist Gott, macht deutlich, dass ihm in Jesus kein Geringerer als Gott selbst geholfen hat. Wer Jesus wirklich erkannt und gesehen hat, der kann das nicht einfach nur interessiert zur Kenntnis nehmen, der begibt sich damit gleichsam von selbst auf den Weg der Nachfolge seines Herrn.

Wie werden wir Menschen also von unserer geistlichen Blindheit gegenüber Jesus geheilt? Wie werden wir davon geheilt, dass wir glauben, sehen zu können, und in Wirklichkeit doch so gar nichts kapieren? Der einzige Weg besteht darin, dass wir uns von Jesus zum Bekenntnis unserer Blindheit anleiten lassen und ihn um die Heilung unserer Blindheit bitten. Nicht wir selber kommen auf den Trichter, wie wir sehend werden können. Das schafft nur Jesus, das schafft nur er allein mit seinem wirksamen Wort. Nur Jesus selber kann uns die Augen dafür öffnen, warum sein Weg ans Kreuz kein peinlicher Betriebsunfall ist, sondern die tiefste Weisheit Gottes, warum allein in seinem Weg ans Kreuz unsere Rettung liegt, warum sein Kreuz das Zentrum unseres Glaubens ist.

Unsere heutige Predigtlesung bildet gleichsam das Tor zur Fastenzeit, die nun in dieser Woche beginnt. Ja, genau darum geht es ja in der Fastenzeit, dass wir uns geistlich auf den Weg hinter Jesus her begeben, der ihn bis ans Kreuz führt. Darum geht es in der Fastenzeit, dass wir uns von Jesus wieder neu die Augen öffnen lassen für die Bedeutung seines Leidens und Sterbens. Und wir wissen ja nun, wie sich diese Öffnung der Augen vollzieht: Nicht so, dass wir zu Hause allein herumsitzen und über Jesus nachdenken, sondern allein so, dass wir das wirksame Wort Jesu selber hören hier im Gottesdienst, dass wir die Kraft dieses Wortes erfahren, wenn uns in jedem Gottesdienst die Vergebung der Sünden zugesprochen wird, wenn wir erleben, wie durch die Kraft dieses Wortes Brot und Wein zum Leib und Blut des gekreuzigten Christus werden. Ja, laufen wir immer wieder hin zu Jesus, rufen wir ihm unser Christe eleison zu, bitten wir ihn um die Heilung unserer Blindheit, die doch so tief in uns steckt – und erfahren wir dann wieder neu, wie Jesus unsere Bitten hört und uns jedes Mal am Schluss des Gottesdienstes singen lässt: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen!“ Ja, komme auch heute wieder zu ihm, deinem Herrn! Er will auch heute wieder deine Augen öffnen für ihn, der seinen Leib und sein Blut für dich in den Tod gegeben hat! Ja, seht es, seht es nun gleich wieder: Seht, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Ja, seid sehend! Amen.

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