St. Lukas 18,9-14 | 11. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Zu den ernüchternden Erfahrungen, die wir in dieser Corona-Zeit in besonders intensiver Weise haben machen können und müssen, zählt gewiss diese, dass Gott in unserem Land, in unserer Gesellschaft tatsächlich gar keine Rolle mehr spielt. Der Gedanke, dass Corona etwas mit Gott zu tun haben könnte, war selbst vielen Kirchenvertretern peinlich – und von Seiten der politisch Verantwortlichen war von Gott erst recht nicht mehr die Rede. Das Wort „Gott“ tauchte höchstens noch auf, wenn Gottesdienste als potentielle Gefahrenquellen bei der Weitergabe des Virus erwähnt wurden. Ja, wir müssen in unserem Land mit all den Problemen, die uns im Augenblick zu schaffen machen, ohne Gott klarkommen – und für die meisten liegt der Gedanke an Gott mittlerweile so fern, dass sie das noch nicht einmal in irgendeiner Weise als Problem oder Verlust empfinden.

Im heiligen Evangelium des heutigen Sonntags erzählt uns Jesus von zwei sehr unterschiedlichen Menschen – die aber in einer Hinsicht auch wieder ganz nahe beieinander waren: Der Pharisäer und der Zöllner – sie stehen beide miteinander im Tempel, räumlich nur wenige Meter voneinander entfernt, und für beide gemeinsam ist eines ganz klar: Ihr Gegenüber ist Gott, an ihn wenden sie sich im Gebet, vor ihm stehen sie mit ihrem Leben. Die Art und Weise, wie sie sich selber zu diesem Gegenüber positionieren, ist sehr unterschiedlich. Aber dass Gott der entscheidende Bezugspunkt ihres Lebens ist, das ist für sie ganz klar. Der Pharisäer reagiert darauf, indem er versucht, sein Verhältnis zu Gott auf der Basis seiner guten Werke zu gestalten: Er möchte sich vor Gott dadurch ins rechte Bild setzen, dass er sich mit anderen vergleicht und seine Wohltaten auflistet. Und der Zöllner reagiert darauf so, dass er auf jede Show vor Gott verzichtet und gleichsam seine Generalkapitulation vor Gott angesichts seines Versagens gegenüber Gottes Geboten erklärt.

Doch was ist, wenn nun Gott als Gegenüber in einer Gesellschaft wegfällt? Hören damit dann auch die fromme Selbstdarstellung des Pharisäers und das Flehen um Vergebung beim Zöllner weg?

Es ist interessant zu beobachten, dass eben dies nicht der Fall ist. Denn das Verhalten des Pharisäers prägt das Zusammenleben in unserer Gesellschaft auch in einer Zeit, in der Gott gar nicht mehr im Blick ist: Der Pharisäer glaubt, dadurch besser dazustehen, dadurch eine bessere Zukunft zu haben, dass er sich mit anderen vergleicht und erkennen lässt, dass dieser Vergleich eindeutig zu seinen Gunsten ausfällt. Genau dieses Denken ist auch heute bei uns so weit verbreitet: Wenn sich jemand etwa um eine Arbeitsstelle bewirbt, dann wird von ihm geradezu erwartet, dass er zeigen kann, warum er besser ist als die anderen. Wenn jemand sich nicht mit seinen Stärken gut präsentieren kann, hat er auch im Asylverfahren beim Bundesamt oder im Verwaltungsgericht keine Chance. Da kommen wirklich nur die Pharisäer durch, die Zöllner bleiben in vielfacher Weise auf der Strecke. Dabei kann dieser Vergleich mit ganz unterschiedlichen Mitteln durchgeführt werden: Im Konkurrenzkampf mit festgelegten Regeln oder, sehr viel beliebter noch, durch das Reden über andere hinter ihrem Rücken. Genau das praktizierte der Pharisäer ja damals auch schon im Tempel, dass er sich mit Gott über den Zöllner unterhielt, dass der Zöllner damit nur noch als Negativfolie diente, um das eigene Gutsein besonders herausstellen zu können. Und eben dies vermittelt ja auch heute immer noch ein so gutes Gefühl, über andere hinter ihrem Rücken herziehen zu können, die natürlich so viel schlechter sind als man selber. Merkwürdig, dass wir das nötig haben, dass wir auf diese Weise bewusst oder unbewusst versuchen, uns selber zu rechtfertigen, uns selber in ein besseres Licht zu rücken. Ja, warum eigentlich? Schwingt da nicht auch noch in unserer Gesellschaft ohne Gott eine Ahnung davon mit, dass wir uns in unserem Leben eben doch zu verantworten haben vor jemandem, der einmal unser Leben beurteilen wird?  

Bezeichnend ist jedenfalls, dass wir Menschen es auch in einer Gesellschaft ohne Gott immer noch nicht ertragen können, mit Schuld zu leben, als schuldig dazustehen. Wenn es keinen Gott gibt, kann es mir doch eigentlich egal sein, ob ich mich in meinem Leben schuldig mache, solange dies keine strafrechtlichen Konsequenzen für mich hat. Aber schon allein der Gedanke, dass ich an etwas schuld sein könnte, ertragen Menschen nicht – und sie wählen genau dieselben Mechanismen auch heute, die uns Jesus hier in diesem Gleichnis schildert, letztlich auch dieselben Mechanismen, von denen schon Adam und Eva Gebrauch gemacht haben: Immer wieder geht es darum, die Aufmerksamkeit von der eigenen Schuld wegzulenken auf die Schuld der anderen: Ach, wie gut, dass es Zöllner gibt, bei denen man die Schuld so klar und eindeutig festmachen kann! Lasst uns über die Schuld der Zöllner reden, dann ist unsere eigene Schuld nicht mehr so sehr das Thema! Ein großer Teil der politischen Auseinandersetzung nicht nur in unserem Land, sondern in so vielen anderen Ländern dieser Welt ebenfalls besteht genau darin, auf die Schuld der politischen Gegner zu verweisen und damit die Schuldzuweisung an einen selber abzuweisen. Und ganz selbstverständlich gehen auch wir davon aus, dass unsere Schuld dadurch geringer erscheint, wenn wir darauf verweisen können, was wir in unserem Leben alles Gutes getan haben. Wenn man anständig gelebt hat, ordentlich für gute Zwecke gespendet hat und offenkundig ein guter Mensch gewesen ist, dann braucht man sich keine Gedanken für den Fall machen, dass es Gott ja vielleicht doch geben könnte – oder?

Doch nicht nur die Einstellung des Pharisäers finden wir in unserer heutigen Gesellschaft wieder, sondern ebenso auch die Erfahrung und Einstellung des Zöllners – auch wenn dabei von Gott oft nicht mehr die Rede ist. Das erleben wir auch heute, dass Menschen an der Schuld ihres Lebens kaputtgehen, dass man ihnen diese Schuld nicht einfach ausreden oder sie wegtherapieren kann, sondern dass sie merken: Diese Schuld ist real. Das erleben wir auch heute, dass Menschen diese Erfahrung machen, dass sie da in ihrem Leben in einer Sache drinstecken, von der sie eigentlich genau wissen, dass sie nicht gut ist, dass sie eigentlich nicht zu verantworten ist – und dass sie da doch nicht herauskommen, dass sie doch immer weitermachen wie der Zöllner damals auch, weil sie keinen Ausweg sehen. Und dass das nicht gut ist, können sie nicht einfach von sich abschütteln; das belastet sie, auch wenn sie sich deswegen vielleicht nicht als „Sünder“ bezeichnen würden.

Und auf diesem Hintergrund fängt nun tatsächlich die Botschaft unseres christlichen Glaubens noch einmal ganz neu an zu leuchten. Gottes Wort macht uns allen miteinander deutlich: Du brauchst dich in deinem Leben nicht selbst zu rechtfertigen. Du hast es nicht nötig, dass du dich mit anderen vergleichst, um zu zeigen, dass du besser bist als sie. Du hast es nicht nötig, dich anhand der Erfolge in deinem Leben zu definieren, dich immer nur als den Guten und Erfolgreichen überall zu präsentieren. Der Gott, der dein Verhalten bestimmt, selbst wenn du gar nicht mehr an ihn glaubst, ist ein Gott, den du nicht zu beeindrucken brauchst. Der hat sich doch schon längst zu deinen Gunsten entschieden, als er seinen Sohn Jesus Christus für dich hat am Kreuz sterben lassen, als er zu dir Ja gesagt hat, längst bevor du überhaupt damit anfangen konntest, dich mit anderen zu vergleichen oder die Erfolge deines Lebens zu präsentieren. Als Christ weiß ich, dass ich vor Gott nicht deshalb besser dastehe, weil andere schlechter sind. Als Christ weiß ich, dass es nicht von meinen Leistungen abhängt, wie ich am Ende von Gott beurteilt werde. Und als Christ weiß ich, dass ich eben darum auch nicht unter der Last meiner Schuld kaputtgehen muss. Ich weiß, dass ich vor Gott meine Kapitulation erklären kann, ohne dass der mich deswegen fertig macht, ohne dass mir das schadet. Im Gegenteil: Vor Gott kann und darf ich mich ganz ehrlich machen, darf vor ihm so sein, wie ich bin, muss mich nicht verstellen, um mich selber in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.

Nein, natürlich geht es nicht bloß darum, dass Gott für unser Alltagsleben eine therapeutische Funktion hat und wir uns durch ihn besser fühlen. Sowohl der Pharisäer als auch der Zöllner wussten damals gemeinsam genau, dass die Frage nach unserem Verhältnis zu Gott die entscheidende Frage unseres Lebens überhaupt ist, dass an dem Urteil Gottes über unser Leben alles, unsere ganze Zukunft hängt. Das Thema, das Jesus hier anspricht, ist überaus ernst: Wenn du meinst, in deinem Leben ohne Gott auskommen zu können, dann landest du immer wieder auf den Irrwegen des Pharisäers, dann verfehlst du am Ende dein Leben total, musst für immer das erfahren, was du dir selbst in deinem Leben eingebrockt hast: ein Leben in der Trennung von Gott.

Doch die Antwort, die Jesus hier gibt, die ist so radikal befreiend, die lässt uns so sehr aufatmen, dass sie tatsächlich unser Leben zu verändern vermag: Vor Gott zählt nicht ein moralisch hochanständiger Lebenswandel, zählen keine Erfolge beim Einhalten seiner Gebote. Es zählen wirklich nur die ganz leeren Hände, die wir Gott entgegenstrecken und in denen sich nichts, wirklich gar nichts mehr findet, womit wir ihn noch irgendwie beeindrucken können. Gott rechtfertigt den Sünder, jawohl, den wirklichen Sünder, nicht bloß den, der sich im understatement seines eigenen Lebenswandels übt. Mir gefällt an der Geschichte, die Jesus hier erzählt, ein Detail ganz besonders: Jesus sagt: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, jawohl, in seine Zollstation. Jesus erzählt hier nicht die Geschichte von einem Menschen, der sich im Tempel bekehrt und anschließend weitgehend sündlos weiterlebt. Sondern er erzählt hier die Geschichte eines Menschen, der menschlich gesprochen in Schuld verstrickt bleibt und doch mitten in dieser Verstrickung schon den Freispruch Gottes vernehmen darf. Und das gilt eben auch für dich: Gott spricht dich nicht erst dann frei, wenn du dich in deinem Leben gebessert hast, auch nicht erst dann, wenn dein Leben einen bestimmten moralischen Level erreicht hat. Auch du magst in deinem Leben nicht dazu in der Lage sein, dich aus Verstrickungen zu befreien, aus denen du dich eigentlich sogar gerne lösen würdest. Doch davon hängt Gottes Urteil nicht ab. Hauptsache, du machst ihm nichts vor, Hauptsache, du setzt dein Vertrauen nicht auf dich selbst, sondern allein auf seine Gnade, auf seine Vergebung!

Was für eine tröstliche, befreiende Botschaft, mitten in einer Gesellschaft, der mit dem Bezug auf Gott oft genug auch die Gnade und die Vergebung abhandengekommen ist und in der Versagen unbarmherzig verfolgt wird – selbst noch viele Jahre nach dem Tod eines Menschen! Gott geht mit uns anders um. Der spricht nicht dem das ewige Leben zu, der scheinbar alles richtig gemacht hat, sondern der spricht das ewige Leben dem Sünder, dem richtigen Sünder zu. Ja, in Gottes Augen steht der Sünder richtig da, der weiß, dass er nichts wiedergutmachen kann. Diesen Sünder rettet Gott – und eben darum auch dich. Amen.

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