St. Lukas 19,1-10 | 14. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Seit einiger Zeit kann man nicht nur in unserem Land, sondern auch in anderen Ländern einen neuen Volkssport beobachten: Menschen suchen in den abgelegensten Stellen der Vergangenheit anderer Menschen, um bei ihnen irgendetwas zu finden, was in ihrem Leben nicht in Ordnung war. Und wenn man bei diesem Suchen dann fündig wird, dann wird die vermeintliche oder tatsächliche Untat stolz präsentiert und die betreffende Person mit dem, was man da in ihrer Vergangenheit gefunden hat, identifiziert, auch wenn das vielleicht schon viele Jahrzehnte her ist: Seht her, er oder sie hat früher einmal dies gesagt oder gemacht – was für ein böser und furchtbarer Mensch! Keiner hat es gewusst – aber wir haben es herausgefunden! Mit dieser Methode kann man Politiker ebenso zu Fall bringen wie Landesbischöfe, ja, selbst längst verstorbene Persönlichkeiten bleiben von diesem Volkssport nicht verschont: Hat man herausgefunden, dass sie vor vielen Jahren oder Jahrhunderten etwas gesagt haben, was nach unserem heutigen Denken nicht korrekt ist, dann wird schnell die Forderung erhoben, ihren Namen aus der Öffentlichkeit zu tilgen und Denkmäler zu schleifen. So ganz konsequent setzt man diese Methode dann aber lieber doch nicht um, denn sonst man ja längst die Forderung laut werden lassen müssen, Straßen und Gebäude nicht länger nach einem ausgemachten Antisemiten wie Karl Marx zu benennen, oder den Namen eines bekannten Sklavenhalters namens Mohammad aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen.
Ja, es ist erschreckend, wie Menschen sich heutzutage zum Richter über das Leben anderer Menschen aufspielen, wie sie Menschen auf vergangenes Versagen festnageln und dann ihre unbarmherzigen Urteile fällen. In diesem Gericht hat am Ende kaum noch ein Mensch eine Chance, wenn er denn nicht das Glück hat, zum engeren Kreis der selbsternannten Richter zu gehören.
Was für eine ganz andere Geschichte wird uns in der Predigtlesung des heutigen Sonntags erzählt: Ja, auch in dieser Geschichte gibt es einen Bösewicht, den Zachäus. Und bei dem musste man noch nicht einmal lange in seiner Vergangenheit herumwühlen, um festzustellen, wieviel Dreck der am Stecken hatte. Das war allen ganz offen bekannt. Sein Beruf allein reichte schon, um ihn aus der Gesellschaft der Anständigen auszuschließen: Er war nicht nur Zöllner – das wäre schon schlimm genug gewesen, nein, er war Oberzöllner, der oberste Chef dieser Betrüger- und Erpresserbande, die den Leuten in der Stadt das Leben so schwer machte. Das Urteil über ihn hatten die Leute längst gesprochen – und zwar in durchaus robuster Form: Sie wendeten ihm den Rücken zu, ließen ihn auch an dem Tag nicht durch, als Jesus mit seinen Jüngern durch die Stadt Jericho zog. Und da der Zachäus von kleiner Statur war, ließ man ihm keine Chance, irgendwie in die erste Reihe zu kommen, um Jesus persönlich sehen zu können. So manch einem wird das wohl auch ein inneres Missionsfest gewesen sein, sich dem Zachäus in den Weg zu stellen und ihm damit zu zeigen, was man von ihm hielt.
Doch Zachäus gibt nicht auf: Er überlegt sich, welche Route Jesus auf seinem Weg durch Jericho wohl nehmen wird, und sucht sich dann einen Aussichtspunkt aus, von dem aus er Jesus gut sehen konnte, ohne selber gesehen zu werden. Ein Maulbeerfeigenbaum am Straßenrand – das war die beste Lösung. Dass ein Mann, der auf seinen gesellschaftlichen Ruf bedacht war, niemals auf einen Baum klettern würde, weil man sich damit nach damaliger Vorstellung unsterblich lächerlich machen würde, ist Zachäus egal: Sein Wunsch, diesen Jesus einmal aus der Nähe sehen zu können, ist stärker. Und dort oben auf dem Baum konnte er selber zugleich von niemand gesehen werden, davon war er überzeugt.
Doch dann passiert, womit der Zachäus selber überhaupt nicht gerechnet hatte: Jawohl, er hat da einen wunderbaren Blick auf Jesus, als der schließlich unten auf der Straße durch Jericho zieht. Doch Zachäus wollte natürlich eigentlich nur Zuschauer bleiben, wollte sich Jesus von da oben angucken, mehr nicht. Aber dann bleibt Jesus stehen – und blickt nach oben, schaut auf den Zachäus, der da oben im Baum hängt. Und während der Zachäus noch kaum realisiert hat, dass Jesus ihn da oben im Baum entdeckt hat, hört er schon, wie Jesus ihn ganz direkt anspricht: „Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren!“
Wenn wir diese Worte hören, klingen sie zunächst einmal so schön und nett: Der kleine pfiffige und zugleich so einsame Zachäus, der da oben im Baum sitzt und vor freudigem Schreck dann fast von dort unten runterpurzelt, als Jesus sich da bei ihm anmeldet. Da muss sich doch jeder mitfreuen, oder? Doch in Wirklichkeit war diese Aufforderung Jesu natürlich eine Riesen-Provokation. Er lädt sich da ja nicht bei einem einsamen armen Menschen ein, dem die böse Gesellschaft übel mitgespielt hat. Sondern er lädt sich bei einem Menschen ein, über den die Gesellschaft mit guten Gründen geurteilt hat, dass man mit diesem Menschen besser nichts zu tun haben sollte. Ich bringe mal einen etwas gewagten Vergleich: Das ist so ähnlich, als wenn sich heute Jesus bei einem führenden AfD-Politiker zum gemeinsamen Essen einladen würde. Wir wissen: Da würde heute schon ein Foto von diesem gemeinsamen Essen reichen – und die Karriere von Jesus wäre endgültig beendet. Es gibt Leute, mit denen darf man auf keinen Fall sich zusammen sehen lassen, geschweige denn mit ihnen essen, weil man sonst nur zu leicht den Eindruck erweckt, man würde mit diesen Leuten gemeinsame Sache machen. Das war damals auch schon so: Jesus lädt sich bei einem Menschen ein, der als verstockter Sünder, als vollkommen unrein galt. Wenn Jesus mit dem Menschen zusammen aß, dann machte er sich nach Auffassung der damaligen Zeit auch selber vollkommen unrein, konnte eigentlich von keinem Menschen, der noch ein wenig was von Religion hielt, anschließend noch einmal eingeladen werden.
Doch Jesus ist das offenkundig egal, was die anderen Leute über Zachäus denken – und ihm ist auch egal, was die Leute daraufhin über ihn denken. Dass sie sich über ihn aufregen würden, das war ihm klar. Doch ihm geht es nur um eins, so macht er es anschließend in seiner Erklärung deutlich: Sein Auftrag ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Sein Auftrag ist nicht, Menschen aufgrund ihrer Vergangenheit, aufgrund ihres Handelns zu verdammen, sondern ihnen die Möglichkeit zur Umkehr zu geben. Und die Möglichkeit zur Umkehr bekommt der Zachäus, bekommen auch ansonsten Menschen nicht dadurch, dass man sie einfach irgendwo in eine Schublade steckt, aus der sie nicht mehr herauskommen, sondern diese Möglichkeit der Umkehr bekommt der Zachäus ganz einfach dadurch, dass sich Jesus gemeinsam mit ihm an einen Tisch setzt.
Es fällt ja auf, dass Jesus bei seinem Besuch bei Zachäus ihm keinerlei Vorträge darüber hält, wie er künftig anders leben soll. Nein, Jesus solidarisiert sich nicht in der Weise mit Zachäus, dass er das eigentlich für ganz okay hält, was Zachäus da gemacht hat. Er nennt ihn einen Verlorenen, nicht einen, der im Grunde genommen ganz in Ordnung ist. Aber indem er zu diesem Menschen nicht auf Abstand bleibt, sondern mit ihm gemeinsam das Mahl hält, verändert er den Zachäus, verändert ihn so sehr, dass Zachäus von sich aus sein Leben ändert, anfängt, sehr großzügig zu teilen und vollzogenen Betrug wieder in Ordnung zu bringen. „Heil widerfährt“ dem Haus des Zachäus, nicht dadurch, dass Zachäus gute Vorsätze fasst, sich zu bessern, sondern schlicht und einfach dadurch, dass Jesus zu ihm kommt, dass er mit ihm das Mahl hält.
Und genauso geht Jesus eben auch mit uns um: Er hält uns keine Moralpredigten, wie wir in Zukunft besser verhalten sollen, und erst recht macht er um uns keinen großen Bogen, weil wir ja seinen moralischen Ansprüchen nun wirklich in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht gerecht werden. Sondern er blickt auch uns an, zeigt, dass er genau weiß, was in unserem Leben los ist, selbst wenn wir das vielleicht etwas besser verbergen können als der Zachäus seine unmoralische Tätigkeit damals. Jesus blickt uns an – und sagt auch zu uns diesen einen Satz: „Ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ Ich will zu dir kommen – nicht erst, wenn du dich gebessert hast, sondern hier und jetzt, will mich mit deiner Sünde und Schuld dreckig machen, ja, mehr noch: Ich will sie dir ganz und gar abnehmen, wenn ich gemeinsam mit dir das Mahl halte. Um nicht weniger geht es ja beim Heiligen Mahl: Jesus lädt sich in unser Leben ein, kommt so dicht an uns heran, dass er mit seinem Leib und Blut in uns, jawohl in uns Wohnung nimmt. Und damit verändert er uns, verändert uns so, dass wir unser Leben noch einmal mit anderen Augen sehen, dass wir nicht einfach weitermachen können wie bisher. So sucht Jesus uns, so findet er uns, so macht er uns selig.
Und damit leitet Jesus uns zugleich dazu an, das Leben anderer Menschen anders zu beurteilen, als wie es heute immer mehr üblich wird: Er leitet uns dazu an, Menschen eben nicht auf das festzunageln, was in ihrer Vergangenheit einmal gewesen sein mag, ja noch nicht einmal auf das, was sie jetzt im Augenblick tun. Jesus leitet uns dazu an, das Leben von Menschen so anzuschauen, wie es durch die Begegnung mit ihm, Jesus, anders werden kann. Durch die Sünde und Schuld in unserer Vergangenheit sind wir nicht endgültig festgelegt. Jesus kann Schuld vergeben, kann Versagen wegnehmen, kann Menschen in der Tat zu neuen Menschen machen. Ja, er leitet uns vor allem dazu an, zwischen den Menschen und ihrem Tun zu unterscheiden. Genau diese Unterscheidung vollzieht ja Gott in jedem Gottesdienst bei uns, in dem er nicht einfach Verständnis äußert für alles, was wir tun, sondern Sünde vergibt, dass er Nein zur Sünde und zugleich Ja zu uns sagt.
Wer das an sich selber erfahren hat, der wird barmherzig mit der Vergangenheit anderer Menschen umgehen, der wird nicht triumphieren, wenn er bei ihnen dunkle Punkte in ihrer Biographie findet. Ja, der wird erst recht nicht sich anmaßen, Richter über das Leben anderer Menschen zu spielen und zu entscheiden, welches Leben denn nun als Vorbild taugt und welches nicht. Vorbild ist Zachäus eben auch für uns – nicht wegen seiner kriminellen beruflichen Machenschaften. Sondern Vorbild ist er darin für uns, wie er da voller Freude vom Baum runterkommt und Jesus bei sich aufnimmt. Ja, jede Woche sagt es Jesus zu uns ganz persönlich: „Heute muss ich in deinem Haus einkehren!“ Und dann geb’s Gott, dass wir nicht ganz gemütlich oben auf dem Baum sitzen bleiben, dass wir nicht alle möglichen Ausreden zusammentragen, warum es uns jetzt gerade nicht passt, Jesus in die Wohnung unseres Lebens zu lassen. Nein, lernen wir es von Zachäus, immer wieder neu Jesus mit Freuden bei uns aufzunehmen, seiner Selbsteinladung zu folgen hier am Altar! Jesus will uns hier verändern, dass wir andere Menschen noch einmal mit anderen Augen sehen, dass wir nicht länger richten und verdammen. Es gibt wohl kaum etwas, was unsere Gesellschaft heutzutage mehr braucht als eben dies! Amen.