St. Lukas 19,37-40 | Kantate | Pfr. Dr. Martens

Da versammelt sich eine Gemeinde in großer Schar, um miteinander Jesus zu loben. Fröhlich und lautstark singen sie miteinander, preisen ihren König Jesus Christus, preisen sie ihn für all das, was er getan hat. Was kann es eigentlich Schöneres geben als solch ein gemeinsames Singen? Doch da treten mit einem Mal Vertreter des Ordnungsamtes auf: Sie verweisen darauf, wie gefährlich dieses Singen ist: Es kann jede Menge Menschenleben kosten, wenn dieses Singen nicht sofort beendet wird, wenn die Sängerinnen und Sänger nicht sofort verstummen. Denn wenn das die römischen Besatzer mitbekommen, dass Jesus von einer großen Menge als König gefeiert wird, dann werden sie einschreiten und möglicherweise ein Blutbad anrichten. Es muss schnellstens ein Gesangsverbot für die Versammlung der Jünger Jesu erlassen werden, bevor es zu spät ist!

Beklemmend aktuell sind die Worte der Predigtlesung des heutigen Sonntags Kantate im Jahr 2021, fast 2000 Jahre, nachdem damals schon einmal der Gesang der Jünger Jesu zum Schweigen gebracht werden sollte. Kantate! Der Name des heutigen Sonntags ist eine Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit, die mit hohen Geldstrafen belegt werden kann: Kantate! Singet! Lobt Gott in euren Versammlungen! Das ist streng verboten, ja auch hier in Berlin, nun schon fünf Monate lang. Verboten ist es, weil es gefährlich ist, weil es Menschenleben gefährdet. Das Gotteslob muss verstummen, um der Menschen willen!

Schwestern und Brüder, es reizt einen natürlich, nun die Parallelen weiterzuziehen und nun eine flammende Rede zu halten, dass es Christenpflicht ist, den staatlich verordneten Gesangsverboten zu widerstehen und auch weiter zur Ehre unseres Herrn und Königs zu singen, erst recht an diesem Sonntag Kantate. Doch ganz so einfach ist das alles ja nun nicht. Wir schweigen in der Tat in unseren Gottesdiensten, auch an diesem Kantate-Sonntag, singen schweren Herzens nicht, weil wir tatsächlich keine Menschenleben gefährden wollen. Und während wir uns an diesem Sonntag in der Kirche versammeln, weiß ich von mindestens zehn Gemeindegliedern, die zurzeit gerade mit einer Covid-Infektion darniederliegen – und nicht wenigen von ihnen geht es wirklich nicht gut. Und wohl noch mehr Glieder unserer Gemeinde würden heute gerne am Gottesdienst teilnehmen, können es aber nicht, weil sie sich gerade in Quarantäne befinden. Ja, wir können und wollen da wirklich nichts verharmlosen – und so erklingen die Gesänge in unseren sieben Kantate-Gottesdiensten, die wir heute in unserer Kirche halten wollen, auch garantiert aerosolfrei aus unseren Lautsprechern.

Und doch leitet uns die Predigtlesung dieses heutigen Sonntags dazu an, noch einmal neu darüber nachzudenken, welche Bedeutung denn das Singen eigentlich auch für uns, ja ganz konkret für den christlichen Glauben hat. Ja, nachdenken sollen wir, damit wir uns ja nie und nimmer an diesen Zustand gewöhnen, in dem wir uns im Augenblick befinden.

Dass die Menge der Jünger bei dem Einzug Jesu in Jerusalem damals anfing, Gott mit lauter Stimme zu loben und zu singen, war ja nicht eine spontane verrückte Idee, die sie damals überkommen hatte. Sondern zu singen, Gott zu loben, das war ein fester, selbstverständlicher Bestandteil auch des jüdischen Glaubens. Zur jüdischen Bibel, unserem Alten Testament, zählte eben immer auch das Buch der Psalmen, ein Gesangbuch, aus dem die Menge der Jünger nun auch gleich einen Liedvers zitiert: „Gelobt sei der da kommt!“ Nein, so etwas kann man nicht einfach nur sprechen, das muss man singen. Sprechen kann man auch nur mit dem Kopf, Singen erfasst den ganzen Körper – und es erfasst zugleich auch die Seele. Es geht gar nicht anders; man kann nicht singen und zugleich seine Emotionen blocken. Forscher haben herausgefunden, dass beim Singen der Bereich im Gehirn blockiert wird, der Angst auslöst. Wenn ich singe, kann ich nicht gleichzeitig Angst haben. Es geht nur eins von beiden. Und so singen Christen ganz selbstverständlich, singen im Gottesdienst, um Gott zu loben, singen selbst und gerade noch im Angesicht des Todes.

Dass Singen ganz elementarer Ausdruck unseres christlichen Glaubens ist, ist mir noch einmal neu in der Arbeit mit unseren Gemeindegliedern aus dem muslimischen Kulturkreis deutlich geworden. Das gehört mit zu den Dingen, die sie an unserem christlichen Glauben in besonderer Weise faszinieren: Dass bei uns gesungen wird, dass das Singen nicht als etwas Sündhaftes angesehen wird, sondern im Gegenteil in besonderer Weise zum Ausdruck bringt, worum es in unserem christlichen Glauben geht. Im Iran kennt man religiöse Gesänge höchstens als Trauergesänge, die bei Gedenktagen des Todes von irgendwelchen Imamen angestimmt werden. Aber ansonsten wird in Moscheegottesdiensten nicht gesungen. Vor ein paar Jahren machte hier in Berlin kurz vor Weihnachten einmal ein offenkundig strohdoofer Journalist den Vorschlag, man könne doch im Zeitalter der religiösen Toleranz einfach mal Gesänge zwischen den Religionen austauschen: Die Christen könnten doch mal ein paar muslimische Lieder singen, und dafür könnten die Muslime in den Moscheen mal ein paar christliche Weihnachtslieder singen. Abgesehen von der inhaltlichen Fragwürdigkeit dieses Vorschlags hatte dieser Mensch offenbar überhaupt keine Ahnung davon, wie typisch christlich das Singen im Gottesdienst eigentlich ist. Ja, wir singen, weil wir Grund zur Freude haben, weil Christus uns mit seinem Kommen die Angst nimmt, ja auch und gerade in diesen Corona-Zeiten.

Singen hat zugleich auch immer etwas zu tun mit Gemeinschaft. Ja, natürlich kann ich auch alleine bei mir in der Badewanne singen. Aber wir merken es doch bis ins Körperliche hinein, dass es noch einmal etwas ganz anderes ist, wenn ich mit vielen Menschen zugleich singe, wenn mein eigener Gesang getragen wird von den Schwingungen, die die Menschen um mich herum mit ihren Gesängen auslösen. Auch das macht wieder deutlich, warum wir als Christen unsere Gottesdienste in der Kirche nicht durch Online-Gottesdienste ersetzen können. Gottesdienst hat in vielfacher Weise etwas mit der Erfahrung von Leiblichkeit zu tun: Dass wir leiblich die heiligen Sakramente empfangen und auch leiblich mit unseren Gesängen erfahren, was es heißt, in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi zu leben. Das lässt sich nie und nimmer digital ersetzen.

Die Menge der Jünger Jesu fing damals an zu singen, als Jesus sich ihnen näherte. Ja, auch unser Singen wird immer wieder dadurch veranlasst, dass wir erleben, dass Jesus zu uns kommt. Darum begrüßen wir ihn mit unseren Gesängen am Beginn des Gottesdienstes – wenn wir denn nicht durch äußere Umstände gezwungen sind, unsere Gesänge zu kürzen. Und darum singen wir gerade bei der Feier des Heiligen Mahles so viel, weil wir dort in besonderer Weise den Einzug unseres Herrn Jesus Christus miterleben, wenn er auf dem Esel von Brot und Wein zu uns geritten kommt und als König seinen Thron in uns errichtet.

„Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ – So sangen die Menschen damals beim Einzug Jesu in Jerusalem. Sie wussten etwas davon: Hier auf Erden geht es oft so friedlos zu. Aber es gibt einen Bereich, der allem Unfrieden dieser Welt entnommen ist, einen Bereich, in dem gleichermaßen vollkommener Friede herrscht und in dem das Gotteslob durch nichts und niemanden eingeschränkt oder zum Schweigen gebracht werden kann. Und wenn wir uns hier zum Gottesdienst versammeln, dann wird dieser Bereich, wird dieser Himmel mit unseren Corona-Gottesdiensten eins, dann singen die Engel und alle Heiligen aus voller Kehle, während wir unsere Gesänge hinter unserer FFP2-Maske höchstens ganz leise von uns geben können. Ja, vergessen wir es nicht: Es wird in jedem Gottesdienst bei uns gesungen, denn es herrscht Friede im Himmel und Ehre in der Höhe!

Wenn wir über Singen und Schweigen im Gottesdienst nachdenken, sollten wir schließlich aber auch nicht die Worte unseres Herrn zu diesem Thema vergessen: „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Was ist mit diesen schreienden Steinen gemeint? Zum einen ist dies natürlich auch im Sinne einer übertreibenden Redeweise zu verstehen: Nichts und niemand kann das Lob Gottes, kann das Lob unseres Herrn Jesus Christus zum Verstummen bringen. Selbst wenn man die Jünger Jesu zum Schweigen bringt, wird sich die Botschaft von Jesus Christus Bahn brechen auf allen möglichen Wegen. Ich denke an die Christen im Iran und Afghanistan: In ihren Ländern wird alles dafür getan, dass sie zum Verstummen gebracht werden – und doch breitet sich die Christusbotschaft unter den Menschen im Iran und in Afghanistan in einer Geschwindigkeit aus, dass wir nur staunen können. Nichts und niemand, erst recht keine staatlichen Gesetze, können das Evangelium aufhalten, können verhindern, dass Menschen eben doch wieder anfangen, Christus, ihrem Herrn und König, zu singen.

Doch zum anderen sind die Worte Jesu natürlich auch eine Ankündigung der baldigen Zerstörung Jerusalems: Wo Christus nicht mehr verkündigt und mit unseren Gesängen gelobt wird, da vollzieht sich bald das Strafgericht Gottes, da bleibt oft sehr schnell kaum noch etwas von dem übrig, was doch für immer Bestand zu haben schien. Das gilt nicht nur für die Stadt Jerusalem damals, das gilt in gleicher Weise auch für die Kirchen heute, gerade auch hier in unserem Land: Wo das Christuslob verstummt, wo Kirchen sich von staatlichen Stellen auf die Dauer vorschreiben lassen, was sie sagen und tun dürfen und was nicht, da machen sie sich selber überflüssig, da sind sie dann bald nicht mehr bloß nicht systemrelevant, da wird dann am Ende nicht mehr viel von ihnen übrigbleiben. Wir erleben es jetzt schon in erschütternder Weise in unserem Land, wie die Kirchen immer mehr ihrer Kirchengebäude verkaufen, wie Kirchen abgerissen werden oder einfach nur noch leer stehen. Ja, auch und gerade so schreien die Steine der Kirchgebäude, schreien uns in Erinnerung, was passiert, wenn Kirchen ihren Auftrag nicht mehr wahrnehmen, wenn sie sich so sehr anpassen in dem, was sie sagen und tun, dass sie am Ende gar nicht mehr gehört werden, nur noch überflüssig erscheinen. Eben darum haben wir als Gemeinde hier in Steglitz auch niemals angefangen, freiwillig auf Gottesdienste zu verzichten, wenn es denn möglich war, haben damit auch ein Zeichen gesetzt, dass wir niemals aus Angst darauf verzichten dürfen, den Einzug unseres Herrn in unserer Mitte zu feiern. Seit Jesus auferstanden ist, kann und darf das Lob des Herrn niemals mehr ganz verstummen, bis zu dem Tag, an dem er einmal sichtbar bei uns seinen Einzug halten wird. Und dann – dann werden wir tatsächlich nie mehr aufhören zu singen: in alle Ewigkeit! Amen.

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