St. Lukas 21,28 | Zweiter Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens

Da sitze ich in der Nacht zum Samstag an der Predigt für den heutigen Sonntag. Hinter mir liegt ein Tag mit vier Hausabendmahlsfeiern bei älteren Gemeindegliedern, die allesamt schon mehr oder weniger wacklige Knie haben – so wacklig jedenfalls, dass sie es einfach nicht mehr bis hierher zur Kirche schaffen. Dann komme ich abends nach Hause und erhalte dort die Nachricht, dass unser Bruder Mehrdad Alizadeh Vandchali, für den wir am vergangenen Mittwoch noch hier im Gottesdienst gebetet hatten, im Alter von 49 Jahren im Krankenhaus verstorben ist. Also fahre ich los in den Wedding, um die Aussegnung dort im Krankenhaus vorzunehmen. Und dort sehe ich am Sterbebett viele Menschen, denen dieser Schicksalsschlag gleichsam den Boden unter den Füßen weggerissen hat, dass sie sich gar nicht mehr auf den Beinen halten können. Mit weichen Knien halte ich auch selber die Aussegnung und fahre dann schließlich wieder zurück, schaue mir die Papiere an, die ich in meinem Besprechungszimmer vorgefunden hatte. Wieder ein Abschiebebescheid des Bundesamtes für eine aktive Familie aus unserer Gemeinde, wieder dieselbe irrsinnige Argumentation, dass der Entscheider keine genügend enge persönliche Gottesbindung bei unseren Gemeindegliedern feststellen konnte und dass er nicht davon ausgeht, dass die Familie in Afghanistan öffentliche christliche Gottesdienste besuchen würde. Dass es in Afghanistan überhaupt keine öffentlichen christlichen Gottesdienste gibt, die die Familie besuchen könnte, hat sich bis ins BAMF offenbar noch nicht herumgesprochen. Ja, da wird wieder Gliedern unserer Gemeinde gleichsam der Boden unter ihren Füßen weggezogen, fällt es schwer, noch aufrecht stehen zu bleiben, wenn man immer und immer wieder solche Erfahrungen mit unserem Unrechtsstaat machen muss.

Und da soll ich nun heute über die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja predigen: „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!“ Ja, wie soll ich das denn bloß hinbekommen: Müde Hände zu stärken und wankende Knie zu festigen, wenn ich die eigenen Hände kaum noch hochbekomme, wenn die eigenen Knie wie Pudding erscheinen?

Immerhin: Die Erfahrung, die ja nicht nur ich am Freitag gemacht habe, sondern die so viele von euch in ihrem eigenen Leben immer und immer wieder machen, ist offenbar so neu und ungewöhnlich nicht. Müde Hände, wankende Knie – die gab es damals im Alten Testament auch schon. Und nun lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Der Prophet betätigt sich hier nicht als der große Motivator oder gar als Wunderheiler, er traut sich nicht zu, mit den entsprechenden Sprüchen oder Versprechungen den müden Haufen wieder in Schwung zu bringen. Sondern er lenkt den Blick seiner müden und wackligen Zuhörer auf Gott allein, auf das, was Gott zu tun vermag, ja, mehr noch: was er gewiss tun wird: Gott kommt und wird euch helfen!

Ja, was für eine Entlastung: Der Prophet fordert seine Zuhörer, fordert auch uns hier nicht dazu auf, uns einfach zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen und stark zu bleiben. Und er traut es auch keinem Propheten oder Pastor zu, dass er wacklige Knie fest und müde Hände wieder taufrisch macht. Sondern dass wir unsere Hände nicht endgültig sinken lassen müssen, dass wir nicht einfach nur in uns zusammensacken müssen, das liegt einzig und allein daran, dass Gott selber sein Kommen, sein Eingreifen ankündigt. Und wenn Gott eingreift, dann wird alles anders werden.

Wenn Gott kommt, dann wird er zunächst einmal vergelten, so kündigt es der Prophet an. Gott wird Unrecht nicht für immer bestehen lassen; ja, er wird die, die für Unrecht verantwortlich waren, zur Rechenschaft ziehen. Nicht wir sollen Vergeltung üben, sondern wir sollen uns von dem Unrecht, das wir in dieser Welt erfahren, eben darum nicht in die Knie zwingen lassen, weil wir wissen, dass Gott selber kommen und vergelten wird, dass er feige Politiker und zynische Entscheider, die unsere Geschwister in den Tod schicken wollten, zur Rechenschaft ziehen wird. Nein, das Unrecht, das wir tagtäglich hier in unserem Land erfahren, das uns kaputt zu machen droht, wird nicht für immer Bestand haben. Siehe, Gott, der da vergilt, er kommt und wird euch helfen!

Wenn Gott kommt, dann wird die Wüstenzeit, in der wir uns zurzeit befinden, ihr Ende haben, dann werden wir aufatmen können, erfrischt werden. Ja, mehr noch: Dann wird Gott selber uns den Weg bahnen zu dem Ziel unseres Lebens, zum neuen Jerusalem, in dem wir einmal für immer zu Hause sein werden. Ja, hört es euch an, ihr, mit euren schwachen und kaputten Knochen, ihr, die ihr die Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten, denen ihr hier in diesem Land ausgesetzt seid, einfach nicht mehr ertragen könnt, hört es euch an, ihr, die ihr von der Übermacht des Todes zu Boden gedrückt werdet und gar nicht wisst, wie ihr von dort noch einmal hochkommen sollt! Hört es euch an, ihr, denen hier in diesem Leben alles Lachen vergangen ist, vor deren Augen sich scheinbar alle Wege in die Zukunft verschließen: „Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“ Ja, hört es euch an, was euch am Ziel dieses Weges erwartet: Nur noch Freude ohne Ende, ohne Einschränkung, ohne Rücknahmemöglichkeit. Kein Schmerz, kein Seufzen, keine Trauer. Nein, all das ist kein schöner Wunsch, sondern das wird einmal so sein, weil Gott kommt, weil er tun wird, was wir mit unseren Bemühungen niemals erreichen könnten.

Gott kommt – diese Aussicht lässt uns aufatmen, bewahrt uns davor, aufzugeben und zu verzweifeln, lässt uns weiter kämpfen für Gerechtigkeit für die, die sich selber nicht zu verteidigen vermögen. Und doch scheint diese Aussicht für uns oft immer noch viel zu weit weg zu sein, scheint uns in unserem Alltag mit unseren müden Händen und unseren Wackelpudding-Knien so wenig weiterzuhelfen. Gibt es denn da nicht irgendwelche Zwischenschritte zwischen den müden Händen und den wankenden Knien und der ewigen Freude, die uns Jesaja hier am Ziel unseres Weges vor Augen stellt?

Doch, diese Zwischenschritte gibt es: Wir werden davon im Heiligen Evangelium des kommenden Sonntags hören, in dem Johannes der Täufer Jesus fragt, ob er der ist, auf den die Leute gewartet haben. Und Jesus antwortet beinahe wörtlich mit den Worten aus Jesaja 35. Schau her: Ich bin gekommen, um zu zeigen, dass Gott Wort hält, dass tatsächlich geschehen wird, was er angekündigt hat. Ja, in Jesus Christus können wir erkennen, dass Jesaja hier nicht einfach nur schöne menschliche Wünsche verkündigt, sondern dass Gott tatsächlich kommt, dass er sich tatsächlich einmischt in diese Welt, dass er nicht alles beim Alten lässt. Ja, in Jesus können wir erkennen, dass Gott tatsächlich vergilt – aber so, dass er selber in seinem Sohn die Strafe für unser Versagen auf sich nimmt und wegträgt am Kreuz.

Gott kommt, er ist in Jesus Christus zu uns gekommen – das ist das eine, was wir in dieser Adventszeit feiern. Aber wir feiern in dieser Zeit eben auch, dass Gott auch hier und jetzt zu uns kommt, dass auch wir sein Kommen und Eingreifen in diese Welt erfahren und erleben dürfen. Gott kommt – er ist heute Morgen in der Heiligen Taufe zu der kleinen Melodie gekommen und hat sie auf den heiligen Weg zum ewigen Leben gestellt, der doch kein anderer ist als er, Jesus Christus, selber. Gott kommt – wir werden es gleich wieder erfahren und auf unsere müden Knie sinken, wenn der König aller Königreiche Einzug hält mit seinem Leib und Blut im Heiligen Mahl. Und wir werden es erfahren, wie das Kommen dieses Königs uns schon hier und jetzt aufleben lässt, unseren Blick weitet und nach vorne richtet, ja, in der Tat unsere müden Hände stärkt und unsere wankenden Knie fest macht. So habe ich es am Freitag wieder bei den Hausabendmahlen erlebt, und so erlebe ich es auch hier immer wieder in unserer Gemeinde, wie Menschen, die angesichts dessen, was ihnen in diesem Land angetan wird, eigentlich verzweifeln müssten, aufgerichtet, gestärkt, getröstet werden durch die Gabe des Leibes und Blutes ihres Herrn. Ja, so dürfen wir es immer wieder miteinander erleben: Diese Gabe unseres Herrn gibt uns tatsächlich schon Anteil an dem neuen Leben, in dem es einmal endgültig keine Trauer, keinen Schmerz und keine Sorge mehr geben wird. Diese Gabe unseres Herrn, die rückt uns auf dem heiligen Weg schon ganz dicht ans Ziel heran, gibt uns schon einen Vorgeschmack dessen, was einmal sein wird. Und dann gehen wir aus diesem Gottesdienst wieder in unseren Alltag zurück, mit unseren kaputten Knochen, mit unseren bedrückten Seelen, mit dem Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen. Wir sind noch nicht am Ziel. Wir warten noch auf Gottes großes Kommen. Und doch gehen wir schon jetzt anders aus diesem Gottesdienst heraus, als wir hereingekommen sind – als Menschen, die Gottes Kommen doch schon erleben durften, als Menschen, die auf ihrer Wüstenwanderung Rast machen durften in einer Oase, in der das Wasser des Lebens sprudelte, als Menschen, die wieder neu erfahren durften, wohin ihr Lebensweg führt, als Menschen, die erfahren durften, dass der heilige Weg selbst durch die scheinbar undurchdringliche Wand des Todes hindurchführt. Ja, sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Seht, da ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Kommt, denn es ist alles bereit! Amen.

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