St. Lukas 2,41-52 | Zweiter Sonntag nach Weihnachten Pfr. Dr. Gottfried Martens
Vor einigen Jahren gingen wir mit den Kindern der Kinderbibelwoche in Oranienburg im Spaßbad schwimmen. Es war ein großer Trupp, und ich war erleichtert, als wir mit der großen Kinderschar endlich wieder draußen vor der Tür in der warmen Sommersonne standen. Einmal noch Zweierreihen bilden und durchzählen vor dem Abmarsch zur S-Bahn. Doch halt: Irgendwie stimmt da etwas nicht. Einer scheint zu fehlen. Ich zähle noch einmal durch, bitte die Betreuer, darauf zu achten, dass kein Kind durch die Gegend läuft. Doch es bleibt dabei: Ein Kind fehlt – ein Nichtschwimmer, wie sich schnell herausstellt. Panisch stürze ich wieder ins Schwimmbad, laufe überall herum – und finde den Jungen schließlich selig plantschend draußen im Strömungskanal. Mir bleibt fast das Herz stehen: Die ganze Zeit hatte ich dem Jungen verboten, als Nichtschwimmer in den Strömungskanal zu gehen. Aber als wir nun die Kinder alle in die Umkleidekabinen trieben, nutzte er seine Chance, um sich endlich unbeobachtet vom Wasser im Kreis drehen zu lassen. Nach Schimpfen war mir nicht mehr zumute – zu erleichtert war ich, ihn unversehrt aus dem Wasser ziehen zu können.
Schwestern und Brüder: Vielen von euch mögen solche und ähnliche Geschichten eingefallen sein, als sie eben die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel gehört haben, Geschichten von verlorenen Kindern in Schwimmbädern und Kaufhäusern, Geschichten von Heranwachsenden, die ihre eigenen Wege gehen und nicht mehr einfach bei Mama auf der Couch sitzen wollen, Geschichten vom Sorgen und vom Loslassen von Kindern, wenn sie größer werden.
Ja, eine ganz besondere Geschichte wird uns hier vom heiligen Lukas im Evangelium des heutigen Tages erzählt: Es ist die einzige Geschichte von Jesus in der Zeit zwischen seinen ersten Lebensmonaten und seiner Taufe durch Johannes den Täufer. Spätere fantasiebegabte Schriftsteller haben versucht, diese Lücke auszufüllen, haben sich rührende Wundergeschichten aus der Kindheit Jesu ausgedacht, dass er zum Beispiel als Kind Vögel aus Lehm geformt habe und dann in sie hineingeblasen habe, worauf sie lebendig geworden und weggeflogen seien. Diese Fantasiegeschichte hat dann schließlich sogar ihren Weg bis in den Koran gefunden. Doch in der heiligen Schrift wird bemerkenswert nüchtern über das Heranwachsen Jesu gesprochen. Kein einziges Wunder wird von dem heranwachsenden Jesus überliefert, nur diese eine Geschichte, wie der frühpubertäre Jesus Maria und Josef mit seinem Verhalten an den Rand eines Herzinfarkts bringt.
Ja, Jesus ist ein wirklicher Mensch, mit einer wirklichen Kindheit, mit einer wirklichen Jugend, so können wir es hier lesen und erkennen – und doch blitzt in dieser Geschichte zugleich etwas davon auf, dass er eben doch unendlich mehr ist als ein bloßer Mensch, dass Josef eben gerade nicht sein Vater ist, sondern sein Vater ganz woanders zu finden ist: im Haus Gottes.
Und dennoch ist in dieser Geschichte nicht allein von Jesus die Rede, sondern auch sehr ausführlich von Maria und Josef, von ihrem Handeln, von ihren Sorgen, und so wollen wir diese Erzählung zum Anlass nehmen, um darüber nachzudenken, wie auch heute Erziehung im christlichen Glauben aussehen kann – Erziehung von Kindern, die nicht schon von Ewigkeit her Gottes Söhne sind und die doch auch in der Taufe zu Gottes Kindern geworden sind.
Wie erziehen Maria und Josef ihren Sohn im Glauben? Ganz einfach, so lesen wir es hier: Sie nehmen ihn mit, nehmen ihn dorthin mit, wo Israel seine Feste feiert, lassen ihn erleben, dass es im Glauben nicht bloß um irgendwelches theoretische Wissen geht, sondern um das fröhliche Feiern der Heilstaten Gottes. Und das bedeutet zugleich: Glauben wird in der Gemeinschaft gelebt und gefeiert. Maria und Josef ziehen mit Jesus nach Jerusalem, und wir können uns lebhaft vorstellen, dass Jesus an beidem seine besondere Freude gehabt haben wird: an dem eindrucksvollen Tempel in Jerusalem und an der gemeinsamen Reise mit seinen gleichaltrigen Freunden.
Genauso sieht christliche Erziehung auch heute aus: nicht so, dass Kinder zum Glauben geprügelt oder anderweitig gezwungen werden, sondern so, dass Eltern ihre Kinder einfach mitnehmen, ihnen damit vorleben, was ihnen selber wichtig ist, dass es auch für die Kinder ganz selbstverständlich wird, die Feste im Hause Gottes mitzufeiern. Und dabei erleben sie dann, wie schön es ist, mit anderen Gleichaltrigen zusammen zu sein, ja, im Alter von Jesus dann auch gemeinsam mit ihnen Reisen zu unternehmen. Da hat sich in den letzten 2000 Jahren gar nicht so viel verändert, wenn ich mir unsere Kinder und Konfirmanden so anschaue.
Maria und Josef scheinen hier ja erst mal ziemlich locker drauf zu sein. Sie bestehen nicht darauf, dass ihr zwölfjähriger Sohn die ganze Zeit in Sichtweite zu ihnen, vielleicht gar Seite an Seite an ihrer Hand bleibt, sondern sie vertrauen darauf, dass er schon irgendwo mit seinen Kameraden sein wird, die sich schließlich auf den Rückweg vom Passahfest begeben. Doch als Maria und Josef dann merken, dass ihr Sohn gar nicht mitgekommen ist, reagieren sie dann doch, wie Eltern eben in solchen Situationen zu reagieren pflegen: Sie geraten in Panik, marschieren auf dem schnellsten Weg zurück nach Jerusalem, durchkämmen drei Tage die Stadt und sind schließlich nur noch erleichtert, als sie ihren Sohn schließlich dort finden, wo sie ihn am wenigsten vermutet hatten: ausgerechnet im Tempel.
Loslassen und doch Sorge tragen um Kinder – wer selber Kinder erzogen hat, weiß nur allzu gut um dieses Spannungsfeld, weiß, dass er nicht die ganze Zeit auf die Kinder aufpassen kann – und weiß doch zugleich, dass er doch verantwortlich bleibt für sie, ja auch dafür, ihnen Grenzen zu setzen. Und je älter die Kinder werden, desto mehr wird es eben die Aufgabe von Eltern, das Loslassen ihrer Kinder zu üben, darauf zu vertrauen, dass das, was sie ihnen, den Kindern, mitgegeben haben, nun im Weiteren im Leben auch trägt. Und wie gut, wenn dazu dann eben auch gehört, dass die Kinder bei Gott in seinem Haus geborgen sind, dort zu Hause sind! Ja, genau darum geht es in unserer Kinder- und Jugendarbeit, ist es im Konfirmandenunterricht gegangen, der nun in dieser Woche mit der Konfirmandenprüfung enden wird, wird es in dem neuen Vorkonfirmandenunterricht gehen, der nun in der nächsten Woche beginnt: Kinder sollen die Kirche, sollen das Haus Gottes als ihr Haus entdecken, sollen bei Gott zu Hause bleiben, auch und gerade, wenn sie sich allmählich von dem Zuhause bei ihren Eltern zu lösen beginnen. Ja, wie schön, wenn das tatsächlich gelingt!
Ich erinnere mich noch an eine Jugendfreizeit in Norwegen, bei der ich als Leiter tätig war. Eines Nachts entdeckte ich, dass einige Jungen und einige Mädchen aus ihren Schlafräumen verschwunden waren. Ich befürchtete das Schlimmste und rechnete mir bei Durchkämmen des nahen Waldes schon einmal mögliche Tauftermine im kommenden Jahr aus. Und schließlich fand ich die Jungen und Mädchen tatsächlich – sie saßen auf einer Klippe oberhalb des Meeres und sangen dort mitten in der Nacht vierstimmig Choräle. Ich ließ sie weitersingen ... Ja, so ähnlich muss es Maria und Josef auch ergangen sein: Wer rechnet denn schon damit, dass sein Kind ausgerechnet im Haus Gottes abbleibt? Und doch: Wie gut, wenn es so ist!
Noch eines erfahren wir hier in der Geschichte: Jesus sitzt da im Tempel und stellt Fragen. Ja, gerade auch so sieht Erziehung im Glauben aus, dass junge Menschen dazu ermutigt werden, Fragen zu stellen, ja auch kritische Fragen zu stellen. Erziehung im Glauben ist gerade keine Indoktrination, kein Eintrichtern von Wahrheiten, sondern geschieht immer wieder im Gespräch, in Frage und Antwort. Das wusste man damals schon in Israel, und das ist auch heute ganz wichtig, dass wir Kindern und Jugendlichen diese Möglichkeiten zum Fragen eröffnen. Wir brauchen doch keine Angst vor Fragen zu haben, dürfen uns im Gegenteil über Fragen freuen, die zeigen, dass junge Menschen sich mit dem Glauben auseinandersetzen. Unser Glaube gerät dadurch doch nicht in Gefahr, erweist sich immer wieder als stabil, ja, als geeignet, tragfähige Antworten geben zu können.
Und doch, Schwestern und Brüder, geht es in dieser Geschichte nicht bloß um einen christlichen Erziehungsratgeber. Das Ziel aller christlichen Erziehung besteht doch darin, junge Menschen bei Christus bleiben zu lassen. Um ihn, Christus, geht es nicht bloß in der Erziehung, um ihn geht es eben auch zuerst und vor allem in dieser Geschichte: um ihn, Christus, der eine ganz normale menschliche Entwicklung durchlebt und doch schon als Kind davon weiß, wer sein Vater ist, wo er herkommt, wo er hingehört. Er ist und bleibt wahrer Mensch und wahrer Gott: Wahrer Mensch, der gerade auch Jugendliche in der Pubertät zu verstehen vermag, und doch zugleich wahrer Gott, der sich aus Liebe zu uns auf den Weg zu uns gemacht hat, ja, der warten konnte, bis schließlich seine Stunde da war, um zu tun, was sein Auftrag war: für uns am Kreuz zu sterben, um uns zu retten.
Immer wieder haben wir es nötig, daran erinnert zu werden, dass Jesus eben nicht bloß ein vorbildlicher Mensch war, nicht bloß ein Prophet, wie der Islam behauptet, sondern in der Tat Sohn Gottes, nicht einfach Josefs Sohn. Selbst Maria und Josef hatten dies in der Zwischenzeit offenbar schon wieder vergessen, mussten von Jesus selber daran erinnert werden. Und so wollen auch wir heute wieder neu die gute Botschaft hören: Gott selber ist in diese Welt gekommen, er hat nicht bloß einen Propheten geschickt, sondern ist selber Mensch geworden, nicht bloß um uns zu belehren, sondern um unsere Sünde und unser Versagen auf sich zu nehmen, ja auch unsere Sünde und unser Versagen in der Erziehung unserer Kinder als Eltern und auch als Pastoren. Ja, wir stoßen hier immer wieder an unsere Grenzen. Doch wie gut, dass wir unsere Kinder immer wieder ihm, Jesus, anvertrauen dürfen, dass wir sie zu ihm in sein Haus bringen dürfen. Gott geb’s, dass sie hier bei uns so zu Hause bleiben, dass sie es schließlich ihm, unserem Herrn, nachsprechen können: „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Ja, Gott geb’s, dass wir es gemeinsam mit unseren Kindern bis ans Ende unseres Lebens gemeinsam beten und bekennen können: „Ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“ Amen.