St. Lukas 5,1-11 | 5. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
540.000 – das ist die Zahl, die in den vergangenen Wochen in der kirchlichen Presse immer wieder zu lesen war. 540.000 Menschen sind im vergangenen Jahr aus den beiden großen Kirchen in Deutschland ausgetreten – ein neuer Rekord. Und da ist es klar, dass nun wieder eine große Diskussion begonnen hat, was man denn dagegen unternehmen kann, dass so viele Menschen die Kirchen verlassen: Da wird gefordert, dass sich endlich ein Reformstau in den Kirchen löst, dass die Kirchen endlich tun, was ihre Mitglieder von ihnen erwarten. Andere verweisen darauf, dass man den Menschen deutlicher klar machen muss, was für eine wichtige Rolle die Kirchen in unserer Gesellschaft spielen. Und wieder andere entwickeln Konzepte einer Schnupper-Mitgliedschaft in der Kirche – ein bisschen unverbindlich zur Kirche gehören, aber natürlich nur so weit, wie das Kirchensteuersystem dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Auf dem Hintergrund dieser Diskussionen gewinnt das Heilige Evangelium dieses 5. Sonntags nach Trinitatis noch einmal eine ganz besondere Aktualität. Denn auch in dieser Geschichte geht es zunächst einmal um Frustration und um die Erfolglosigkeit menschlicher Bemühungen.
Da steht Jesus am See Genezareth – und was er dort erlebt, klingt in Corona-Zeiten wie der blanke Horror: Eine große Menge drängelt sich da vor ihm, ohne jeden Abstand zueinander. Und sie alle haben nur einen Wunsch: Sie wollen das Wort Gottes hören. Das ist natürlich der Traum eines jeden Pastors, einer jeden Kirche, dass sich die Menschen drängeln, um das Wort Gottes zu hören. In sehr vielen Kirchgebäuden ist es ja leider sonntags so, dass man da gar keine Corona-Gesetze braucht, weil die Mindestabstände im Gottesdienst auch ohne diese Vorschriften bei den paar Leuten, die sich dort einfinden, eingehalten werden. Viele Gemeinden mussten darum auch jetzt gar nicht groß ihre Gottesdienstprogramme ändern, weil bei ihnen auch sonst im Gottesdienst kein großes Gedränge herrschte. Jesus muss jedenfalls bei der Drängelei etwas unternehmen – er geht erst einmal auf Abstand zu den Leuten, nicht weil er sich davor fürchten würde, angesteckt zu werden, sondern weil er nur aus dem Abstand heraus zu den Leuten akustisch durchdringen kann. Lautsprecher gab es ja damals noch nicht, und so nutzt er stattdessen ein anderes Hilfsmittel: Er bittet den Fischer Simon um sein Fischerboot, das er tagsüber ohnehin nicht brauchte, und bittet ihn, ihn mit dem Boot ein wenig vom Ufer wegzufahren, damit er bei seiner Predigt all die Leute, die da am Ufer standen, gut erreichen konnte. Und dann ist Jesus schließlich mit seiner Predigt fertig. Er will sich bei Simon bedanken und fordert ihn auf, mitten am Tag mitten auf den See zu fahren, wo es am tiefsten ist, und dort die Netze auszuwerfen. Und da bricht aus dem Simon der ganze Frust heraus, den er in seiner Arbeit gerade erfahren hat: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen.“ So viele Mühe hatten sie sich gegeben, hatten doch alles richtig gemacht, was man machen muss, um Fische zu fangen – aber es hatte alles nichts genutzt. Und nun kommt auch noch dieser Jesus und macht einen vollkommen schwachsinnigen Vorschlag: Mitten am Tag mitten auf den See zum Fischen zu fangen – das war nun so ziemlich die blödeste Idee, die man sich vorstellen konnte. Jeder, der auch nur ein wenig Ahnung vom Fischfang hatte, wusste, dass man Fische nicht tagsüber fängt, sondern nachts. Da hält man dann Fackeln aus dem Boot und lockt damit die Fische an die Wasseroberfläche. Und natürlich fischt man auch nicht mitten auf dem See, wo es am tiefsten ist, sondern in den flachen Abschnitten, dort, wo man die Fische viel besser erreichen konnte. Wir ahnen also, was der Simon damals gedacht hat: Nun ja, predigen kann dieser Jesus ja ganz gut – aber von Fischfang hat er offenbar keine Ahnung. Aber nun ja – dann zeigen wir ihm eben mal, wie sinnlos das ist, was er vorgeschlagen hat, damit er sich in Zukunft aufs Predigen beschränkt und sich nicht länger in Fischereiangelegenheiten einmischt! „Auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen.“ Wenn du unbedingt meinst – du wirst schon sehen ...
Und dann passiert das Unfassliche: Mitten auf dem See, wo es am tiefsten ist, fangen sie mit ihren Netzen eine große Menge Fische – so viele, dass ihre Netze zu reißen beginnen, so viele, dass sie ganz schnell noch ein anderes Boot herbeirufen müssen, um die Fische auch auf dieses Boot zu laden. Ja, so viele sind es, dass beide Boote auf dem Weg zum Ufer schon fast zu sinken beginnen. Den Simon, der an dieser Stelle nun ausdrücklich schon mit seinem späteren Namen Petrus genannt wird, haut diese Erfahrung vollkommen um: Er merkt: Dieser Jesus ist eben nicht bloß ein guter Prediger; er ist auch der Herr über die Natur, der Schöpfer, ja, der heilige Gott selber, in dessen Gegenwart ein sündiger Mensch nicht bestehen kann. Doch Jesus schickt den Simon Petrus nicht weg – im Gegenteil: Er antwortet ihm, wie Gott immer wieder antwortet, wenn Menschen vor seiner Gegenwart erschrecken: Fürchte dich nicht! Und dann ruft er den Simon Petrus in seinen Dienst: Von nun an wirst du Menschen fangen! Dabei gebraucht Jesus hier übrigens ein recht seltenes Wort, was man auch mit „lebendig einsammeln“ übersetzen könnte. Jesus geht es natürlich nicht darum, dass Simon Petrus Menschen in den Tod führen soll, sondern dass er sich im Gegenteil einsammeln soll, damit sie das Leben haben. Und nach dem, was der Simon Petrus da erlebt hat, kann er gar nicht anders, als dem Ruf Jesu zu folgen: Er verlässt gemeinsam mit Jakobus und Johannes alles, was er hatte, und folgt Jesus nach.
Ja, diese Geschichte von dem Fischfang des Petrus hat sehr direkt mit der Kirche, hat sehr direkt auch mit unserer Situation zu tun, so macht es Jesus selber hier schon in dieser Geschichte deutlich, indem er Fischfang und Verkündigungstätigkeit in unmittelbare Verbindung zueinander setzt. Was Petrus da auf dem See erfahren hat, soll ihm helfen zu verstehen, was seinen Dienst als Menschenfischer im Weiteren ausmacht.
Bisher hatte Petrus immer gedacht: Ich muss im Seichten fischen, ich habe damit Erfolg, dass ich die Fische neugierig mache und anlocke. Die Methode hat doch immer geklappt. Warum sollte sie jetzt nicht mehr klappen?
Im Seichten fischen und die, die man einsammeln möchte, mit besonderen Gags anlocken – wie groß ist die Gefahr, dass die Kirche sich diese frühere Fischereimethode des Petrus in ihrer Arbeit zu eigen macht! Ja, es ist erschreckend, wie seicht die Verkündigung der Kirchen in unserem Land weithin geworden ist, wie man meint, Menschen damit in die Kirchen locken zu können, dass man ihnen alle möglichen Nettigkeiten erzählt, ihnen die eine oder andere Streicheleinheit verpasst. Und das Ganze wird garniert mit dem einen oder anderen Gag, den man sich ausdenkt und der am Ende alles Mögliche bewirken mag, nur keine Umkehr zu Christus und keinen Glauben an ihn. Ich erinnere mich noch daran, wie am Ostersonntag dieses Jahres während des Corona-Lockdowns hier über Steglitz ein betagtes Flugzeug kreiste, das im Auftrag einiger Kirchen ein Banner mit der Aufschrift „Friede sei mit euch“ durch die Luft zog. Lesen konnte man dieses Banner kaum; stattdessen übertönte der Lärm des Flugzeugs das gemeinsame Glockenläuten der Kirchen am Ostersonntag um 12 Uhr. Wenn man meint, auf diese Weise den Auszug der Menschen aus der Kirche aufhalten zu können, dürfte man sich wohl doch gewaltig irren.
Jesus machte damals zweierlei: Er gab zum einen dem Petrus einen scheinbar völlig hirnrissigen Auftrag – und er schickte ihn zum anderen dorthin, wo es tief ist, wo es dunkel ist, wo ein Fischer normalerweise nicht unbedingt hinfuhr. Ja, genau so leitet Jesus auch uns an, unseren Dienst als Kirche zu versehen: Wir sollen uns nicht daran orientieren, was die Leute von der Kirche erwarten, sondern wir sollen einfach tun, wozu Christus uns beauftragt: „Auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen.“ Kein Rückzug ins Seichte, keine Gags, sondern einfach nur tun, was Christus sagt: Die Botschaft von seinem Tod am Kreuz und von seiner Auferstehung verkündigen, seine Sakramente austeilen. Klingt blödsinnig und überholt – und hat doch die Verheißung des Herrn. Nein, wir haben nicht die Verheißung von Christus, dass das Boot der Kirche heutzutage auch so voll wird, dass es die ganzen Leute kaum noch zu fassen vermag, wenn wir denn nur treu unseren Auftrag erfüllen. Christus gibt uns keine Erfolgsgarantie – und erwartet doch von uns, dass wir tun, was er uns sagt.
Und dazu gehört eben auch, dass wir unsere Netze dort auswerfen, wo es tief ist, wo es dunkel ist. Die christliche Botschaft ist nicht der religiöse Zuckerguss für die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft in unserem Land, sondern sie gilt zuerst und vor allem denen, die im Dunkeln leben, die ganz andere Tiefen in ihrem Leben erfahren, als wir es uns als Durchschnittsdeutsche auch nur ansatzweise vorstellen können. Genau das habe ich in unserer Arbeit hier in Steglitz erfahren, was es heißt, die Netze auszuwerfen, wo es tief und dunkel ist. Ich habe in meiner Arbeit mitten in Deutschland eine Welt kennengelernt, von der ich vorher noch nicht einmal geahnt habe, dass sie überhaupt existiert, eine Welt voll von Angst und Dunkelheit, voll von Unrecht und Verzweiflung. Die Menschen, die da ganz tief unten wohnen, sie haben scheinbar in unserer Gesellschaft überhaupt keinen Wert, sollten nach dem Willen vieler am liebsten für immer dort ganz im Dunkeln bleiben. Doch Jesus schickt uns als Kirche gerade dorthin, wo es so tief ist, wo die Abgründe sind, möchte, dass wir gerade den Menschen, die dort leben, die frohe Botschaft verkündigen – nein, keine seichten Allerweltsweisheiten und Nettigkeiten, sondern eine Botschaft, für die es sich lohnt, sein Leben zu riskieren, kein weichgespültes Evangelium, sondern die Botschaft von dem leidenden Gottessohn, der für uns das ganze Leid und die ganze Verzweiflung, ja, die ganze Schuld unseres Lebens auf sich nimmt und trägt.
Wir haben hier in Steglitz die Erfahrungen machen dürfen, dass unser Boot bald so voll geworden ist, dass es schon fast zu sinken begann. Das muss nicht immer gleich so zu erleben sein, wenn das Evangelium verkündigt wird. Doch wenn wir uns an den Auftrag unseres Herrn halten, dann dürfen wir gewiss sein: Ganz gleich, was für zahlenmäßige Erfolge wir verbuchen können: Wir arbeiten unter der Verheißung des Herrn. Und der hat nicht aufgehört, Menschen in seinen Dienst zu rufen, braucht auch weiter Menschen, die wie der Petrus damals im Namen Jesu andere Menschen ins Reich Gottes einsammeln. Er braucht so merkwürdige Typen wie den Petrus damals oder euren Pastor in Steglitz heute, Menschen, die selber völlig ungeeignet sind und die sich doch auf das einlassen, wozu Christus sie beauftragt. Nein, nicht mit irgendwelchen Mätzchen oder großartigen Konzepten werden wir die Kirche retten. Wir können das sowieso nicht. Unser Auftrag bleibt allein dies eine: „Auf dein Wort hin will ich die Netze auswerfen.“ Das wollen wir auch weiter tun hier in Steglitz, auch und gerade in Corona-Zeiten. Und dann warten wir ab, wen uns Christus alles noch in diese Netze schickt. Unser Herr ist allemal für Überraschungen gut. Amen.