St. Lukas 6,27-38 | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs | Pfr. Dr. Martens
Zu den besonderen Wünschen, die gerade viele jüngere Menschen heutzutage in unserem Land haben, gehört der Wunsch, seinen ganz eigenen Style zu haben, nicht einfach so zu sein wie alle anderen, sondern irgendwie ganz anders. Mit solchen Wünschen machen Modeversandhändler wie „About you“ große Kasse – und der Spruch „Be yourself“, „Sei du selbst!“ erfreut sich in unserer Zeit in verschiedensten Zusammenhängen immer wieder größter Beliebtheit.
Sei du selbst – sei nicht wie alle anderen! Genau darin bestärkt auch Christus seine Jünger in der Predigtlesung dieses Drittletzten Sonntags des Kirchenjahrs. Allerdings betätigt sich Christus hier nicht als Typberater und gibt uns auch keine Tipps, wie wir uns am besten kleiden oder was für einen Modestyle wir pflegen sollen. Seine Modetipps fallen denkbar einfach aus: Wenn dir jemand dein Obergewand nimmt, dem gib auch noch deine Unterwäsche mit! Stylisch klingt anders ...
Und doch leitet uns Christus hier sehr deutlich dazu an, uns von den Menschen in unserer Umgebung erkennbar abzusetzen. Gleich dreimal weist er darauf hin, dass wir uns in unserem Verhalten nicht einfach bloß an dem orientieren sollen, was alle anderen auch machen. Einfach nur immer mit seinesgleichen rumhängen, sich von denen bestätigen lassen, die einen sowieso immer gut finden – total uncool! Das schafft jeder, die zu lieben, die einen selber auch lieben. Sich in seinem Verhalten daran zu orientieren, was einem selber einen Vorteil bringt, die Leute anzuschleimen, von denen man etwas für sich erwarten kann – total uncool! Das ist zwar heute ganz üblich – aber absolut nicht der Lebensstil eines Christen. Und nur Leuten etwas auszuleihen, bei denen man sowieso weiß, dass man es von ihnen auch zurückbekommt, klingt zwar vernünftig – ist aber nicht der Lebensstil eines Christen, so macht es uns Christus hier deutlich.
Was macht denn dann unseren besonderen Lebensstil aus, worin unterscheiden wir uns als Christen denn grundlegend von anderen?
Jesus sagt hier zunächst einmal: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ Das klingt gut, klingt aber noch nicht überwältigend alternativ. Gewiss, Jesus geht über das Sprichwort hinaus, das uns vielleicht auch bekannt ist: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Jesus formuliert es hier positiv: Das, was du dir selber wünschst, das tue anderen! Eine wirklich gute Handlungsanweisung – und doch letztlich noch so vernünftig, dass man das nicht als etwas herausragend Christliches bezeichnen kann. Das ist eine Handlungsanweisung, der auch ein Atheist oder ein anderweitig moralisch hochstehender Nichtchrist gleich zustimmen könnten. Ja, sie ist wirklich gut, und weil sie aus dem Munde Jesu stammt, sollen wir sie allemal ernstnehmen. Aber Christus hat uns noch mehr zu sagen:
Er erwartet von uns, dass wir in unserem Leben Abschied nehmen von dem Gedanken, was uns selber das bringt, was wir gerade tun. Das scheint doch so naheliegend zu sein, dass ich mir überlege, ob das, was ich gerade tue, für mich gut ist, mir selber einen Vorteil bringt. Doch genau das ist für Jesus ein letztlich heidnischer Gedanke. Er erwartet von denen, die zu ihm gehören, dass sie gerade nicht darauf schielen, was ihnen das bringt, was sie tun. Ja, das geht ganz praktisch mit dem Ausleihen los: „Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.“ Da merken wir schon, wie der alte Adam und die alte Eva in uns kräftig protestieren: Das geht doch gar nicht, das ist doch Quatsch! Wir können uns doch nicht einfach ausnutzen lassen! Wo führt das denn hin! Doch Jesus wiederholt es noch einmal: „Leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen!“
Ja, das gehört mit zu unserem besonderen Lebensstil als Christen, dass unser Herz nicht an Geld und Besitz hängt, dass wir uns daran nicht klammern, sondern loslassen können, erst recht, wenn wir merken, dass es ein anderer dringender braucht als wir selber. Ich habe es mir in der Zwischenzeit bewusst abgewöhnt, aufzuschreiben, wenn ich einem anderen Menschen etwas geliehen habe. Wenn er es mir zurückgibt, freue ich mich – und bin mitunter auch ganz überrascht, weil ich das schon wieder ganz vergessen hatte. Aber wenn er es mir nicht zurückgibt, dann brauchte er es wohl noch dringender als ich. Und ich merke, dass ich dennoch bisher noch nicht verhungert bin. Ja, das ist für uns selber gut, wenn wir leihen können, ohne immer gleich eine Rückforderung anzuschließen. Wir sind und bleiben doch reich beschenkt, auch wenn wir nicht alles haben, was uns eigentlich zustehen könnte.
Doch Jesus geht hier noch einen Schritt weiter: Auf materiellen Besitz mögen wir ja noch ganz gut verzichten können. Aber Jesus erwartet von uns, dass wir auch im Verhältnis zu anderen Menschen darauf verzichten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: Nein, wir sollen Menschen, die uns Böses tun, nicht einfach nur stoisch ertragen und keine Miene dabei verziehen. Sondern gleich zweimal sagt Jesus hier: „Liebt eure Feinde!“ Und das war und ist für die, die diese Worte Jesu damals hörten, wahrlich nicht nur ein theoretischer Gedanke: Verfolgt wurden sie, gehasst, verflucht, beleidigt, geschlagen, beraubt – alles Alltag für die Christen damals, und eben auch für so viele Christen heutzutage. Diesen Verfolgern Liebe entgegenzubringen – das ist allerdings eine absolut alternative Lebensweise, nichts, was auch nur annähernd dem entspricht, was man an Verhalten von Menschen ansonsten erwarten könnte. Die andere Backe dem hinhalten, der einen schon auf die eine geschlagen hat – das macht doch keiner, ja, das schafft doch keiner!
Für mich selber ist es ja schon unerträglich, dabei zuzusehen, was für ein Unrecht meinen christlichen Brüdern und Schwestern hier in Deutschland zugefügt wird. Die Gefühle, die mich angesichts dieses Unrechts überkommen, sind nicht unbedingt Gefühle der Liebe gegenüber denen, die oft genug mit solch einer Aggressivität gegen Christen hier in unserem Land vorgehen.
Doch Liebe ist in der Bibel eben nicht so sehr ein Gefühl; es ist vielmehr der ganz praktische Nachvollzug dessen, was Gott für diese Menschen getan hat. Und wenn es mit dieser Liebe dann doch etwas schwierig für uns bleibt, können wir ja wenigstens schon mal anfangen mit der Bitte für die, die auch hier in unserem Land die Christen beleidigen und alles daransetzen, sie in den Tod zu schicken. Fürbitte für Feinde – das ist ein innerer Kampf, gewiss. Und doch kann diese Fürbitte für uns selber eine Hilfe sein, kann uns davon befreien, dass wir dem Hass, den wir erfahren, auch mit Hass begegnen, kann uns davon befreien, dass die anderen uns mit ihrem Hass beherrschen und vergiften.
Und auch das mit Segnen kann eine ganz praktische Hilfe sein. Da erlebe ich neben so vielem Erfreulichem hier in unserer Gemeinde leider immer wieder auch viel Undank bei Menschen, denen wir geholfen haben, denen auch ich persönlich geholfen habe. Kaum haben sie bekommen, was sie wollten, fangen sie an, unsere Gemeinde und ihre Glieder zu beleidigen, Schlechtes über sie zu reden. Wir haben es nicht in der Hand, wenn sie sich von unserer Gemeinde trennen und sie fallen lassen wie ein gebrauchtes Papierhandtuch. Aber ich bemühe mich, wenn auch nicht immer mit Erfolg, denen, die solche Beleidigungen aussprechen, als letztes doch noch ein Wort des Segens zu sagen, auch und gerade wenn die nichts davon wissen wollen.
Und doch – es bleibt dabei: Wir versagen immer und immer wieder an diesen Worten unseres Herrn, praktizieren gerade nicht den alternativen Lebensstil, den er von uns erwartet, sondern passen uns in unserem Reden und Verhalten immer wieder denen an, die von Christus keine Ahnung haben. Was können wir dagegen tun?
Zunächst einmal hilft der Blick auf das letzte Gericht, das ja auch von Jesus hier angesprochen wird. Es geht darum, dass wir uns wieder neu klarmachen, was denn nun eigentlich entscheidend in unserem Leben ist: nicht, ob wir am Ende unseres Lebens genügend Geld übrigbehalten haben, nicht, ob wir am Ende unseres Lebens immer Recht behalten haben. Es geht darum, ob wir am Ende freigesprochen, gerettet werden in diesem letzten Gericht. Genau daran sollen uns diese letzten Sonntage des Kirchenjahres ja in besonderer Weise erinnern. Und freigesprochen werden wir in diesem letzten Gericht eben nicht wegen unserer Feindesliebe, die wir uns in unserem Leben abgerungen haben. Sondern freigesprochen werden wir in Gottes letztem Gericht einzig und allein wegen der Feindesliebe Gottes, wegen der Feindesliebe unseres Herrn Jesus Christus, der für uns ans Kreuz gegangen ist, der sich selber dort am Kreuz aller seiner Kleider hat berauben lassen, der dort am Kreuz noch für seine Feinde gebetet hat. Ja, für uns hat er da am Kreuz gehangen, für uns, die wir ihm gerade nicht zurückgeben, was er uns an Gutem getan hat, sondern ihn immer wieder enttäuschen. Seine Feindesliebe für uns ist unsere einzige Hoffnung, ja unsere einzige Rettung.
Nicht Leistung, nicht gute, fromme Werke retten uns am Ende unseres Lebens, sondern allein Barmherzigkeit. Allein das rettet uns, dass Gott diesen Maßstab der Barmherzigkeit an uns und unser Leben anlegt. Und dieser Maßstab verändert dann in der Tat auch unser Leben, dass ich anders auf andere Menschen blicken kann, dass ich den nicht verurteilen muss, der sich mir oder anderen gegenüber anders verhält, als ich es für gut befinde, dass ich loslassen kann – nicht nur meinen Besitz, sondern auch mein Bedürfnis, immer recht zu behalten.
Ach, Gottes Barmherzigkeit, die auch den Undankbaren und Bösen gilt, sie ist uns ja nicht nur ein Vorbild. Sondern mit dieser Barmherzigkeit unseres Gottes sind wir doch in unserer Taufe umfangen worden. Ja, wir leben doch seitdem in Christus, in diesem Christus, der dem Gebot der Feindesliebe für uns gefolgt ist bis zur letzten Konsequenz. Weil wir so eng mit Christus verbunden sind, wird sich sein Lebensstil dann tatsächlich auch auswirken auf uns, weil er eben nicht bloß ein modisches Accessoire ist, das wir von Zeit zu Zeit mal tragen oder ablegen können, sondern weil er uns im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht, wenn wir seinen Leib und sein Blut empfangen. Und wenn wir mit seinem Leib und Blut zugleich auch immer wieder seine Vergebung empfangen, wird uns das helfen, barmherzig zu werden – ja, auch mit uns selber. Und wenn wir das immer wieder einüben, dass wir eben nicht dadurch gerettet werden, dass wir perfekt sind, sondern dass Christus perfekt ist, dann entlastet uns das enorm, gerade auch im Umgang mit anderen Menschen. Dann hilft uns das, tatsächlich an andere den Maßstab anzulegen, den Christus an uns anlegt. Ja, dann wird, Gott geb’s, auch durch uns der hindurchscheinen, der nichts anderes ist als Liebe! Er und wir sind eins – und darum stimmt es in der Tat: Be yourself – sei du selbst: Einer, der sagen kann: ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Amen.