St. Lukas 6,36-42 | 4. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Sie zittert. Es war und ist nicht zu übersehen – nun schon das dritte Mal innerhalb weniger Wochen in der Öffentlichkeit. Ja, unsere Bundeskanzlerin hat ein gesundheitliches Problem, das ist offensichtlich. Doch was man dazu an Kommentaren im Internet lesen kann, mit was für einer Häme Stammtischredner aus dem ganzen Land Ferndiagnosen stellen und über eine Frau, die körperliche Schwäche zeigt, herfallen, das lässt tief blicken in den moralischen Zustand, in dem sich unser Land zurzeit befindet. Ausgerechnet Leute, die nicht müde werden, den Untergang der christlichen Leitkultur in unserem Land zu bejammern, die immer und immer wieder vor der Bedrohung durch den Islam warnen, zeigen keinerlei Hemmung, über die körperliche Schwäche eines Menschen herzuziehen. Man hätte sich gewünscht, dass solches Denken 80 Jahre nach dem Dritten Reich nicht wieder bei uns Einzug hält, dass es salonfähig wird, über Erkrankungen von Menschen zu spotten und auf ihnen herumzutrampeln. Ja, da wünscht man sich in der Tat eine christliche Leitkultur in unserem Land – nicht in der Lederhosenversion, sondern in der Version dessen, was uns Christus, unser Herr, im Heiligen Evangelium dieses Sonntags hier selber vor Augen stellt.
Ja, die Worte unseres Herrn Jesus Christus haben wir nicht nur dringend nötig im gesellschaftlichen Umgang miteinander. Wir brauchen sie in ganz besonderer Weise auch als Anleitung zum Zusammenleben in der Kirche.
Da hatte ich vor vielen Jahren einen russlanddeutschen Aussiedler beerdigt. Er hatte sich, das wussten auch alle Teilnehmer auf der Beerdigung, zu Tode gesoffen. Anschließend saßen wir noch beim gemeinsamen Essen beieinander, als eine besonders fromme Verwandte des Verstorbenen sehr unverblümt zum Ausdruck brachte, was sie von dem Verstorbenen hielt: „Jetzt hat ihn der Teufel geholt.“ Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen: Ausgerechnet jemand, der für alle erkennbar nach außen hängen ließ, wie fromm er doch ist, maßt sich die Rolle Jesu Christi selber an, vollzieht das Jüngste Gericht an einem Verstorbenen beim gemeinsamen Kaffeetrinken.
Und es ist eben nicht nur diese fromme Verwandte. Wir sind es alle miteinander, die es so sehr lieben, über andere zu richten, über andere unser Urteil zu fällen: Wir wissen es genau, dass wir zu dem kleinen, elitären Kreis derer gehören, die es mit ihrem christlichen Glauben wirklich ernst meinen, während es doch völlig klar ist, dass die meisten anderen, die nach uns in diese Gemeinde gekommen sind, doch nur aus sehr niederen Gründen hierhergekommen sind und in Wirklichkeit gar keine richtigen Christen sind. Wir wissen es genau, warum dieser und jener Mensch angesichts seines Verhaltens doch gar kein richtiger Christ sein kann. Wir wissen, dass alle Muslime Lügner sind, während andere sehr genau wissen, dass sich die Glieder unserer Gemeinde im Unterschied zu ihnen ja noch gar nicht richtig bekehrt haben.
Und da habe ich jetzt noch gar nicht davon gesprochen, wie Behördenmitarbeiter und Richterinnen und Richter in unserem Land die Weisungen unseres Herrn Jesus Christus gleichsam von Amts wegen mit Füßen treten, Menschen, die mit großer Treue ihren christlichen Glauben praktizieren, die Ernsthaftigkeit ihres Glaubens absprechen und mit geradezu zynischen Begründungen das Urteil fällen, diese Menschen seien ja alle nur Asylbetrüger.
Ja, dringend nötig haben wir es, die Worte unseres Herrn Jesus Christus wieder neu zu hören und zu beherzigen, die wir eben gehört haben. Dringend nötig haben wir es, dass uns wieder klar wird, was für Konsequenzen es eigentlich hat, wenn wir uns als Richter über andere, erst recht als Richter über den Glauben anderer aufspielen:
Zunächst einmal macht Christus uns hier sehr eindringlich auf die Situation aufmerksam, in der wir uns in Wirklichkeit befinden. Richten sollte nur derjenige, der den Überblick hat, der einen unparteiischen Blick auf das werfen kann, worüber er seine Urteile fällt. Und das könnt ihr eben nicht, so führt es Christus hier in sehr deutlicher, geradezu drastischer Weise aus:
Blinde seid ihr, Leute, die selber keinerlei Überblick haben über das, was sie da beurteilen. Wenn ich meine, ich könnte einem anderen Menschen seinen christlichen Glauben absprechen, weil er meinen Ansprüchen nicht genügt, dann zeige ich, dass ich blind bin für Gottes Wirklichkeit, dann lande ich am Ende nur in der Grube. Wenn ich meine, ich sei dazu befugt, andere darauf aufmerksam zu machen, dass sie nicht so gut sind wie ich selber, dann nehme ich nur den Splitter im Auge des anderen wahr und nicht den Balken in meinem eigenen Auge, so drückt es Christus hier sehr drastisch aus.
Wo immer Menschen meinen, an ihrem Wesen würde die Welt genesen, erweisen sie sich als blinde Blindenführer. Wo immer Menschen sich daran machen, andere Menschen zu verbessern, weil es bei ihnen selber ja schon nichts mehr zu verbessern gibt, da erweisen sie sich als Heuchler, als Menschen, die ihre eigene Lage völlig falsch einschätzen und zugleich vor anderen nur eine große Show abziehen.
Ja, drastisch wird Christus hier, weil er weiß, was für eine Freude es uns Menschen macht, über andere den Richter zu spielen, ganz gleich, in welchem Land wir auch geboren sein mögen. Ein paar freundliche Anregungen helfen da nicht weiter. Da hilft nur die klare Diagnose unseres Herrn: Ihr seid blind, lauft alle mit einem Balken im Auge herum, ohne das überhaupt als Problem wahrzunehmen.
Und da Christus weiß, wie schwer wir uns damit tun, unsere Richterstühle zu verlassen, schärft er uns zugleich auch ein, was für Konsequenzen es eigentlich hat, wenn wir meinen, über andere Menschen unser Urteil, ja unser Verdammungsurteil fällen zu können:
„Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet! Ja, eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ Wo ich erbarmungslos einen anderen Menschen verurteile, da kann ich nicht mit Gottes Erbarmen rechnen, wenn er mich einmal beurteilen wird. Wo ich nicht dazu bereit bin, an andere Menschen den Maßstab der Barmherzigkeit anzulegen, zu verzeihen, zu verstehen, kann ich nicht damit rechnen, dass Gott an mein Leben den Maßstab der Barmherzigkeit anlegt. Ja, das sind starke Worte, mit denen uns Christus hier aufzurütteln versucht: Andere zu beurteilen, andere zu verdammen, das ist eben nicht bloß eine etwas blöde Macke, die viele von uns haben. Wer sich zum Richter Gnadenlos über andere aufspielt, der spielt damit zugleich mit seinem eigenen künftigen Geschick.
Ja, wir merken, wie wir durch diese Worte sehr schnell unseren Sitz wechseln: Wir mussten den Sitz des Richters verlassen und auf der Anklagebank Platz nehmen, auf der Anklagebank vor dem, der allein das Recht hat, Urteile über unser Leben und über das Leben anderer zu fällen, auf der Anklagebank unseres Herrn Jesus Christus. Nur hoffen können wir darauf, dass unser Herr Jesus Christus anders mit uns verfährt, als wir dies an seiner Statt getan hätten, dass er nicht verurteilt, nicht verdammt.
Und wenn wir uns das klar machen, dann hören wir sie hoffentlich wieder ganz neu, die Worte unseres Herrn Jesus Christus: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Ja, dann nehmen wir hoffentlich wieder neu wahr, was wir am Beginn unseres Evangeliums vielleicht so schnell überlesen oder überhört haben: Seid barmherzig – wie auch euer Vater barmherzig ist! Ja, gottlob, er ist es, er, unser Vater, er ist barmherzig und kein Richter Gnadenlos.
Ja, das können wir gar nicht oft genug hören: Dass Jesus Christus in diese Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, nicht die Gerechten. Das können wir gar nicht oft genug hören, dass unser Gott ein barmherziger Vater ist, immer wieder bereit dazu, zu vergeben. Und wenn wir es denn hören, dann wird, Gott geb’s, dies Wunder geschehen, dass diese Barmherzigkeit unseres Vaters, dass diese Vergebungsbereitschaft unseres Herrn, uns selber immer mehr in unserem Herzen, in unserem Verhalten prägen, dass uns immer mehr die Lust daran vergeht, andere zu richten, eben weil wir wissen, dass allein Christus uns in Gottes letztem Gericht retten kann und retten wird. Ja, an Christus sollen wir uns orientieren, sollen uns nicht über ihn stellen, der Menschen nicht richten, sondern retten will, sollen vielmehr immer wieder neu die Verbindung mit ihm suchen, damit wir werden wie er, unser Meister.
Genau darum geht es auch jetzt wieder, wenn wir gleich das Heilige Mahl empfangen: Da verlassen wir alle miteinander unseren Richterstuhl, um gemeinsam vor Christus niederzuknien, da sprechen wir den anderen, mit denen wir hier gemeinsam knien, nicht länger ab, dass auch sie die Vergebung von Christus empfangen, da blicken wir nicht mehr auf das, was uns an anderen aufregen mag, sondern schauen allein auf ihn, unseren gekreuzigten Herrn. Da empfangen wir von ihm schon seine Gaben im Überfluss, seinen Leib und sein Blut und damit seine Vergebung und sein Leben. Ja, wie sollten wir da noch kleinlich über andere richten sollen, wenn wir so sehr mit Gottes Liebe und Vergebung überschüttet werden! Wie sollten wir uns da noch an der Schwäche anderer erfreuen und darüber herziehen, wenn wir hier selber vor Gott ganz schwach sein dürfen! Ja, Christus lebt in uns – möge er uns darum auch nach seinem Wesen prägen! Dann geht es für uns überhaupt nicht mehr darum, andere zu verurteilen und zu verdammen, dann geht es nur noch darum, zu vergeben und zurecht zu helfen, ja die Schwächen anderer gnädig zuzudecken! Ja, mögen wir so in der Kraft des Heiligen Mahles immer mehr dem Himmel entgegengehen, in dem wir einmal darüber staunen werden, wen wir da alles sehen werden, ja in dem wir einmal für immer darüber staunen werden, dass auch wir, ausgerechnet wir dort mit dabei sein dürfen! Amen.