St. Lukas 9,57-62 | Okuli | Pfr. Dr. Martens

Und wie geht es nun weiter? Das ist eine Frage, die ich in diesen letzten Tagen und Stunden immer wieder gehört habe, ja, die sich wohl die meisten von euch auch selber gestellt haben. Wie geht es nun weiter? Das war für mich vor einer Woche alles noch ganz klar: Der Terminkalender war gut gefüllt, ich hatte einen genauen Plan, was ich an welchem Tag tun wollte – inklusive der Vorbereitung von Ostern und der Konfirmandenfreizeit im April. Und nun sitzen wir heute Morgen da – nicht, wie üblich in der Kirche, sondern zu Hause, wissen überhaupt nicht, was eigentlich auf uns zukommt. Alle scheinbaren Gewissheiten, auf die wir unser tägliches Leben bisher gegründet hatten, sie wurden uns nun in diesen letzten Tagen und Stunden aus der Hand geschlagen. Und wir haben es erlebt, wie Menschen auf diesen Verlust scheinbarer Gewissheiten und Absicherungen reagieren, wie sie sich mit Toilettenpapier eingedeckt haben, das bis weit über ihren Tod hinaus ausreichen dürfte, wie sie mithilfe von Toilettenpapier hoffen, doch noch irgendwie die Kontrolle über ihr Leben behalten zu können.

Wie geht es nun weiter? Wir wissen es nicht und merken, dass wir unsere Zukunft nicht mehr im Griff haben, einfach mit unserem Leben ins Ungewisse gehalten werden und nur warten können, was jetzt mit uns wohl geschehen mag. Und dabei geht es ja nicht bloß darum, dass wir nun nicht wissen, wie lange unsere Kirche noch geschlossen bleiben wird, wie lange manch andere Einrichtung geschlossen bleiben wird, die zu unserem täglichen Leben einfach dazu gehörten – Fitnessstudios etwa, oder auch die Kneipe um die Ecke. Sondern in dem allen erahnen wir, dass es möglicherweise nicht mehr sehr lange dauert, bis auch uns persönlich das Corona-Virus erreicht hat. 70-80% der Bevölkerung sollen am Ende wahrscheinlich infiziert sein, so haben es Virologen ausgerechnet. Warten im Ungewissen, nicht nur was bestimmte Schließzeiten angeht, sondern was auch die Frage nach der Dauer unseres Lebens betrifft. So hängen wir heute Morgen in der Luft, haben so viel mehr Fragen als Antworten.

Und in dieser Lage hören wir nun das Heilige Evangelium des heutigen Sonntags – und staunen darüber, wie aktuell das ist, was uns St. Lukas hier schildert.

Gewiss, die Situation, die hier geschildert wird, ist erst einmal eine ganz andere als die unsrige heute. Der Evangelist berichtet uns, wie Jesus gerade dabei ist, sich auf den Weg nach Jerusalem zu begeben, auf den Weg, der ihn schließlich dort ans Kreuz führt. Und da wird Jesus von einem Menschen angesprochen, der ihm, Jesus, nachfolgen will. Ja, Nachfolge, die war damals ganz wörtlich gemeint: Nachfolge hieß: Hinter Jesus hergehen auf seinem Weg – und dabei von ihm lernen, ja, sein Geschick teilen. Und wie dieses alltägliche Geschick Jesu aussah, das beschreibt Jesus hier sehr drastisch: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ Wer Jesus nachfolgt, den erwartet ein völliges Unbehaustsein, nicht zu wissen, was am selben Abend mit ihm geschehen wird. Wer Jesus nachfolgt, der muss damit rechnen, dass ihm alle Absicherungen verlorengehen, dass nichts anderes ihm mehr bleibt als die Gemeinschaft mit ihm, Jesus, selber.

Schwestern und Brüder: Wir können Jesus nicht in derselben Weise nachfolgen, wie damals die Jünger oder auch dieser Mensch, den uns St. Lukas hier schildert, Jesus nachgefolgt sind. Nachfolge Jesu im eigentlichen, engeren Sinn bleibt auf die Zeit vor Ostern, vor der Auferstehung Jesu, begrenzt. Doch St. Lukas macht uns hier deutlich, dass dies auch für uns Christen, die wir nach der Auferstehung Jesu leben, eine Grundsituation bleibt: Nicht zu wissen, wie es am nächsten Tag weitergeht, keine andere Gewissheit zu haben als die Nähe Jesu.

Ja, natürlich ist es nun ein Virus, das uns in diese Situation der Ungewissheit gebracht hat, und nicht der Ruf in die Nachfolge Jesu. Aber wenn uns nun so viele Gewissheiten in diesen Tagen abhandenkommen, dann mag uns wieder neu deutlich werden, was uns in unserem Leben als Christen eigentlich trägt und was nicht: Nicht die Absicherungen eines scheinbar reibungslos laufenden Wirtschaftsbetriebs, nicht die Absicherungen eines Gesundheitssystems auf hohem Niveau. Alles, ja wirklich alles mag uns aus der Hand geschlagen werden. Doch was bleibt, ist die Nähe unseres Herrn Jesus Christus, die er uns schon in unserer Taufe zugesagt hat. Was bleibt, ist das Versprechen unseres Herrn Jesus Christus, das er uns beim Empfang seines Leibes und Blutes immer wieder gegeben hat, auch wenn wir darauf im Augenblick so schmerzlich verzichten müssen: „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Ja, der bleibt. Die Begegnung mit Christus im Heiligen Mahl ist nicht nur eine Augenblickserfahrung; sie trägt euch hindurch auch in diesen Tagen und Wochen der Ungewissheit. Christus bleibt in euch; das kann euch auch keine Verordnung des Berliner Senats nehmen.

Und da sind dann noch die beiden anderen, denen Jesus es zumutet, dass sie einen schmerzlichen Bruch mit ihrer Familie vollziehen: Der eine möchte noch seiner Pflicht nachkommen, seinen Vater zu begraben, der andere möchte sich wenigstens von seiner Familie verabschieden. Doch Jesus macht ihnen deutlich, dass es etwas gibt, was noch wichtiger ist als die irdischen Bindungen an die Familie: die Teilhabe am Reich Gottes, die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft mit Christus.

Wie gesagt: Wir leben nicht mehr in der Zeit vor der Auferstehung unseres Herrn; die Form der Nachfolge, um die es hier im Heiligen Evangelium zunächst einmal geht, gibt es heute nicht mehr. Und doch sind die Worte Jesu auch heute noch so aktuell: Ich denke an unsere Schwestern und Brüder aus dem Iran und Afghanistan, die genau solche Erfahrungen immer wieder gemacht haben und bis heute machen: So manchem liegt es bis heute schwer auf der Seele, dass er sich nicht einmal mehr von seinen Eltern verabschieden konnte, als in seiner Heimat aufgeflogen war, dass er ein Christ geworden war. Da konnte er sich nur noch verstecken und fliehen, ein Leben führen, in dem er oftmals auch für eine längere Zeit nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Und wie schmerzlich empfinden es so viele in unserer Gemeinde, dass sie bei der Beerdigung des eigenen Vaters, der eigenen Mutter nicht mit dabei sein konnten, weil es für sie als Christen einfach nicht möglich war und ist, wieder in die Heimat, zur Familie zurückzukehren. Um Christi willen den eigenen Vater nicht beerdigen zu können – ja, das gab es eben nicht bloß damals im Neuen Testament, das gibt es auch heute, in unserer Gemeinde, im Jahr 2020.

Doch auch wenn wir solche Erfahrungen selber nicht direkt gemacht haben mögen, stellt Jesus auch an uns diese Frage, ja gerade auch an diesem Sonntag, an dem wir so deutlich erfahren, wie unser normales Leben aus den Fugen geraten ist: Was bindet dich, was hält dich davon ab, dich mit deinem ganzen Leben allein auf mich einzulassen? Nimmt dich die Furcht vor Corona gefangen, dass deine Gedanken nur noch um das Virus kreisen und um die Probleme, die es jetzt auslöst – und dir Christus selber dabei völlig aus dem Blick gerät? Denkst du nur noch daran, wie du dich jetzt am besten versorgen kannst – und schaust gar nicht mehr auf den, der dich dein ganzes Leben lang bisher wunderbar versorgt hat? Oder erlebst du es vielleicht auch umgekehrt, dass dir jetzt in dieser Situation Dinge, die du immer für besonders wichtig, ja unverzichtbar hieltest, mit einem Mal ziemlich unwichtig vorkommen, weil du merkst, dass sie vielleicht doch gar nicht so wichtig sind, wie du dachtest? Und merkst du jetzt in dieser Situation vielleicht noch einmal neu, wie wenig selbstverständlich es doch ist, dass du bisher in deinem Leben immer den Leib und das Blut Christi empfangen konntest, jetzt, wo du mit einem Mal merkst, dass es nun in dieser Zeit nicht mehr möglich ist?

Christus gibt uns im Heiligen Evangelium ein ganz wichtiges Wort mit auf den Weg, das zugleich auch der Wochenspruch für diese Woche ist: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ Ich denke, die wenigsten von uns haben in ihrem Leben wahrscheinlich einen Pflug in der Hand gehabt; aber das Bild leuchtet uns trotzdem ein: Wenn ein Bauer das Feld umpflügt, dann ist es ganz wichtig, dass er einen Punkt am Ende des Feldes fest ins Auge fasst und niemals mit seinem Blick davon abschweift. Sonst würde die Furche, die er pflügt, ganz krumm werden. Und wenn jemand beim Pflügen auch noch zurückblicken sollte, dann gerät er sehr schnell völlig aus der Bahn, macht sich selber alles kaputt.

So ist unser Leben als Christen: Immer sollten wir das Ziel unseres Lebens ganz klar und fest im Blick behalten: Das ewige Leben in der Gemeinschaft mit Christus, unserem Herrn. Nichts, aber auch wirklich gar nichts sollte uns davon ablenken, so wichtig es uns auch erscheinen mag. Nein, es hat keinen Sinn, dass wir jetzt in diesen Tagen zurückblicken, wie schön es doch war, als wir uns in großer Schar in unserer Dreieinigkeitskirche versammeln konnten. Blicke nach vorne auf das Ziel deines Lebens, das Christus dir in deiner Taufe doch vorgegeben hat! Lass dich durch nichts davon abhalten, allein auf dieses Ziel zu schauen! Ja, blicke auf dieses Ziel, wenn das Corona-Virus in deinem Leben dir immer näher rückt, wenn du vielleicht auch selber daran erkrankst, ja wenn du vielleicht auch daran sterben wirst, ja, vielleicht auch ganz allein, weil man niemanden mehr zu dir ins Krankenhaus lässt! Es zählt wirklich nur eins, dass du dort am Ziel ankommst, bei ihm, Christus, ganz gleich, was sonst in deinem Leben geschehen mag! Ja, nutze diese Wochen der Fastenzeit, in denen wir nun auch zum Sakramentsfasten gezwungen sind, um dein Leben wieder neu ganz auf dieses Ziel auszurichten! Nutze die Zeit, die dir vielleicht jetzt durch Corona zusätzlich geschenkt wird, um noch mehr in Gottes Wort zu lesen und zu beten, ja gerade auch für die, die jetzt von dieser Pandemie besonders betroffen sind! Ja, nutze die Zeit, um wieder neu über dein Leben nachzudenken, über das, was dir am Ende bleibt! Ja, Gott geb’s, dass auch und gerade das Corona-Virus uns helfen möge, in unserem Leben als Christen wieder ganz nach vorne zu schauen, auf das Ziel, das Christus unserem Leben gesetzt hat: auf das Reich Gottes. Ja, genau so geht unser Leben weiter! Amen.

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