St. Markus 10,17-27 | 18. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Was wir da eben gehört haben, ist eine einzige Zumutung! Nein, damit meine ich nicht die Aufforderung Jesu an den reichen Mann, alles zu verkaufen, was er hat. Dieser Zumutung können wir uns noch relativ leicht entziehen, können feststellen, dass diese Aufforderung Jesu wirklich nur diesem einen Menschen gilt, dass Jesus nicht alle Menschen und damit auch uns nicht dazu aufgefordert hat, unseren ganzen Besitz zu verscherbeln und den Erlös den Armen zu geben.

Nein, unsere heutige Predigtlesung ist eben darum für uns Menschen heute hier in unserem Land eine einzige Zumutung, weil in ihr eine Frage in den Mittelpunkt gestellt wird, die heutzutage kaum noch einen Menschen zu interessieren scheint, die völlig überholt zu sein scheint, ja, über die auch und gerade in vielen Kirchen kaum noch gesprochen wird, die im Gegenteil geradezu verschämt zur Seite geschoben wird: „Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“

Da feiern wir nun in gut zwei Wochen am 31. Oktober das 500. Reformationsjubiläum. Ach, wofür hat dieses Reformationsjubiläum, wofür hat Martin Luther in diesem Jahr nicht schon alles herhalten müssen! Auf NPD-Wahlplakaten war er allen Ernstes zu sehen; doch diente er umgekehrt immer wieder auch als Aufhänger für alles mögliche kirchliche Allotria, das in diesem Jahr betrieben wurde. Sämtliche politische Lieblingsthemen meinte man innerhalb und außerhalb der Kirche mit Martin Luther garnieren zu können, und wenn es noch schlimmer kam, meinte man in der Kirche gar, sich mit Berufung auf Martin Luther selber feiern und beweihräuchern zu können. Nur eines trat dabei immer wieder fast vollständig in den Hintergrund: Die Frage, die Martin Luther mit Recht so sehr umgetrieben hatte, die Frage, die eben nicht bloß seine persönliche Frage war, nicht bloß Ausdruck einer leicht neurotischen Persönlichkeit, sondern die zu allen Zeiten und an allen Orten die Frage der einen, heiligen, allumfassenden, apostolischen Kirche ist und bleibt, wenn sie denn Kirche Jesu Christi sein und bleiben will: die Frage nach dem ewigen Leben, die Frage danach, wie wir selig werden.

Wie gesagt: Diese Frage interessiert in unserem Land heutzutage kaum noch jemand, und da man in der Kirche oft genug auf die irrwitzige Idee verfallen ist, es sei Aufgabe der Kirche, die Fragen zu beantworten, die die Menschen an sie richten, redet man über diese Frage dann eben auch in der Kirche nicht mehr, wenn sie denn von kaum noch einem gestellt wird.

Nicht gestellt wird diese Frage, weil uns der Horizont des ewigen Lebens, weil uns der Horizont des letzten Gerichtes Gottes, das über die Teilhabe an diesem ewigen Leben entscheidet, verlorengegangen ist. Stattdessen begnügt man sich damit, dieses jetzige Leben hier auf Erden möglichst gut und gewinnbringend zu gestalten und die Menschen mit entsprechenden Ratschlägen hierzu zu versehen.

Ja, eine Zumutung sind die Worte unserer heutigen Predigtlesung für uns – eine Zumutung, die ich euch dennoch nicht ersparen will und kann. Denn wenn es in der Kirche nicht mehr um diese eine Frage geht, wie wir das ewige Leben ererben, wie wir selig werden, dann können wir in der Tat einpacken, dann kann ich hier gleich wieder von der Kanzel heruntersteigen und verkündigen, dass wir diese Kirche auch zumachen können, dass es keinen Sinn mehr macht, Beichtandachten anzubieten oder das Heilige Mahl zu feiern.

Doch nun haben wir hier in unserer Mitte Menschen, für die diese Frage nach dem ewigen Leben, die Frage danach, wie wir denn in den Himmel kommen können, keine exotische Frage ist, sondern eine Frage, die sie in ihrem Leben zutiefst bewegt, erschüttert, gequält hat, seit ihnen von Kindheit an erzählt wurde, dass sie am Ende ihres Lebens doch nichts anderes als die Hölle erwartet, dass sie es höchstens mit äußerstem Bemühen, mit der Einhaltung zahlloser religiöser Vorschriften schaffen können, dieser Hölle am Ende doch noch zu entkommen. Ja, da haben wir hier in unserer Mitte Menschen, die dann für eine ganz andere Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben alles haben stehen und liegen lassen, weil sie erkannt haben, dass nichts, aber auch gar nichts so wichtig ist wie die befreiende Antwort auf eben diese Frage.

Schon die Formulierung der Frage hier in unserer Predigtlesung ist ja bezeichnend: Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Was soll ich tun? – Ja, genau so denkt der religiöse Mensch aller Zeiten, selbst und gerade da noch, wo ihn das Thema „ewiges Leben“ eigentlich gar nicht mehr sonderlich interessiert. Und die Antwort, die er sich selber gibt, ist immer die gleiche: Ich muss ein einigermaßen anständiges Leben führen, oder, mit Bezug auf die religiöse Tradition: Ich muss mein Leben an den Zehn Geboten orientieren. Ja, genau das dürfte auch die Standardantwort sein, die selbst die meisten Kirchglieder in unserem Land geben würden, wenn sie gefragt werden, warum Gott sie denn einmal in den Himmel lassen sollte. Nein, das ist doch keine Frage: Natürlich wird mich Gott in den Himmel lassen, wenn es denn Gott und den Himmel überhaupt gibt! Ich war doch immer moralisch anständig, habe niemanden getötet, habe vielleicht im Laufe des Lebens noch nicht mal meinen Ehepartner gewechselt, habe nicht gestohlen, bin ich immer ehrlich gewesen, habe keine Bank überfallen und habe mich auch immer um meine Eltern gekümmert. Das muss doch reichen!

So denken viele Menschen in unserem Land – und so denken im Übrigen auch nicht wenige derer, die aus dem Iran und Afghanistan zu uns kommen und den christlichen Glauben zunächst nur oberflächlich kennengelernt haben. Was ist das Wichtigste im christlichen Glauben? – So frage ich gerne. Und dann kommt sie immer wieder, diese Antwort: Dah farmon, die Zehn Gebote. Schwestern und Brüder: Wenn mir das jemand in der Prüfung vor der Taufe als Antwort gibt, dann ist die Taufprüfung sehr schnell vorbei, dann schicke ich ihn noch einmal in den Taufunterricht, dann zeigt er, dass er nichts, aber noch gar nichts vom christlichen Glauben verstanden hat.

Jesus lässt sich hier in unserer Geschichte ja scheinbar auf die religiöse Frage dieses Mannes ein, zitiert hier selber die zweite Tafel der Zehn Gebote. Doch er macht es eben gerade nicht, um den Mann zu beruhigen, der hier nach dem ewigen Leben fragt. Sondern er macht es einzig und allein, um diesem Mann deutlich zu machen, dass der Weg der Zehn Gebote eben gerade nicht der Weg zum ewigen Leben für ihn ist – eben weil es in den Zehn Geboten nicht bloß um ein anständiges Leben geht, sondern um die eine entscheidende Frage: Woran hängt dein Herz, wer ist die Nummer eins in deinem Leben, wer ist dein Gott? Der Mann, der allen Ernstes glaubt, er habe die Zehn Gebote gehalten, scheitert in Wirklichkeit schon an dem allerersten, hängt so sehr an seinem Geld und Besitz, dass er sie auch für das ewige Leben nicht einzutauschen vermag. Wer auf dem Weg der Zehn Gebote in den Himmel zu kommen versucht, der muss am Ende enttäuscht von Jesus weggehen – enttäuscht von sich selber und enttäuscht von Jesus, der sich offenbar nicht dazu hergibt, seine eigene religiöse Selbsteinschätzung zu bestätigen.

„Mensch, Jesus, warum lässt du diesen Menschen denn bloß weggehen?“ – mögen wir ihm heute zurufen. Ein solch engagierter, religiös interessierter Mensch, den müsste man doch mit allen Mitteln halten, statt ihm so vor den Kopf zu stoßen! Doch Jesus denkt offenbar ganz anders, als wir heute denken. Ihm geht es nicht um Erfolge und Mitgliederzahlen, ihm geht es nur um die eine Frage: Wie Menschen ins Reich Gottes kommen. Und wie ernst diese Frage ist, zeigen die Jünger hier in unserer Geschichte dadurch, dass sie sich gleich zweimal „entsetzen“, wie St. Markus hier betont. Wenn der Weg in den Himmel, wenn der Weg zur Seligkeit nicht über die Einhaltung der Zehn Gebote führt, wenn Geld und Besitz den Eingang in das Reich Gottes und damit zur Seligkeit fast unmöglich machen – wer kann dann selig werden?

Ach, Schwestern und Brüder, dass wir in diesem Reformationsjubiläumsjahr dies eine doch wieder neu lernen mögen, was uns zumeist längst verloren gegangen ist: Dass wir es wieder neu lernen, uns darüber zu entsetzen, dass uns von uns aus alle Wege und alle Möglichkeiten versperrt sind, ins Reich Gottes zu kommen und gerettet zu werden! Nein, solange wir noch irgendwie meinen, wir könnten es doch von uns aus schaffen, in den Himmel zu kommen und gerettet zu werden, solange wir immer noch irgendwie meinen, uns bräuchte die Frage nach dem ewigen Leben vielleicht doch gar nicht so sehr zu interessieren, weil am Ende der liebe Gott ja doch gar nicht anders kann, als uns reinzulassen, so lange werden wir die Botschaft des christlichen Glaubens nicht begreifen können, werden wir nicht begreifen können, wer Jesus Christus eigentlich ist und was er für uns getan hat!

Nein, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass du und ich ins Reich Gottes kommen – ganz gleich, ob du eine gute Rente hast oder dir das Sozialamt gerade wieder mal deine Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gekürzt hat, ganz gleich, ob du vielleicht im Iran doch noch reiche Verwandte hast, die dich unterstützen, oder ob du kaum genug zu essen hast, weil du die Hälfte deines knappen Geldes auch noch zur Unterstützung deiner Familie nach Afghanistan schickst. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass du und ich ins Reich Gottes kommen. Wir schaffen es nicht – wir scheitern an Gottes Ansprüchen alle miteinander, ohne jede Ausnahme.

Wer kann dann selig werden? Nein, nicht der, der danach fragt, was er tun muss, um das ewige Leben zu ererben. Denn bei den Menschen ist und bleibt es unmöglich. Selig werden kann nur der, den Gott durch dieses Nadelöhr hindurchzieht, eben der Gott, bei dem alle Dinge möglich sind. Selig wirst du einzig und allein durch das, was Gott an dir tut und getan hat, selig wirst du einzig und allein dadurch, dass er dich durch das Nadelöhr der Taufe hindurchgezogen und damit neu geboren hat, ohne dass du dafür auch nur das Allergeringste tun konntest. Selig wirst du einzig und allein dadurch, dass du nicht auf dich und deine Möglichkeiten schaust, sondern allein auf deinen Herrn Jesus Christus, auf den, der allein gut ist, der allein Gott ist, der allein deine Schuld und dein Versagen auf sich genommen und weggetragen hat am Kreuz, damit du nicht traurig und verzweifelt weggehen musst, sondern in seiner Nähe leben darfst.

Darum geht es in dieser Geschichte, in dieser einzigen Zumutung für religiöse Menschen, darum geht es im christlichen Glauben überhaupt: darum, dass Gott allein uns selig zu machen vermag und es auch tatsächlich tut, uns eine neue Geburt schenkt und uns damit zu Menschen macht, denen es dann auch in der Tat nicht mehr als erstes darum geht, was sie haben und besitzen, was sie in ihrem Leben erreicht haben. Ja, darum geht es gerade auch in unserer lutherischen Kirche: Dass unser Blick immer wieder von uns selber, von unseren Taten, von unseren Möglichkeiten weggelenkt wird hin auf Christus allein. Und so will ich euch zum Abschluss dieser Predigt vorlesen, was Martin Luther selber in Wirklichkeit geschrieben hat – nein, nicht der Playmobil- und Quietscheentenluther, sondern der wirkliche Luther, der uns in der Tat dazu helfen kann, immer wieder neu zu entdecken, was uns in der Heiligen Schrift gesagt wird. Ich zitiere Luther: „Mir ist es bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit unmöglich gewesen, den Forderungen Gottes zu genügen. Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen dies täglich beweinte Zurückbleiben vergebe, so ist’s aus mit mir. Ich muss verzweifeln. Aber das lass ich bleiben. Wie Judas an den Baum mich hängen, das tu ich nicht. Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi wie die Sünderin. Ob ich auch noch schlechter bin als diese, ich halte meinen Herrn fest. Dann spricht er zum Vater: Dieses Anhängsel muss auch noch durch. Es hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten. Vater, aber er hängt sich an mich. Was will’s! Ich starb auch für ihn. Lass ihn durchschlupfen. Das soll mein Glaube sein.“ Lass ihn durchschlupfen – so werden wir selig! Amen.

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