St. Markus 14,1-9 | Palmarum | Pfr. Dr. Martens
Was ist das Leben eines Menschen wert? In diesen Tagen sind wir gezwungen, zu dieser eigentlich so absurd klingenden Frage eine schmerzliche Diskussion zu führen: Was sind wir bereit, an Wohlstand dafür aufzugeben, um das Leben von Menschen, die am Corona-Virus zu sterben drohen, zu schützen? Wie weit sind wir bereit, dafür unsere Wirtschaft zu ruinieren, möglicherweise Millionen von Arbeitsplätzen zu vernichten, Menschen deswegen auch aus anderen Gründen früher sterben zu lassen? Es ist eine Diskussion, bei der wir uns mit Recht unwohl fühlen: Ist es nicht unanständig, überhaupt so zu fragen? Aber diese Fragen werden uns nicht erspart bleiben in diesen kommenden Wochen, wenn es darum geht zu entscheiden, wie lange wir den gegenwärtigen Zustand in unserem Land noch verlängern wollen. Und dann wird auch die Frage noch einmal neu zu beantworten sein: Welche Bedeutung haben Gottesdienste im Weiteren hier in unserem Land? Als damals die gottesdienstlichen Versammlungen in unserem Land verboten wurden, wurden sie in der Pressekonferenz in einem Atemzug mit dem Betrieb von Bordellen genannt, was vielleicht doch ein wenig deutlich macht, welche Bedeutung dem christlichen Glauben vonseiten der Verantwortlichen in unserem Land noch beigemessen wird. Und wenn jetzt gerade ein Sachverständigengremium erklärt hat, man müsse auch bei der Beendigung der gegenwärtigen Maßnahmen an die gesellschaftliche Bedeutung der verschiedenen Einrichtungen denken, und da seien Schulen und Universitäten wichtiger als Nachtclubs, dann fürchte ich, dass wohl auch unsere Gottesdienste im Weiteren eher unter entbehrliche Vergnügungsveranstaltungen fallen dürften, wenn nicht die Kirchen selber allmählich einmal etwas lautstärker ihre Stimme erheben.
Genau um diese so aktuellen Fragen geht es nun auch in der Predigtlesung dieses Sonntags Palmarum. Eigentlich hat sich die Geschichte erst am Mittwoch der Heiligen Woche abgespielt; aber es ist gut und sinnvoll, dass wir auch jetzt schon zum Beginn dieser Heiligen Woche uns mit dieser ungewöhnlichen Geschichte befassen.
Spannung lag damals in diesen Tagen in der Luft in Jerusalem: Ein großes Ereignis stand unmittelbar bevor, das Passahfest, das Fest der ungesäuerten Brote, zu dem die Menschen aus dem ganzen Land nach Jerusalem kamen, weil nur dort am Tempel die Passahlämmer geschlachtet werden konnten. Hochbetrieb herrschte also ohnehin in der Stadt, von Kontaktsperre keine Spur. Und dann war am Sonntag auch noch Jesus in Jerusalem eingezogen, von der Volksmenge begeistert gefeiert. Seine Gegner waren alarmiert: Was würde jetzt in Jerusalem passieren? Würde Jesus die Gunst der Stunde nutzen und während des Festes einen Aufstand oder ähnliches beginnen? Es musste schnell gehandelt werden, darin sind sich die Gegner Jesu einig. Möglichst noch vor dem Fest musste Jesus getötet werden – und dabei möglichst geräuschlos, um keinen Aufruhr bei seinen Anhängern zu verursachen.
Doch Jesus ist in Wirklichkeit gar nicht auf Krawall gebürstet. Er bleibt nach seinem Einzug auch gar nicht die ganze Zeit in Jerusalem, sondern übernachtet draußen vor der Stadt, in einem Dorf namens Betanien, in dem er offenkundig einige Freunde hatte. Zu denen zählte auch ein Mensch, der früher aussätzig gewesen und von seinem Aussatz geheilt worden war, namens Simon. Dort ist Jesus gerade zu Gast und mit dem Essen beschäftigt, als mit einem Mal eine Frau ins Zimmer tritt. Das war damals schon ganz ungewöhnlich, dass eine Frau einfach so in eine Männergesellschaft hineinkam. Doch damit nicht genug. Sie hat ein Gefäß mit dem allerteuersten Öl in der Hand, zerbricht es und gießt das Öl auf Jesu Haupt. Nun wären wir heute wahrscheinlich nicht gerade hochbeglückt darüber, wenn uns jemand ein Gefäß mit Öl über den Kopf kippen würde. Doch damals galt eine solche Salbung mit Öl als Zeichen besonderer Ehrerweisung, erst recht, wenn es sich dabei noch um ein solch unglaublich kostbares Öl handelte wie reines Nardenöl aus Indien. 300 Silbergroschen – das war mehr als ein Jahresgehalt eines normalen Arbeiters, einfach mal in ein paar Sekunden über den Kopf gegossen! Was für eine Verschwendung! So denken nicht nur die, die damals mit Jesus zu Tisch saßen beziehungsweise lagen, so mögen auch wir erst einmal ganz spontan denken: Mit dem Geld hätte man nun wirklich Besseres anfangen können, als es einfach mal schnell in Ölform jemand über den Kopf zu gießen! Wie vielen Armen hätte man damit helfen können!
Die Begleiter Jesu machen ihrem Unmut über das Handeln der Frau sehr offen Luft: Solch ein Blödsinn, was sie da veranstaltet hat! Doch Jesus verteidigt die Frau, nimmt sie ausdrücklich vor diesen Angriffen in Schutz. Doch seine Begründung hat es in sich: Jesus sagt: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass ihr die Armen unterstützt, ganz im Gegenteil! Dafür werdet ihr in der Zukunft noch reichlich Gelegenheit haben. Doch was diese Frau gemacht hat, ist etwas Einmaliges, was sich auch nicht wiederholen lässt: Sie hat erkannt, dass ich bald sterben werde – und darum hat sie schon einmal die Salbung zu meinem Begräbnis an mir vollzogen. Während meine Feinde schon alles daran setzen, mich zu verhaften und zu töten, hat diese Frau mir einen letzten Liebesdienst erwiesen, die Totensalbung. Und darum wird man in Zukunft immer auch an diese Frau denken, wenn die Geschichte von meinem Leiden und Sterben in der ganzen Welt erzählt werden wird. Ja, Recht behalten hat Jesus. Noch 2000 Jahre später wird an diesem Sonntag überall auf der Welt an diese Frau gedacht – ja, auch in Form von Internetpredigten.
Ist Jesus es wert, in Form von 300 Silbergroschen verehrt zu werden? Was für eine absurde Frage, mögen wir meinen. Jesus ist doch der Herr der ganzen Welt; da gibt es doch keine Obergrenze, um ihm unsere Wertschätzung zu zeigen.
Doch was heißt das nun ganz praktisch? Sollen wir die Wände unserer Dreieinigkeitskirche mit Gold überziehen, sollen wir all unseren Besitz der Kirche spenden, weil Jesus es doch wert ist? Ja, sollen wir vielleicht ein wenig empört auf die herabschauen, die vielleicht doch noch einen Teil dessen, was sie verdient haben, für sich selber behalten wollen? Schau doch auf die Frau hier im Evangelium! Die hat Jesus offenbar viel mehr geliebt als du!
O nein, genau darum geht es nicht, darf es nicht gehen, dass wir diese Geschichte als moralisches Druckmittel benutzen, um den Menschen Geld für die Kirche abzupressen. Jesus selber macht hier ja schon in der Geschichte deutlich, dass diese Salbung, die er empfangen hat, etwas ganz Einmaliges ist und bleibt. Denn er stirbt nur einmal, kann nur einmal gesalbt werden. Dagegen wird es immer Arme geben, so stellt Jesus ganz nüchtern fest. Diese Welt wird sich nicht in ein kommunistisches Paradies verwandeln – höchstens insofern dass in solchen Paradiesen am Ende fast alle arm sind. Und eben darum werden die, die zu ihm gehören, noch reichlich Gelegenheit haben, den Armen zu helfen. Und da darf man dann auch sehr wohl seinen Verstand einschalten, überlegen, wie das Geld, das uns zur Verfügung steht, am sinnvollsten eingesetzt werden kann. Dabei wissen wir als Christen zugleich: Wenn wir den Armen, den Kranken, ja auch den Corona-Kranken, den Fremden dienen, dann dienen wir darin ihm, Christus, selber. Ja, es mag sogar geschehen, dass wir Christus dadurch in den Kranken dienen, dass wir unsere eigenen Wünsche danach, Gottesdienst zu feiern, einmal im Einzelfall zurückstellen.
Doch ein anderes ist ebenso wichtig: Wenn ich erkannt habe, was Jesus für mich getan hat, als er auch für meine Sünden am Kreuz gestorben ist, wenn ich erkannt habe, mit was für einer Liebe mich mein Herr umfängt, dann kann ich gar nicht anders, als die Freude darüber auch zum Ausdruck zu bringen, ohne groß zu berechnen, was mich das kostet, in was für einem Verhältnis das zu dem steht, was ich empfangen habe. Es müssen nicht Ausdrucksformen sein, die sehr viel kosten. Doch es kann durchaus auch etwas sein, was Geld kostet. Ich denke etwa an unsere Abendmahlsgeräte, die aus Gold sind. Ja, die haben wir uns angeschafft, weil wir wissen, dass das, was sich in ihnen befindet, der Leib und das Blut Christi, noch tausendmal kostbarer ist als Gold. Aber es kann eben auch der Einsatz von Zeit, von Liebe, von Phantasie für die Kirche, für Christus, für die Ausbreitung des Evangeliums sein, bei dem wir jetzt nicht genau darüber nachdenken, was wir da tun, weil die Freude über Christus einfach unser Herz erfüllt. Da kann man uns nicht bremsen, so wenig, wie man damals die Frau bremsen konnte, als sie Jesus mit dem kostbaren Öl salbte. Und darum wird man uns auf die Dauer eben auch nicht bremsen können, wieder Gottesdienst zu feiern, unserem Herrn wieder nahezukommen, wenn er uns seinen Leib und sein Blut austeilen lässt. Der Gottesdienst ist eben keine Vergnügungsveranstaltung, sondern betrifft nicht weniger als unser Herz, als unser Innerstes, das wir auf die Dauer einfach nicht ausbremsen können, allemal weniger jedenfalls als unser Verlangen nach irgendwelchen sonstigen Lustbarkeiten. Ja, die Liebe zu den Armen, den Kranken, denen, die unsere Rücksicht brauchen, kann sich gewiss auf Jesu Worte berufen – aber unsere Sehnsucht danach, ihm auch leibhaftig nahe zu sein, kann es ebenfalls. Beides kann man nicht gegeneinander ausspielen. Und eben darum hoffen und beten wir, dass es nicht mehr sehr lange dauern möge, bis Predigten wie die heutige eben nicht mehr bloß im Internet verschickt, sondern tatsächlich auch wieder von der Kanzel unserer Kirche gehalten werden können. Ja, wir können die Frau hier in unserer Predigtlesung gerade in diesen Wochen immer besser verstehen! Amen.