St. Markus 3,31-35 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Die Nachricht zerriss ihm fast das Herz: „Junge, komm doch endlich wieder nach Hause zurück! Wir brauchen dich hier so dringend! Denke daran: Ich bin doch deine Mutter, du hast doch eine Verpflichtung, dich um mich zu kümmern, jetzt, wo dein Vater nicht mehr lebt! Komm wieder zurück in den Iran! Hör auf mit dem ganzen Quatsch mit diesem christlichen Glauben! Lass alles wieder so werden, wie es früher einmal war! Sei ein anständiger Muslim, kümmere dich um deine Familie, lass uns nicht länger im Stich!“
Ja, da saß er allein in seinem Heim, zerfressen von Heimweh, zerfressen von dem schlechten Gewissen gegenüber seiner Familie – und wusste nicht mehr, was er machen sollte: Ja, so gerne wollte er zurück zu seiner Familie, so gerne wollte er da sein für seine Mutter. Aber er konnte doch nicht zurück und seinen Glauben an Jesus Christus aufgeben, der ihm alles in seinem Leben bedeutete – auch wenn das Bundesamt ihm mit einer zutiefst zynischen Begründung bescheinigt hatte, dass er in Wirklichkeit doch gar kein Christ sei. Musste er nicht doch zurück zu seiner Familie – ja, war das nicht sogar ein Gebot Gottes?
Wir merken schon, wie aktuell die Worte sind, die wir eben in der Predigtlesung des heutigen Sonntags vernommen haben. Jesus selber hatte damals vor 2000 Jahren genau dieselben Erfahrungen machen müssen wie so viele Glieder unserer Gemeinde heute auch: Einen ganz anderen Weg war er gegangen als den, den seine Familie, den seine Nachbarn und Bekannten von ihm erwartet hatten. Er hatte nicht einfach den Beruf seines Vaters übernommen, hatte sich kein Haus in der Nähe seines Vaterhauses gebaut, sondern war eines Tages einfach losgezogen, hatte die Familie im Stich gelassen – und das, obwohl damals der Mann seiner Mutter, sein Stiefvater Josef, wohl schon gestorben war und seine Mutter die Hilfe des Erstgeborenen, ja möglicherweise sogar des Einziggeborenen, so dringend gebraucht hätte. Und damit nicht genug: Dann hörte die Familie nach einer Weile wieder von Jesus, hörten davon, dass er den Menschen erzählte, dass Gott sein Vater sei, ja, dass er in der Vollmacht Gottes den Menschen die Sünden vergebe. Jetzt war ihr Sohn wohl völlig durchgeknallt, dachte sich nicht nur Maria – ja, dieselbe Maria, die es doch wohl eigentlich besser hätte wissen müssen, die sich doch eigentlich hätte daran erinnern müssen, wie es dazu gekommen war, dass sie einst diesen Jesus unter ihrem Herzen trug. Doch danach war dann alles scheinbar so normal gelaufen, hatte sich Jesus so normal entwickelt wie jedes andere Kind auch, hatte sie sich so an das Leben mit ihrem Sohn gewöhnt, dass sie gar nicht mehr auf die Idee gekommen war, dass ihr Sohn eine ganz andere Bestimmung hatte, als die, die sie selber für ihn gedacht hatte. Und nun das: Ihr Sohn, auf den sie so stolz war, zog herum, umgab sich mit Leuten von zweifelhaftem Ruf, ja, tat so, als ob er der Sohn Gottes sei. Da konnte man doch nicht einfach zuschauen, wie dieser Mensch das Leben seiner ganzen Familie in Verruf brachte; da musste man etwas unternehmen! Schnell musste man ihn nach Nazareth zurückholen, irgendwo in einem Haus verstecken, bis er wieder zur Besinnung kam, bis er wieder der liebe, brave Sohn wurde, der er zuvor gewesen war. Und so marschieren sie los zu dem Ort, an dem Jesus sich gerade aufhält: Maria und die Brüder Jesu – ob das nun seine leiblichen Brüder oder seine Cousins waren, wissen wir nicht. Jedenfalls waren es die engsten Angehörigen, die Jesus hatte. Jesus zu finden war nicht schwierig – die Menschenmassen drängelten sich um das Haus, in dem Jesus sich aufhielt. Keine Chance hatten sie, direkt zu ihm ins Haus zu gehen – und so lassen sie ihn rufen: Sie möchten gerne mit ihm sprechen: seine Mutter, seine Brüder und seine Schwestern. Keine ungehörige Bitte, möchte man meinen. Musste Jesus dieser Bitte nicht nachkommen – schon allein aus Respekt gegenüber seiner Mutter und damit aus Respekt gegenüber dem vierten Gebot?
Doch die Reaktion Jesu fällt völlig anders aus, als Maria und seine Brüder, ja, als es wohl alle Menschen in seiner Umgebung erwartet hätten: Jesus stellt nämlich in Frage, was doch das Allerselbstverständlichste zu sein scheint: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ Ja, wenn das nicht klar ist! Natürlich die, die da draußen vor der Tür stehen, natürlich die, mit denen er von Kindheit an zusammen gewesen war! Doch dann gibt Jesus eine völlig andere Antwort als die, die Maria, die seine Brüder oder Cousins, die auch die Leute im Haus und davor von ihm erwartet hatten: Jesus zeigt auf die, die sich um ihn versammelt haben, die um ihn herum da im Kreis sitzen und erklärt: „Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Schwestern und Brüder: Das ist beim ersten Hinhören eine unfassliche Abfuhr an die leiblichen Verwandten Jesu, die Jesus hier vornimmt. Und in der Tat: Jesus geht offenkundig nicht heraus, geschweige denn, dass er sich von seiner Familie hätte mitnehmen und in Nazareth irgendwo in ein Zimmer hätte einsperren lassen. Er zeigt, dass er jetzt in der Tat eine völlig neue Familie hat: eben diejenigen, die sich um ihn versammeln und gerade so den Willen Gottes tun. Aber mit diesen Worten lädt er eben zugleich Menschen von überall her, aus allen Ländern und Völkern, in seine Familie ein: Dort, wo Menschen sich um Jesus versammeln, wo sie auf das hören, was er ihnen sagt, und gerade so Gottes Willen tun, da sind diese Menschen in der Tat Schwestern und Brüder Jesu, gehören mit Jesus zu der einen Familie Gottes. Und in diese Familie lädt Jesus natürlich auch Maria und seine leiblichen Verwandten ein, gar keine Frage. Und wir lesen es dann später in der Heiligen Schrift, dass Maria sich hat einladen lassen, dass sie mit dabei war, als sich die Apostel nach der Himmelfahrt des Herrn zum Gottesdienst versammelten und gemeinsam den Heiligen Geist empfingen. Ja, wir lesen es später in der Heiligen Schrift, dass einer der Brüder Jesu, Jakobus, später in der Gemeinde in Jerusalem eine bedeutende Stellung innehatte. Die scheinbare Abfuhr, die Jesus hier seiner leiblichen Familie erteilte, bedeutete gerade keinen endgültigen Bruch mit der Familie. Wohl aber machen die Worte Jesu deutlich, dass es tatsächlich etwas gibt, was noch wichtiger ist als die Zugehörigkeit zu einer leiblichen Familie: Sich um Jesus zu versammeln, auf sein Wort zu hören, in seiner Nähe zu sein, das ist in der Tat noch wichtiger, als jedem noch so gut gemeinten Rat der leiblichen Familie zu folgen.
Und damit sind wir nun schon wieder bei unserer Situation heute:
Ja, das ist eine Erfahrung, die auch in Zukunft so vielen Gliedern unserer Gemeinde nicht erspart bleiben wird: Die Erfahrung, um Jesu willen nicht den Erwartungen der eigenen Familie entsprechen zu können, die Erfahrung, nicht dem Wunsch der Familie folgen zu können, wieder zurückzukehren in die alten Verhältnisse. Wer einmal erfahren hat, was es bedeutet, zu Jesu Familie zu gehören, der kann sich aus dieser Familie nicht einfach wieder ausklinken und wieder so leben wie zuvor. Und das bedeutet nicht selten einen schmerzhaften Bruch, der auch nicht immer so gut ausgeht, wie er damals bei Jesus ausgegangen ist. Es kann passieren, dass sich dann auch die eigene Familie endgültig von einem lossagt, nichts mehr mit einem zu tun haben will. Dieser Bruch lässt sich oftmals nicht vermeiden. Denn er ließe sich nur dadurch vermeiden, dass man sich lossagt von Jesus, ihn verleugnet, seine Gemeinschaft verlässt. Und das macht Jesus hier allerdings deutlich: Wer die Gemeinschaft mit ihm verlässt, der handelt gegen Gottes Willen, der kann sich auch nicht auf Gottes Gebote berufen. Er, Jesus, steht in der Tat noch über den Eltern, über der Familie. Denn nur Jesus kann das Leben schenken, das auch die eigene Mutter nicht zu geben vermag.
Doch Jesus führt mit seinem Anspruch eben nicht nur Trennungen herbei. Sondern er stiftet eine neue Familie, in der jeder seinen Platz hat: Verheiratete Menschen ebenso wie solche, die in ihrem Leben allein geblieben sind und sich doch immer so sehr nach einer Familie gesehnt haben. Menschen, denen Gott Kinder geschenkt hat, ebenso wie solche, deren Wunsch, hier auf Erden Vater oder Mutter sein zu dürfen, nicht in Erfüllung gegangen ist. Dort, wo Menschen sich um den Altar des Herrn versammeln, um sein Wort zu hören und seinen Leib und sein Blut zu empfangen, spielt es keine Rolle, in welchem Land sie geboren sind, welche Sprache sie sprechen, welchen Aufenthaltsstatus in Deutschland sie haben. In Gottes Familie spielen Familienstand, Alter und Schulbildung keine Rolle. Da geht es nur um eines: Dass wir gemeinsam miteinander das Wort des Herrn hören, dass wir uns von ihm beschenken lassen. Ja, auch wenn du viele tausend Kilometer von deiner Familie entfernt bist – und auch wenn du vielleicht nur wenige Kilometer von deiner Familie entfernt bist und die trotzdem nichts von dir wissen will, ja, auch wenn du eigentlich in deinem Leben völlig auf dich gestellt bist: Du hast eine Familie, in der du zuhause bist, eine Familie die dich trägt und nicht allein lässt. Du bist eingebunden in eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern, die mit dir deine Liebe zu deinem Herrn Jesus Christus teilen, die dich darin besser verstehen können als viele andere, mit denen du zusammen aufgewachsen bist.
Lass dich nur ja nicht aus dieser Familie wieder herausrufen, bleibe dort, wohin Christus dich gerufen hat: bei deinen Schwestern und Brüdern, die sich um Christus versammeln! Es geht hier doch nicht bloß um nette Gemeinschaft, es geht um den, der allein dir deine Sünden vergeben, um den, der allein dir das ewige Leben zu schenken vermag: um ihn, der dich hier seinen Bruder, seine Schwester nennt. Jawohl: Hier, hier ist deine Familie! Amen.