St. Markus 7, 31-37 | Mittwoch nach dem 12. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
„Du bist ja behindert!“ – Immer wieder zucke ich zusammen, wenn Jugendliche auf diese Weise miteinander sprechen und allen Ernstes das Wort „behindert“ als Schimpfwort verwenden. Was für ein unseliges, furchtbares Denken, das auch mehr als siebzig Jahre nach dem Ende der Massentötungen behinderter Menschen in unserem Land immer noch in so vielen Köpfen herumschwirrt und über so viele Lippen den Weg in die Öffentlichkeit findet!
Wenn wir mit dem Finger auf einen anderen Menschen zeigen und ihn als „behindert“ abstempeln, dann haben wir nicht nur nichts aus den Folgen eines solchen Denkens gelernt – wir haben vor allem überhaupt noch nicht verstanden, was „behindert sein“ bedeutet: Als ob wir andere Menschen als „behindert“ abstempeln und uns selber damit so einfach als „nicht behindert“ qualifizieren könnten!
Die Kirche hat dies seit alters her ganz anders und viel qualifizierter gesehen. Schon in der Liturgie der alten Kirche findet sich bei der Taufe eines Kindes der sogenannte „Hephata“-Ritus, der dem Heiligen Evangelium dieses Sonntags entnommen ist: Der Täufling wird, wie einst der Taube und Stumme in der Geschichte, mit „Hephata“ angeredet – und damit wird deutlich gemacht, dass jeder Mensch, ohne Ausnahme, taub und stumm geboren wird, taub für Gottes Wort, unfähig zum Lobpreis Gottes.
Ein Wunder ist es also jedes Mal, wenn ein Mensch anfängt, auf Gottes Wort zu hören, wenn dieses Wort nicht an ihm abprallt, sondern sein Herz erreicht. Ein Wunder ist es jedes Mal, wenn ein Mensch öffentlich bekennt: „Ich glaube an Jesus Christus.“
„Sie wunderten sich über die Maßen“, so heißt es hier im Heiligen Evangelium. Schwestern und Brüder: Wundern wir uns noch über die Maßen über das, was immer wieder neu in unserer Mitte geschieht? Es ist doch immer wieder dieselbe Geschichte, die sich damals im Gebiet der Zehn Städte ereignet hat und auch heute in unserer Mitte stattfindet:
Da wird ein Mensch zu Jesus gebracht. Nein, er kommt nicht allein – dazu wäre er überhaupt nicht in der Lage, weil er von sich aus doch gar nicht hätte vernehmen können, dass Jesus da ist, dass es gut und wichtig ist, zu ihm zu kommen. Da wird ein Mensch zu Jesus gebracht – so gehen die Geschichten hier bei uns in der Gemeinde auch immer wieder los. Menschen werden nicht dadurch Christen, dass sie irgendwelche klugen Bücher über verschiedene Weltreligionen lesen und sich dann aufgrund dessen für den christlichen Glauben entscheiden. Sondern der Weg von Menschen zum christlichen Glauben beginnt auch bei uns immer wieder damit, dass da Menschen, die selber schon Christen sind, einen anderen Menschen mitbringen, ihn zu Jesus führen, ihn, der selber zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar keinen rechten Zugang zu dem hat, was ihn da eigentlich erwarten könnte.
Und was macht Jesus mit diesem Menschen? Er nimmt ihn zunächst einmal zur Seite. Wenn Jesus Menschen Ohren und Lippen öffnet, dann macht er dies nicht in Form einer Massenbehandlung, sondern so, dass er sich jeden Menschen einzeln vornimmt, jeden Menschen auch wieder einzeln und in ganz besonderer Weise anspricht. Menschen sind für ihn keine Demonstrationsobjekte, erst recht keine Massenware. Hier in unserer Gemeinde dürfen wir das Wunder der Öffnung von Ohren und Lippen ja sehr oft erleben. Und doch ist jede Geschichte, die ein Täufling über seinen Weg zum christlichen Glauben zu erzählen weiß, wieder anders, hat Christus jeden Menschen noch einmal anders geführt und gepackt, ja, ganz persönlich – eben weil man sich nicht in der Masse verstecken kann, wo Christus einen ganz persönlich anspricht. Und das wird ja schließlich dann auch im Taufgottesdienst selber deutlich: Auch wenn es deswegen länger dauert – wir können nicht darauf verzichten, dass jeder Täufling je für sich, von Christus beiseite genommen, vor der Gemeinde dem Teufel und dem Islam absagt und sich zum dreieinigen Gott bekennt. Zu Christus geführt werden kann ich auch erst einmal von anderen. Aber dann werde ich von Christus beiseite genommen – das gilt für jeden von uns, ganz gleich, wann wir getauft worden sind oder noch getauft werden.
Eines ist allerdings bei allen wieder gleich: Christus bedient sich bei der Öffnung unserer Ohren und Lippen immer wieder äußerlicher Mittel. Anstößig mögen uns die Mittel erscheinen, die er damals verwendet hat: Das Bohren der Finger in den Ohren, der Speichel, mit dem Jesus die Zunge dieses Menschen berührt, die fremde Sprache, die er als lösendes Wort spricht. Doch genau das ist die Art, wie Jesus auch heute noch Menschen zum Hören auf sein Wort und zum Bekenntnis führt: Anstößige äußere Mittel sind es: Worte in einer fremden Sprache, die erst einmal übersetzt werden müssen und doch in sich selber Kraft haben wie damals auch, ein bisschen Wasser, über den Kopf gegossen, die Berührung der Zunge scheinbar mit nicht mehr als einem Stück Brot. Doch dadurch wirkt Jesus Heilung, Hören und Bekennen: Menschen fangen an zu hören und richtig zu reden, werden von Jesus dadurch neu geschaffen, dass sie wieder so sind, wie Gott sie ursprünglich einmal haben wollte. Ja, ein Wunder ist es allemal, wenn Menschen sich nicht mehr gleich dem Wort Gottes verschließen, sondern beim Hören auf dieses Wort erkennen: Das geht mich und mein Leben an! Und ein Wunder ist es allemal, wenn ein Mensch, der sein ganzes Leben lang bisher gehört hatte, dass Gott keinen Sohn hat, nun bekennt: Ich glaube an Jesus Christus, Gottes Sohn, meinen Herrn.
Und in diesem Wunder sind wir alle miteinander gleich: Menschen, die leiblich Probleme haben zu hören und die doch, so habe ich gelernt, nicht gerne „taubstumm“ genannt werden, weil sie, gottlob, vielfältige Wege gefunden haben, mit anderen Menschen zu kommunizieren, und von daher keinesfalls „stumm“ sind. Menschen, die vielleicht körperlich dazu in der Lage wären, zu hören und zu sprechen, die aber aus anderen Gründen blockiert sind, dass ihnen Hören und Sprechen so schwerfällt, und Menschen, die scheinbar keine Probleme mit dem Hören und Sprechen haben, die vielleicht sogar andere Menschen dauernd zutexten und kaum merken, dass sie zum Zuhören kaum in der Lage sind. Gemeinsam haben wir dies eine, dass Christus selber mit seinen so unscheinbaren Mitteln an uns gehandelt hat und uns nun gemeinsam in den Lobpreis der Volksmenge damals einstimmen lässt. Wir haben in unserer Gemeinde ja nun schon eine Reihe von gehörbehinderten Menschen, die den Weg zu Jesus Christus gefunden haben, haben auch jetzt wieder gehörbehinderte Menschen im Taufunterricht. Die hören in Wirklichkeit viel mehr als manch andere, die scheinbar keine Hörprobleme haben und doch weiter taub sind für die wichtigste Botschaft der Welt.
Eines bleibt allerdings richtig und wichtig: Wenn wir von dem sprechen wollen, was Jesus gesagt und getan hat, müssen wir erst einmal hören können. Sprechen setzt Hören voraus. Nutzen wir also unsere von Christus geöffneten Ohren, um immer mehr von ihm, Christus, von seinem Wort zu erfahren, damit wir dann auch sprachfähig werden, fähig dazu, andere Menschen zu Christus zu führen, fähig dazu, das Wort von Christus so auszubreiten, wie es damals die Leute auch getan haben. Dass wir heute auch mit den Augen hören können, dass es dazu so viele Mittel gibt, um mehr von Christus zu erfahren, sollte uns dazu erst recht ein Ansporn sein.
Jesus hat damals dies Wunder in einer Gegend außerhalb des israelitischen Kernlands vollbracht, hat deutlich gemacht, dass gerade auch Menschen, die nicht immer schon zum Volk Gottes dazugehören, zum Hören und Bekennen geleitet werden. Die, die heute zum Hören und Bekennen in unserer Mitte geführt werden, gehören auch nicht unbedingt zu den ersten, die man hier im Haus Gottes erwarten würde. Jesus überschreitet heute auch wieder Grenzen – nicht anders als damals auch. Mögen wir nicht aufhören, darüber zu staunen und zu bekennen: Jawohl, Gott hat alles wohl gemacht, auch in unserer Mitte: Die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Amen.