St. Markus 8,1-9 | Erntedankfest | Pfr. Dr. Martens
Und wie kommen wir nun aus der ganzen Geschichte wieder heraus? Da hatten wir vor sieben Jahren hier in Steglitz unser Missionsprojekt begonnen. Zunächst war die Zahl derer, die zu uns kamen, noch überschaubar. Aber dann wurden es immer und immer mehr, viele hundert, schließlich weit über tausend. Sie hatten Hunger nach dem Evangelium, Hunger nach der wunderbaren Botschaft des christlichen Glaubens, und teilten das Brot des Lebens aus, so gut wir konnten. Gottlob wurden uns aus Finnland hauptamtliche Mitarbeiter geschenkt, die in dieser Zeit, als die Menschen in immer größeren Scharen zu uns strömten, da waren, mit anpacken, mit austeilen konnten, sich um die Menschen kümmern konnten. Denn eines wurde uns in dieser Arbeit schnell klar: Die, die zu uns kommen, brauchen nicht nur das Brot des Lebens, sie brauchen auch ganz konkrete leibliche Unterstützung, Hilfe in ihren Asylverfahren, Hilfe in ihren vielfältigen seelischen und auch leiblichen Nöten.
Doch nun stehen wir da und merken, dass wir an eine Grenze gekommen sind: Ja, die Menschen sind immer noch da, kommen immer noch in großen Scharen; ihre Bedürfnisse sind nicht weniger, sondern mehr geworden. Doch wir merken immer deutlicher: Wir schaffen es mit unseren Kräften nicht, ihnen noch so zu helfen, wie es eigentlich nötig wäre. Die hauptamtlichen Mitarbeiter zur Unterstützung unserer Arbeit fehlen uns, unsere verbliebenen Kräfte werden nicht mehr, sondern weniger – aber wir können doch nicht einfach die Augen verschließen vor der Not, in der die Leute sich befinden, die sich da bei uns versammelt haben!
Hochaktuell ist gerade auch auf diesem Hintergrund die Predigtlesung des heutigen Erntedankfestes, die Erzählung von der Speisung der 4000 aus dem Markusevangelium. Da klingt vieles so ganz ähnlich, wie wir es hier in der Arbeit unserer Gemeinde erfahren. Da sind auch damals schon viele Menschen zu Jesus geströmt. Wenn wir uns den Zusammenhang dieser Geschichte anschauen, dann stellen wir fest: Diese Leute, von denen hier berichtet wird, waren wohl zu einem großen Teil keine Juden, denn Jesus befindet sich zu dieser Zeit gerade in einem Gebiet, in dem im Wesentlichen Nichtjuden lebten, Leute, die doch eigentlich gar nicht zum Volk Gottes gehörten. Doch auch sie finden den Weg zu Jesus und bleiben drei ganze Tage bei ihm. Was Jesus in diesen drei Tagen mit ihnen gemacht hat, wird uns hier nicht erzählt. Vermuten können wir, dass er ihnen viel von Gott, seinem Vater, erzählt hat, dass er sie etwas von der Liebe dieses Gottes hat erfahren lassen. Doch nun nach drei Tagen sind es nicht die Jünger, sondern ist es Jesus selbst, der feststellt: Es muss etwas passieren: Wir befinden uns hier in der Einöde, in einem Bereich, wo es weit und breit kein Essen zu kaufen gibt, von Schnellimbissen ganz zu schweigen. Und die Leute sind hungrig, sind mittlerweile in einer ganz ernsten Lage: Sie schaffen das gar nicht mehr aus eigenen Kräften, von ihr aus wieder an einen Ort zurückzukommen, wo sie sich wieder mit Verpflegung versorgen könnten. Jesus sieht: Ich habe für diese Menschen eine Verantwortung; schließlich sind sie ja die ganze Zeit bei mir gewesen. Ich kann sie jetzt, wo es darauf ankommt, nicht einfach wieder wegschicken und so tun, als gingen mich ihre Probleme nichts an. „Mich jammert das Volk!“ – So formuliert Jesus, was er in dieser Situation mit den Menschen, die ihn da umgeben, empfindet.
Seine Jünger sind für Jesus in dieser Situation nicht gerade eine Hilfe. Sie haben angesichts der Größe des Problems, das sich da vor ihnen auftut, schon resigniert: „Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, dass wir sie sättigen?“ Die Jünger sind nun schon so lange mit Jesus zusammen, haben sogar schon erlebt, wie er zuvor bereits 5000 hungrige Leute gespeist hatte. Doch sie schauen nur auf ihre eigenen Kräfte, rechnen mit nicht mehr als dem, was die Statistiken an Wahrscheinlichkeiten so hergeben. Sieben Brote für 4000 Leute – das reicht vorne und hinten nicht, das ist geradezu lächerlich.
Und so muss Jesus selber alles tun: Er lässt die Leute sich lagern, er nimmt die Brote, dankt, bricht sie und lässt sie austeilen, dazu auch noch ein paar Fische, über denen er das Segensgebet spricht. Und dann passiert, was unsere menschlichen Berechnungen und Vorstellungen so ganz und gar übersteigt: 4000 Menschen werden satt, und es bleiben sogar noch sieben Körbe mit Brocken übrig. Danach konnte Jesus die Leute dann auch guten Gewissens nach Hause schicken.
Ja, wie aktuell ist diese Geschichte gerade auch für uns: Wir erleben auch gerade, dass wir uns, im Bilde gesprochen, in der Einöde befinden, dass wir ganz auf uns selbst gestellt sind hier in unserer Gemeinde und nicht mit Hilfe von außen rechnen können. Die Leute sind zu uns gekommen, ja, natürlich weil sie Jesus hören wollten. Aber natürlich haben sie zugleich auch darauf vertraut, dass wir sie auch in ihren leiblichen Problemen nicht im Stich lassen würden, dass wir ihnen nicht einfach nur das Evangelium predigen würden und sie dann wieder wegschicken würden, sondern dass wir auch darüber hinaus für das sorgen, was sie brauchen. Und jetzt stehen wir da mit diesen vielen Menschen. „Mich jammert das Volk!“ – So formulierte es Jesus damals, und besser können wir es auch nicht formulieren. Uns dreht sich innerlich alles um, wenn wir die Nöte der Menschen sehen, die sich bei uns versammeln. Uns dreht sich innerlich alles um, wenn wir sehen, in was für einer verzweifelten Lage sich so viele von ihnen befinden: Kaputtgemacht worden sind so viele von ihnen durch deutsche Behörden und Gerichte, mit ihren Kräften am Ende, oft genug reif für die Psychiatrie – und schon schwach genug, dass sie noch nicht einmal dorthin den Weg allein schaffen. Sie drohen zu „verschmachten“, so übersetzt es Martin Luther so schön hier. „Verschmachten“ – ja, das Wort passt auch für die Leute, die sich bei uns eingefunden haben. Sie gehen zugrunde, wissen nicht mehr weiter, können sich selber nicht helfen – und wir merken, wie wir da, im Bilde gesprochen, mit unseren sieben Broten für die viertausend Leute dastehen und keine Ahnung haben, wie wir damit den Leuten helfen sollen, wie wir damit verhindern sollen, dass sie endgültig kaputtgehen, sich nur noch danach sehnen, möglichst bald sterben zu können. Beinahe täglich führe ich zurzeit Gespräche, in denen Glieder unserer Gemeinde davon sprechen, wie sehr sie sich danach sehnen, endlich sterben zu können – nein, keine 90 oder 95 Jahre alten Gemeindeglieder, sondern Gemeindeglieder zwischen 20 und 35. Völlig kaputt sind sie, und ich weiß nicht, wie ich ihnen mit den geringen Kräften, die ich habe, auch nur irgendwie helfen kann und soll. Was soll ich einem Menschen sagen, der gerade die Nachricht erhalten hat, dass die iranischen Sicherheitskräfte seinen Vater gefoltert haben, weil sein Sohn Christ geworden ist, was soll ich diesem Menschen sagen, wenn er in derselben Woche die Nachricht vom BAMF erhält, dass sein Asylantrag offensichtlich unbegründet sei und nichts dagegen spreche, ihn in den Iran zurückzuschicken? Wenn er nicht freiwillig zurückkehrt, darf er noch nicht einmal arbeiten, hat wenig, was ihn von diesem Albtraum ablenken kann, in dem er sich befindet. Was soll ich einem Menschen sagen, der seit vielen, vielen Jahren auf seine Gerichtsverhandlung wartet, der miterlebt, wie seine Frau und sein Kind zu Hause schwer erkrankt sind und der nun noch hört, dass ein Richter über seinen Fall urteilen wird, der noch nie einem christlichen Flüchtling Recht gegeben hat? Menschen, verschmachtet, verzweifelt – ich kann und will sie nicht wegschicken und habe doch nur die paar Brote in der Hand, meine eigenen Kräfte, die letztlich so wenig zu bewirken vermögen.
Was uns bleibt, ist einzig dies, dass wir nicht denselben Fehler wie die Jünger damals machen und nur auf unsere eigenen Möglichkeiten schauen. Was uns bleibt, ist einzig dies, dass wir nicht vergessen, dass wir auch und gerade da, wo unsere eigenen Kräfte, auch unsere personellen Kräfte schwinden, dass wir auch und gerade da nicht allein auf uns gestellt sind, sondern den in unserer Mitte haben, den die Jünger damals offenkundig übersehen haben: Ihn, Christus, den Herrn, ihn, dessen Möglichkeiten da gerade erst anfangen, wo wir nur noch wahrnehmen, dass wir einsam und allein in der Einöde stehen.
Nein, wir sind in der Geschichte noch nicht an dem Punkt, dass wir miterlebt haben, dass Jesus bewirkt hat, was wir nicht erwarten konnten, dass er den Menschen, die sich um ihn versammelt hatten, aus ihrer Not herausgeholfen hat. Wir sind noch mittendrin, können nur darauf vertrauen, dass Jesus diese verschmachteten, kaputt gemachten Menschen nicht weniger jammern als das Volk, das er damals sah, auch. Wir können nur darauf vertrauen, dass Jesus immer wieder aus ganz geringen Möglichkeiten und Kräften viel mehr schafft, als wir auch nur ansatzweise zuvor erahnen konnten.
Auf ihn wollen wir darum unseren Blick richten, nicht auf uns selber, wenn wir die Menschen mit ihren Nöten vor uns haben. Und dann wollen wir uns gerade heute an diesem Erntedankfest in der Corona-Zeit daran erinnern lassen, dass Gott uns auch in diesem vergangenen Jahr wieder durch alle Schwierigkeiten hindurchgeholfen hat, dass er uns letztlich nicht nur mit ausreichend Toilettenpapier versorgt hat, sondern mit noch so viel mehr, woran uns die Gaben, die heute bei uns vor dem Altar aufgebaut sind, erinnern. Jesus hat uns nicht im Stich gelassen – und er wird es auch weiter nicht tun.
Und um unser Vertrauen auf ihn gegen allen Augenschein zu bestärken, lässt Jesus jetzt gleich wieder hier auf unserem Altar ein noch viel größeres Brotwunder geschehen, nimmt das Brot, dankt und bricht es, lässt uns sodann erfahren, wie das Brot auf dem Altar sein Leib, wie der Wein auf dem Altar sein Blut wird. Wie das geht, das können wir ebenso wenig verstehen, wie die Jünger damals verstanden, was eigentlich geschah, als sie die Brote an die 4000 Menschen austeilten. Aber wir erfahren darin: Derselbe Herr, der damals dem Jammer der 4000 gewehrt hat, ist auch heute in unserer Mitte, stillt unseren Hunger nach Leben, schenkt denen Kraft, die nur noch am Boden sind, lässt uns leibhaftig erfahren, dass wir in der Einöde nicht allein sind, sondern ihn, den lebendigen Herrn, bei uns haben. Ihm wollen wir die verzweifelten und verschmachteten Glieder unserer Gemeinde anvertrauen, ihm wollen wir uns auch selber mit unseren kleinen Kräften anvertrauen. Jesus weiß, wie es uns allen miteinander geht, und er hat uns gezeigt, wie sehr ihm die Not der Menschen an die Nieren geht. Das soll und das darf genug sein heute an diesem ungewöhnlichen Erntedankfest in unserer Gemeinde. Amen.