St. Matthäus 11,25-30 | 2. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Er zitterte am ganzen Körper, der junge Afghane, der da im Verhandlungsraum des Verwaltungsgerichts Platz genommen hatte. Vieles Schwere hatte er in seinem Leben durchgemacht, bis ihn schließlich hier in Deutschland die Botschaft des christlichen Glaubens gepackt hatte, eine Ruhe, einen Frieden, ja Freude in sein Leben gebracht hatte, wie er sie bisher noch nie erlebt hatte. Ja, dafür, dass er sich hatte taufen lassen, hatte er sich in seinem Heim von seinen Landsleuten sogar verprügeln lassen; das hatte ihm gar nicht so viel ausgemacht. Aber was er jetzt an diesem Vormittag erlebte, war für ihn ungleich schrecklicher: Da sollte er Fragen beantworten, die für ihn viel zu schwierig und kompliziert waren – schließlich war er nur drei Jahre zur Schule gegangen, bevor er schon als Kind arbeiten gehen musste, um seine Familie zu ernähren. Er stammelte immer wieder nur etwas davon, dass er doch seinen Herrn Jesus Christus lieb habe, dass der für ihn doch am Kreuz gestorben sei – doch dabei blickte er in das Gesicht einer Richterin, die über solch einen primitiven Glauben nur spöttisch lächeln konnte. Die Feste des Kirchenjahres sollte er aufzählen – ja, wie sollte er das? Er war doch jeden Sonntag in der Kirche – und jeder Sonntag war für ihn wie ein Fest gewesen. Doch erklären konnte er das alles der Richterin nicht. Jesus hatte doch sein Leben verändert; es war doch nicht seine Entscheidung gewesen. Wie sollte er ihr das nur klarmachen? Das Urteil der Richterin war schnell gesprochen: Der Kläger konnte nicht nachvollziehbar die Gründe darlegen, warum er Christ geworden war, konnte nicht überzeugend die Inhalte seines Glaubens darlegen – ab nach Afghanistan mit ihm!

Er gehörte zu den treusten Gliedern unserer Gemeinde; so bezeugte ich es auch vor dem Richter des Verwaltungsgerichts. Doch der wollte unbedingt wissen, welche Inhalte des christlichen Glaubens er denn ablehnen würde, von welchen er sich kritisch distanzieren würde. Aber das konnte und wollte er doch gar nicht! Er hatte doch verstanden, dass die Bibel Gottes Wort ist, dass sie ihm den Weg zum Leben weist. Wie sollte er da in Frage stellen, was sie sagte! Offen sprach er dies aus – und sprach sich damit gleichsam schon selbst das Urteil: Fehlende intellektuelle Auseinandersetzung mit dem neuen Glauben – das zeigt, dass keine ernsthafte Konversion bei ihm stattgefunden hat: Ab in den Iran mit ihm!

Auf geradezu tragische Weise erleben wir in unserer Gemeinde beinahe Woche für Woche, wie hochaktuell die Worte unserer heutigen Predigtlesung sind, die wir eben gehört haben: Gott verbirgt den Weisen und Klugen den Zugang zu sich – und schenkt ihn den Unmündigen, den aus der Sicht der Weisen und Klugen Primitiven und Dummen. Leute mit abgeschlossenem Universitätsstudium sind davon überzeugt, dass sie natürlich genau wissen, worum es im christlichen Glauben eigentlich geht und was einen richtigen Christen ausmacht, merken überhaupt nicht, wie blind sie in Wirklichkeit sind, merken überhaupt nicht, dass sie von dem, was den christlichen Glauben ausmacht, unendlich weniger Ahnung haben als diejenigen, auf deren scheinbar so primitiven Glauben sie kopfschüttelnd herabblicken.

Damals jubelte Jesus darüber, dass Gott das den Weisen und Klugen verborgen hat, was er den Unmündigen offenbart hat. Ob Jesus heute auch jubeln würde über das, was seinen geringsten Brüdern und Schwestern in unserem Land angetan wird, wage ich eher zu bezweifeln. Ich kann mir schon eher vorstellen, dass Jesus heute, wie einst im Tempel in Jerusalem, eine Geißel aus Stricken machen würde und all diejenigen aus dem Gerichtsgebäude heraustreiben würde, die denen, die zu ihm gehören, ihren Glauben abzusprechen versuchen.

Ja, es ist schon hochproblematisch, dass die Entscheidungen, die Gerichte in unserem Land fällen, von vornherein auf Grundlagen getroffen werden, die dem christlichen Glauben wesenhaft widersprechen. Das kann nur schlecht ausgehen für die, denen Jesus selber hier den Glauben zuspricht, den Glauben, den sich kein Mensch selber aussuchen kann, sondern den nur Jesus selber zu offenbaren, zu schenken vermag, ohne dass man das Zustandekommen dieses Glaubens nun auch immer gleich intellektuell befriedigend erklären könnte.

Die Weisen und Klugen – sie scheinen immer wieder zu triumphieren, und die Unmündigen, sie scheinen zu unterliegen. Und dennoch hat Jesus allen Grund, Gott, seinen Vater eben dafür zu preisen, dass er nicht den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt folgt, dass der Glaube gerade kein Privileg des deutschen Bildungsbürgertums ist. Glauben ist eben gerade keine Leistung, die Menschen mit ihrem Gehirn oder mit anderen Körperteilen vollbringen; Glauben hängt nicht von meinen menschlichen Fähigkeiten ab, erst recht nicht von der Höhe meines Schulabschlusses. Bei Gott haben Analphabeten keine schlechteren Chancen als Einserabiturienten – eher im Gegenteil: Wer glaubt, sich mit seinem Denken, mit seiner Intelligenz den Weg zu Gott bahnen zu können, verbaut sich im Gegenteil den Zugang zu ihm. Und so mögen bestimmte gesellschaftliche Kreise auch auf unsere Gemeinde spöttisch herabschauen – Jesus jubelt über sie, jubelt über all die Menschen, die in den Augen der Weisen und Klugen nicht den intellektuellen Anforderungen entsprechen, die ein Christ ihrer Meinung nach erfüllen muss, und die in Wirklichkeit doch viel dichter dran sind an ihm, Christus, als die, die ihnen ihren Glauben absprechen.

Doch in dieser Welt wird dieser Konflikt immer wieder auf dem Rücken der Unmündigen, der schlichten, einfachen Christen ausgetragen – und so spricht Jesus eben sie zugleich als die Mühseligen und Beladenen an, als diejenigen, die so viele Lasten auf ihren Schultern tragen, dass sie kaum noch atmen können.

„I can’t breathe“ – Ich kann nicht mehr atmen! Diese Worte des Afroamerikaners George Floyd, der von einem Polizisten getötet wurde, sind in diesen vergangenen Wochen zu einem geflügelten Wort in der Rassismus-Debatte geworden, die dieser Tod ausgelöst hat. „I can’t breathe“ – ja, genau das ist die Erfahrung, die auch so viele Glieder unserer Gemeinde machen, die die Knie des BAMF oder der Verwaltungsgerichte so deutlich auf ihrem Hals spüren, ja, denen am Ende einfach die Luft wegbleibt, wenn ihnen am Ende der Staat bescheinigt, dass sie in Wirklichkeit gar keine ernsthaften Christen sind. Das nimmt so manchem so sehr die Luft zum Leben, dass er versucht, selber diesem Leben ohne Luft ein Ende zu setzen. Mühselige und Beladene – als wir in unserer Kirche noch gemeinsam Gottesdienst feiern durften, da sah ich die ganze Schar der Mühseligen und Beladenen mit einem Mal vor mir. Jetzt schauen sie alle nacheinander die Woche über in der Kirche vorbei.

Ihnen allen ruft Jesus zu: „Ich will euch erquicken, ich will euch aufatmen lassen, ich will euch wieder Luft zum Leben geben! Ja, kommt her zu mir!“ Und genau so erleben es unsere Gemeindeglieder dann auch in der Tat in unseren Gottesdiensten: „Man sabok shodam“ – „Ich bin leicht geworden“, so sagen sie es anschließend immer wieder. Lasten, die sie zu Boden gedrückt haben, sie können hier am Altar abgeladen werden, wenn Mühselige und Beladene den Leib und das Blut ihres Herrn im Heiligen Mahl empfangen. Für Weise und Kluge nur ein Anlass zu spöttischem Grinsen, ich weiß. Doch die, die erfahren haben, dass ihr Herr Jesus Christus nicht bloß ein Gedankenkonstrukt ist, sondern leibhaftig in ihnen Wohnung nimmt, die wissen, wovon Christus hier redet: Von seinem Joch redet er hier, das wir auf uns nehmen sollen und dürfen. Mit einem Joch wurden damals zwei Tiere bei der Arbeit verbunden: Gemeinsam trugen sie die Last, die auf ihnen lag. Ja, das ist das Geheimnis dessen, was hier in jedem Gottesdienst geschieht: Dass wir mit Christus zusammen unter ein Joch gespannt werden, dass Christus selber trägt, was für uns allein zu tragen viel zu schwer zu werden droht.

Ja, die Mühseligen und Beladenen, die, die unter ihrer Last kaum noch atmen können, ruft Christus zu sich. Er ruft die zu sich, die auf Sektempfängen oder in Gerichtsverhandlungen keine gute Figur abgeben; er ruft die zu sich, die nicht wissen, wie sie überhaupt nicht die nächsten Schritte in ihrem Leben noch bewältigen sollen. Und ihnen verspricht Jesus etwas, was in den Entscheidungen der Behörden unseres Landes immer wieder nur mit abfälligem Spott kommentiert wird: Ruhe für die Seele, aramesh. Nein, das hat nichts mit der Suche nach einem westlichen Lebensstil zu tun, wie das Bundesamt immer wieder argwöhnt. Die Ruhe, die Christus den Mühseligen und Beladenen schenkt, die können wirklich nur die wirklich schätzen, denen vorher die Luft zum Atmen abhandengekommen war. Ja, Menschen, die erfahren haben, wie Christus in ihnen in allen äußeren und inneren Nöten ihres Lebens diese Ruhe schenkt, die lernen dann tatsächlich auch von Jesus selbst.

Neulich erhielt eines unserer treusten afghanischen Gemeindeglieder seinen Abschiedebescheid. Noch wenige Wochen zuvor hatte ich in einer Bescheinigung geschrieben, dass ich in seinem Fall in besonderer Weise von der Ernsthaftigkeit seiner Hinwendung zum christlichen Glauben überzeugt bin. Ich war außer mir vor Ärger über dieses Unrecht, das diesem jungen Christen zugefügt wurde. Doch er schrieb mir zurück: „Ich versuche ehrlich zu leben, ganz ohne Sorgen. Das habe ich im christlichen Glauben gelernt. Ob das Gericht und das BAMF mir glauben, das habe ich nicht in der Hand. Aber das ist für mich auch nicht entscheidend.“ Da hatte dieser junge Christ mehr von Christus, mehr von seiner Sanftmut und Demut gelernt als ich, strahlte aramesh aus, die mir in diesem Augenblick offenkundig fehlte. Ja, genau das ist das Wunder, das Christus an denen bewirkt, die er zu sich ruft: Er schenkt Ruhe und Frieden, die man mit den Mitteln dieser Welt nicht erklären kann. Davon kann wirklich nur der sprechen, der sich mit Christus immer wieder im Heiligen Mahl durch sein Joch verbinden lässt. Der kann dann in der Tat bezeugen, was doch menschenunmöglich erscheint: Sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht. Unfasslich, aber wahr! Höre darum auf ihn, deinen Herrn, auf seine Einladung! Sie gilt auch dir, ganz gewiss: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch aufatmen lassen!“ Ach, wie gut! Amen.

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