St. Matthäus 18, 15-20 | Mittwoch nach dem 22. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Interessiert es euch, ob ein anderes Gemeindeglied sündigt? Interessiert es euch so sehr, dass ihr dieses andere Gemeindeglied auf seine Sünde ansprecht und es auf den rechten Weg zurückzuführen versucht? Oder kommt euch das alles völlig weltfremd vor, was Jesus hier in der Predigtlesung des heutigen Abends, die dem Evangelium dieser Woche im Matthäusevangelium unmittelbar vorangeht, zu sagen hat?

Ja, wir tun uns schwer damit, ein anderes Gemeindeglied auf seine Sünde anzusprechen, seien wir ganz ehrlich! Wir leben in einer Zeit, in der Glaube und Religion weitgehend nur noch als Privatangelegenheit angesehen werden. Ich komme zur Kirche, hole mir dort die geistliche Erbauung, die ich brauche, und hoffe, dass ich dabei möglichst wenig gestört werde. Und ich billige den anderen in der Gemeinde zu, dass sie genau dasselbe Bedürfnis haben wie ich, und fange nicht an, mich in ihr Leben einzumischen, solange sie mich einigermaßen in Ruhe lassen. Und abgesehen davon: In was für einer Position wähne ich mich denn, wenn ich anfangen sollte, einen anderen Menschen auf seine Sünde anzusprechen? Das muss der doch so verstehen, als würde ich über ihn und über sein Leben zu Gericht sitzen! Nein, das will ich wirklich nicht!

Merkwürdig ist es jedoch, dass wir mitunter auch wieder sehr wenig Scheu haben, über die Sünden anderer Menschen, ja gerade auch anderer Gemeindeglieder zu sprechen – wenn die nämlich nicht anwesend sind. Dann macht es sehr viel Freude, zu einer informellen Gerichtsverhandlung zusammenzukommen und sich über das Fehlverhalten dieses anderen Menschen das Maul zu zerreißen. Es tut ja so gut zu erkennen, dass es Menschen gibt, die doch noch deutlich schlechter sind als man selber! Ja, offenbar interessiert uns die Sünde anderer Menschen dann doch wieder ganz schön, wenn es darum geht, uns selber dadurch in ein besseres Licht zu stellen.

Jesus mahnt uns in der Predigtlesung des heutigen Abends allen Ernstes dazu, den Bruder oder die Schwester auf seine und ihre Sünde anzusprechen. Und dabei geht es nicht bloß um die Sünde, die der andere gegen mich begangen hat, auf die ich ihn ansprechen soll, wie es in der Lutherübersetzung heißt. Im Urtext heißt es ganz allgemein: Sündigt dein Bruder ... Es geht nicht um persönliche Betroffenheit, es geht in der Tat einzig und allein um das Schicksal des Bruders oder der Schwester. Es geht Jesus nicht darum, sie zu erziehen oder ihnen Benehmen beizubringen. Wer sündigt, wer sich gegen den Willen Gottes stellt, dem droht geistlicher Schaden, dem droht eine Beschädigung seines Verhältnisses zu Gott – oder anders ausgedrückt: Seine Sünde ist eben schon Ausdruck eines solch beschädigten Verhältnisses zu Gott. Und da können und dürfen wir nicht wegschauen, sagt Jesus. Das wäre Gleichgültigkeit und damit genau das Gegenteil von Liebe. Ja, Liebe ist angesagt, wenn die Schwester, wenn der Bruder sündigt, ganz klar.

Liebe bedeutet von vornherein, dass wir niemals über einen anderen Menschen zu Gericht sitzen, dass wir ihn niemals von oben herab ansprechen, als ob wir uns nun in die Niederungen des sündigen Lebens des anderen herabbegeben würden. Nein, wir können den Bruder, die Schwester in der Gemeinde immer nur als Menschen ansprechen, die selber ganz und  gar aus der Vergebung leben – und die umgekehrt nur ein Ziel kennen: eben dass auch die Schwester, der Bruder umkehrt und die Vergebung von Gott empfängt.

Und von daher wird Jesus hier nun auch sehr praktisch und konkret: Wenn du mitbekommst, dass dein Bruder, dass deine Schwester sündigt, dann rede nicht zuerst mit anderen Menschen darüber, dann tratsche nicht darüber und verbreite diese Sünde nicht. Sondern dann sprich direkt mit dem Menschen, bei dem du erkannt hast, dass er sich auf einem falschen Weg befindet. Sprich mit ihm nur unter vier Augen, so, dass der andere, dass die andere gewiss sein kann, dass das, was du ihr oder ihm zu sagen hast, auch wirklich nur im Bereich dieser vier Augen bleibt. Was für ein wichtiger geistlicher Rat! Und das Ziel des Gespräches muss klar sein: Wir sollen nicht die Schwester, den Bruder zur Schnecke machen, sondern alles dafür tun, um sie zu gewinnen, um sie zur Einsicht und zur Umkehr zu leiten.

Schwestern und Brüder: Ich weiß, das klingt jetzt theoretisch alles so schön und so richtig. Und wir wissen doch, wie weit weg das von dem ist, wie wir ganz praktisch auch hier in unserer Gemeinde oft genug miteinander umgehen. Ja, fassen wir uns zunächst und vor allem an die eigene Nase: Woran liegt das, dass wir oft genug zu Recht befürchten, dass andere es nicht als Hilfe empfinden, wenn wir sie auf ihre Sünde ansprechen? Liegt es vielleicht doch daran, vielleicht sogar zuerst und vor allem daran, dass wir mit unserem Verhalten, mit unserem Reden eben doch von anderen als Richter wahrgenommen werden, als Menschen, denen man nicht gleich und vor allem die Sorge um den anderen, um die andere abspürt? Liegt es vielleicht gar daran, dass andere schon einmal mitbekommen haben, wie wir über andere gesprochen haben, als sie nicht anwesend waren? Liegt es vielleicht auch daran, dass wir mit unserem Verhalten anderen gegenüber den Eindruck erwecken, es ginge uns zuerst und vor allem darum, selber Recht zu behalten?

Und wenn dem so ist – was können wir dagegen unternehmen? Jesus schärft uns zunächst und vor allem ein: Haltet euch daran, die Verfehlungen anderer Menschen zuerst und vor allem nur in einem kleinen Kreis anzusprechen, wenn denn ein Gespräch unter vier Augen nicht weiterhilft! Haltet euch daran, alles dafür zu tun, um den anderen zu gewinnen und nicht zu verprellen! Und lebt dann vor allem selber immer wieder aus der Vergebung, aus dieser großartigen Verheißung, die Jesus hier seiner ganzen Kirche gibt: Wenn in ihrer Mitte Sünden vergeben werden, dann sind sie auch bei Gott im Himmel vergeben.

Neulich las ich in der Ablehnung des Asylantrags eines Gemeindegliedes durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Vergebung der Sünden sei kein Grund dafür, Christ zu werden; auch Allah sei barmherzig. Wer solch einen Unsinn verzapft, der hat wirklich keine Ahnung von dem, was die Vergebung bedeutet, von der Jesus hier in unserer Predigtlesung spricht: Es geht nicht darum, dass wir darauf hoffen dürfen, dass Gott die Strafe für unsere Sünde erlässt, wenn wir nur die entsprechenden Gegenleistungen verrichten. Sondern es geht darum, dass wir hier und jetzt unserer Vergebung gewiss sein dürfen, weil Gott selber seine Vergebung an das gebunden hat, was hier auf Erden in der Mitte der christlichen Gemeinde geschieht. Wenn dir hier in der Beichte die Hand aufgelegt wird und du losgesprochen wirst, dann kartet Gott nicht noch einmal nach, dann stellt er nicht nachträglich in Zweifel, was hier geschehen ist. Nein, das gilt im Himmel, und darum darfst du ganz gewiss sein: Jawohl, deine Sünden sind dir vergeben! Wie großartig, wie wunderbar – und was für ein Anreiz, mit dem wir Schwestern und Brüder, die gesündigt haben, gewinnen können, zur Umkehr anleiten können!

Und wenn wir dabei doch nicht weiterkommen, wenn Geschwister sich allem Werben der anderen entziehen? Ja, dann kann es sein, dass sie auch aus der Gemeinde ausgeschlossen werden müssen. Und doch geht es auch dabei nie darum, sich über die Geschwister zu erheben oder über sie ein Urteil zu fällen. Es geht einzig und allein darum, ihnen deutlich zu machen: Du stehst in der Gefahr, dich ganz von Christus zu trennen. Kehre um von deinem Weg! Wenn ein Mensch alles Mögliche in seinem Leben für wichtiger hält als Christus und das Heilige Abendmahl, dann dürfen wir nicht einfach wegschauen, dann müssen wir ihm zur Not auch sehr deutlich klarmachen: Wenn du so weitermachst, dann trennst du dich von Christus. Doch diese Maßnahmen sollen immer verbunden sein mit dem Gebet, mit der Fürbitte für die, die einen Weg gehen, der sie von Christus und aus der Gemeinde wegführt.

Ja, auch diese Worte sind ein Bußruf zunächst und vor allem an uns selber, die wir hier in der Gemeinde sind: Wie ernst nehmen wir die Verheißung unseres Herrn, dass wir zusammenkommen sollen und dürfen und gemeinsam Fürbitte tun dürfen? Im Zusammenhang der Verse hier geht es zunächst und vor allem darum, dass Christen zusammenkommen und um die Umkehr von Menschen beten, die sich von Christus getrennt haben. Wie oft beten wir für sie? Wie oft beten wir auch gemeinschaftlich für sie? Ja, wir tun es immer wieder im Allgemeinen Kirchengebet. Doch es ist so wichtig, dass wir diese Fürbitte auch über den Gottesdienst hinaus immer wieder praktizieren – gerade in einer Gemeinde wie der unsrigen, in der so viele Menschen sind, die noch Neulinge im Glauben sind, die in besonderer Gefahr stehen, wieder in ein Leben zurückzufallen, das sie mit ihrer Taufe doch schon aufgegeben hatten.

Vertrauen wir darum auf die Verheißung unseres Herrn: Er ist nicht erst ab 500 Gottesdienstteilnehmern am Sonntag aufwärts anwesend. Er ist auch anwesend, wenn Christen sich während der Woche zum gemeinsamen Gebet treffen, wenn unsere persischen Schwestern und Brüder sich sonntags nachmittags zum persischen Gebet versammeln. Er ist anwesend, wenn wir in unserer Gemeinde in den Häusern und Pflegeheimen das Heilige Abendmahl feiern. Dafür wollen wir allen in unserer Gemeinde und darüber hinaus die Augen öffnen, wie gut wir es haben, Christus, unseren Herrn, so direkt in unserer Mitte zu haben, ihn, der eben nicht bloß ein Lehrer und ein gutes Vorbild ist, sondern der lebendige Gott selber, der nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Ja, möge Christus selber uns immer wieder die Augen öffnen für die Schwestern und Brüder in unserer Gemeinde, die unsere Ansprache benötigen, möge er uns die rechten Worte für solche Gespräche schenken – und mögen wir unser Handeln und unser Reden immer von dem bestimmen lassen, was Christus uns zuerst und vor allem schenkt: von der Vergebung der Sünden! Amen.

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