St. Matthäus 18, 21-35 | Mittwoch nach dem 22. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Wir wissen es ja eigentlich alle längst genau – dass wir als Christen anderen Menschen zu vergeben haben, dass wir ihnen nicht nachtragen sollen, was sie gesagt oder getan haben, sondern ihnen von Herzen vergeben sollen. Wir wissen es nicht nur alle längst genau – wir beten es ja auch Tag für Tag im Gebet des Herrn: Ja, wir vergeben unseren Schuldigern.

Wo liegt also das Problem; wozu ist diese Predigtlesung, wozu ist diese Predigt überhaupt nötig? Ganz einfach: Sie ist so nötig, weil wir uns eben doch immer und immer wieder so schwer damit tun, anderen Menschen zu vergeben, was sie uns angetan haben. Ja, warum tun wir uns damit so schwer, warum machen wir nicht einfach, was Jesus ganz offenkundig von uns erwartet?

Vordergründig ist die Sache ganz klar: Wir tun uns dann mit dem Vergeben schwer, wenn wir persönlich verletzt worden sind, wenn es mehr als eine Kleinigkeit ist, die uns da widerfahren ist, wenn die Schmerzen, die diese Verletzungen hervorgerufen haben, bei uns noch weiter ganz akut sind. Man kann leicht über das Vergeben reden, wenn man selber solche Erfahrungen nicht gemacht hat. Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen ich mich beim Beten der Vaterunserbitte „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ ernsthaft gefragt habe, wem ich eigentlich vergeben sollte oder könnte. Aber wenn dann Zeiten kommen, in denen man mit einer Antwort auf diese Frage nicht lange zu zögern braucht, wenn man selber persönlich ganz tief verletzt wird und eben nicht nur einmal, sondern immer wieder, wenn die Frage des Petrus zur eigenen Frage wird: „Wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?“ – dann merken wir, wie nötig wir es haben, das Heilige Evangelium dieses Tages immer und immer wieder zu hören und zu bedenken. Denn es nennt uns zwei noch tiefer reichende Gründe, warum wir uns mit dem Vergeben so schwer tun: Wir machen uns viel zu wenig klar,

  • was Gottes Gericht
  • was Gottes Gnade bedeutet.

I.

Da steht ein Finanzbeamter vor seinem König und muss Rechenschaft ablegen vor ihm für das, was ihm anvertraut worden war, so berichtet es Jesus hier in diesem Gleichnis bei St. Matthäus. Und was dabei herauskommt, ist unfasslich: 10.000 Zentner Silber sind verschwunden – eine unglaubliche Summe. Sämtliche Steuereinnahmen der Provinz Judäa beliefen sich damals im Jahr auf 900 Zentner Silber. Nein, solch eine Schuld häuft sich nicht an einem Tag an – da muss dieser Mann über eine längere Zeit immer wieder Schulden gemacht haben, muss diese Schulden über eine längere Zeit vertuscht, verdrängt haben – bis dieses Versteckspiel schließlich an sein Ende kam: an eben dem Tag, an dem der König ihn zur Abrechnung vor sich zitierte. Ob der Finanzbeamte es wohl geahnt hat, dass dieser Tag kommen würde – oder ob er das selber aus seiner Wahrnehmung völlig ausgeblendet hatte, bis es schließlich zu spät war: wir wissen es nicht. Wir wissen nur eins: Am Tag der Abrechnung hat er keine Chance, nun noch länger irgendetwas zu vertuschen oder schönzureden. Jetzt bleibt ihm nur noch, diese unfassliche Veruntreuung einzugestehen und seinen Herrn um Erbarmen anzuflehen. Denn wenn dieser König auf seinem Recht bestehen würde, dann hätte er, der Finanzbeamte, sein Leben verwirkt, hätte keine Chance mehr, aus dem Gefängnis wieder herauszukommen, das er sich selber eingebrockt hatte.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor? Können wir uns in diesem Finanzbeamten irgendwo wiedererkennen? Nein, es geht jetzt gar nicht unbedingt um die Größe der Schuld. Es geht erst einmal darum, dass auch wir Weltmeister im Verdrängen sind – Weltmeister im Verdrängen der wichtigsten Tatsache unseres Lebens, dass wir uns einmal mit unserem Leben, mit all dem, was wir getan und unterlassen haben, werden vor Gott verantworten müssen. Ja, irgendwo wissen wir es natürlich – aber wenn es drauf ankommt in unserem Leben, wenn wir uns dessen wirklich bewusst sein sollten, ist dieser Gedanke dann doch wieder so weit weg. Und so mag es auch in unserem Leben sehr wohl sein, dass wir Schuld in unserem Leben immer weiter vor uns herschieben, bis wir uns an dieses Schieben vielleicht schon so gewöhnt haben, dass wir gar nicht mehr merken, wie irrsinnig das eigentlich ist, was wir da tun – dass wir uns unaufhörlich einer Katastrophe nähern, die wir so lange nicht vermeiden können, wie wir diese Schuld immer noch weiter vor uns herschieben und sie nicht loswerden.

Schwestern und Brüder: Nur weil wir es praktisch immer wieder nicht wahrhaben wollen, dass wir einmal vor Gottes Gericht stehen werden und dort von uns aus nicht die geringste Chance haben werden, mit unserem Leben vor ihm zu bestehen, nur weil wir das praktisch immer wieder nicht wahrhaben wollen, kommen wir in unserem Leben immer wieder neu auf diese wahnwitzige Idee, über andere Menschen richten zu können, über sie den Stab brechen zu können, ja, ihnen ihre Schuld nachtragen zu können – als ob wir dazu das Recht hätten!

Wenn du also Schwierigkeiten hast, einem anderen Menschen zu vergeben, wenn dir das, was er dir angetan hat, so groß zu sein scheint, dass du ihm das doch gar nicht vergeben kannst, dann denke an die Rechenschaft, die du einmal für dein ganzes Leben abzulegen hast, denke daran, was Gott dich einmal fragen wird – ja, denke daran, wie sehr du darauf angewiesen bist, dass er dann anders mit dir umgeht, als du gerade mit dem Menschen umgehst, dem zu vergeben dir jetzt im Augenblick so schwer fällt!

Und damit sind wir schon beim anderen: Wenn uns nicht mehr klar ist, was es bedeutet, dass wir uns mit unserem ganzen Leben vor Gott werden verantworten müssen, dann können wir eigentlich auch nicht mehr ermessen, was es bedeutet, dass Gott uns tatsächlich die ganze Schuld unseres Lebens erlassen will und tatsächlich erlässt. Wenn wir von Gottes Gnade sprechen, ohne zugleich auch von Gottes Gericht zu sprechen, aus dem wir nur durch diesen Freispruch Gottes gerettet werden können, dann machen wir diese Gnade Gottes zu einer scheinbaren Selbstverständlichkeit, zu einer scheinbaren Plattitüde: „Pardonner c’est son métier“ – Vergeben, das ist doch Gottes Geschäft, so hat schon der französische Philosoph Voltaire über den christlichen Glauben gespottet. Nein, dass unser Leben nicht im Gefängnis des ewigen Todes endet, ist nicht logisch, ist nicht selbstverständlich, das lässt sich von uns nicht mit dem einen oder anderen kleinen Trick bewerkstelligen. Das ist so unfasslich, wie es hier in der Erzählung, die uns Jesus vor Augen stellt, unfasslich ist, dass ein König einfach mal auf das Zehnfache der Jahreseinnahmen seines Kollegen aus Jerusalem verzichtet. Ach, wenn wir es doch nur ahnen würden, was das bedeutet, dass uns Gott die Schuld unseres Lebens ganz und gar erlässt, uns ganz und gar von neuem anfangen lässt! Ach, wenn wir es doch nur ahnen würden, dass es einen Ort schon hier auf Erden gibt, an dem wir tatsächlich schon hier und jetzt aufhören können, die ganze Schuld unseres Lebens immer weiter vor uns herzuschieben, einen Ort, an dem wir jetzt schon Gottes Abrechnung erfahren können und dürfen: sein Gericht über das, was wir gesagt, getan, gedacht und nicht gesagt und getan haben – und seinen Freispruch, seinen radikalen Schuldenerlass! Ach, wenn wir es doch nur ahnen würden, was Sonntag für Sonntag hier in unserer Kirche in der Beichte geschieht! Dann würden wir nie mehr auf die Idee kommen zu überlegen, den Beichtgottesdienst zu schwänzen oder auch nur zu spät zu ihm zu kommen. Ja, dann würden wir nur noch staunen über das Wunder, das wir hier immer wieder neu erleben dürfen, dass Gottes Vergebung tatsächlich uns gilt, uns mit all dem, worüber andere Menschen zu richten allemal ein Recht hätten.

Ach, wenn wir doch nur das Wunder von Gericht und Gnade wieder ernst nehmen würden, von dem uns Jesus hier in diesem Gleichnis erzählt! Das würde sich auswirken, ganz zweifelsohne, das würde sich auswirken auf unseren Umgang mit der Schuld anderer Menschen, mit dem, was sie uns angetan haben!

Und darum kann und darf es hier in dieser Predigt auch nicht darum gehen, dass ich euch jetzt mit erhobenem Zeigefinger ermahne, dass ihr doch endlich mal den Leuten vergeben sollt, deren Taten ihr ihnen immer noch nachtragt. Ihr werdet es von euch aus nicht schaffen. Stattdessen möchte ich nur eins: euch einladen, Gottes Vergebung in der Beichte, im Heiligen Mahl immer wieder zu empfangen, immer wieder darüber zu staunen, was das heißt, dass ihr allen Ernstes erleben dürft, wie Gott euch alles wegnimmt, was euch zur Hölle verdammen würde. Einladen möchte ich euch, die Freude über das Wunder von Gottes Vergebung wieder neu zu entdecken und aus dieser Freude euer Leben als Christen zu gestalten. Ja, so absurd wie das Verhalten des Finanzbeamten hier in dieser Erzählung Jesu wäre es, wenn wir dann anschließend anderen Menschen immer noch ihre Schuld nachtragen würden. Gottes maßlose Bereitschaft zur Vergebung will und wird auch dich verändern, wird dir ermöglichen, was du selber niemals könntest: dass auch du deinen Schuldigern vergibst, wie Gott dir vergeben hat.

Als der Theologe Helmut Thielicke starb, hatte er zuvor verfügt, dass bei seiner Beerdigung keine Laudatio auf seinen Namen stattfinden dürfe, und hatte stattdessen auch gleich den Predigttext für die Predigt bei seiner Beerdigung ausgesucht: „Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei, und die Schuld erließ er ihm auch.“ Ja, Gott geb’s, dass genau diese Botschaft unser ganzes Leben bestimmen möge – und unser Sterben schließlich auch! Amen.

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