St. Matthäus 21,14-17 | Kantate | Pfr. Dr. Martens

Kennt ihr die Erzählung vom Großinquisitor im Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski? Es ist eine zutiefst bewegende und aufrührende Erzählung, ein großartiges Stück Weltliteratur:

In der Erzählung wird davon berichtet, dass Jesus Christus im Zeitalter der Inquisition im 16. Jahrhundert noch einmal in Sevilla erscheint, wo der Großinquisitor gerade hundert Ketzer hat hinrichten lassen. Auch wenn Christus sich selbst nicht mit Worten zu erkennen gibt, wissen doch alle gleich, dass er es ist. Als Christus daraufhin anfängt, Menschen zu heilen, lässt der Großinquisitor, dieser hohe Vertreter der Kirche, ihn verhaften und kündigt ihm an, ihn morgen hinrichten zu lassen. Sein Vorwurf ist deutlich: „Warum bist du gekommen, uns zu stören?“ Wir als Kirche haben dein Werk weitergeführt – gewiss in manchem anders, als du es gewollt hast. Aber wir wissen besser, was die Menschen brauchen und was für sie gut ist, als du es damals gewusst hast. Du hast die Menschen mit deiner Botschaft überfordert. Wir haben sie nun an die Bedürfnisse der Menschen angepasst, haben ihnen das irdische Brot gegeben, nach dem sie verlangt haben, haben uns mit der irdischen Macht ausrüsten lassen, die du einst dem Teufel ausgeschlagen hast, haben das Bedürfnis der Menschen befriedigt, die nichts lieber wollen, als einer starken Führung zu gehorchen. Störe uns nicht, alles läuft wunderbar, die Menschen sind zufrieden – störe uns nicht, darum werden wir dich beseitigen!

Was für eine absurde und beklemmende und doch zugleich auch hochaktuelle Vorstellung: Die Kirche beseitigt Christus aus ihrer Mitte, weil er stört, weil er das religiöse Getriebe durcheinanderbringt, weil er gerade nicht sagt und tut, was die Menschen sich wünschen. Was für eine scharfsinnige Sicht auf die Kirche, die Dostojewski, angeregt durch Wladimir Solowjew, da entfaltet! Christus, der aus der Kirche entfernt wird, weil er in ihr nur stört – gibt es das etwa nicht nur im Sevilla des 16. Jahrhundert, sondern auch und gerade heute noch im 21. Jahrhundert?

Da feiern wir heute den Sonntag Kantate, den sogenannten „Singe-Sonntag“, den Sonntag der Kirchenmusik, wie er gerne tituliert wird. Kirchenmusik spielt in den Kirchen unseres Landes eine große Rolle – und das ist eine wirklich wunderbare Sache. Gerade Menschen, die aus islamischen Ländern kommen, in denen Musik oft genug als haram diffamiert und abgelehnt wurde, in denen es undenkbar gewesen wäre, dass in den Moscheen Chorgesänge und Instrumentalmusik erschallen, gerade unsere neuen Brüder und Schwestern hier in der Gemeinde können uns etwas davon erzählen, wie sie gerade die Musik als besonderen Ausdruck der frohen Botschaft, der Freude des christlichen Glaubens wahrnehmen und wertschätzen. Doch die Gefahr ist groß, dass in unserem Land die Kirchenmusik einfach nur noch als Bestandteil des kulturellen Angebots der Kirchen angesehen wird, als Teil der religiösen und gesellschaftlichen Betriebsamkeit, die in Kirchengemeinden nun mal herrscht. Kirchenkonzerte werden genossen, ihr hohes Niveau wird gerühmt – doch so viele derer, die sie sich anhören, kommen überhaupt nicht mehr auf die Idee, dass es in dieser Musik zuerst und vor allem um Christus geht – und damit auch um eine ganz grundlegende Anfrage an sie selber, was eigentlich Sinn und Ziel ihres eigenen Lebens ausmacht. Kirchenmusiker sorgen oft genug noch für ein hohes musikalisches Niveau in den Gottesdiensten, in denen sie im Einsatz sind – doch wie viele von ihnen leiden darunter, dass die Verkündigung, die sie mit ihrer Musik vollziehen, so herzlich wenig mit dem zu tun hat, was sie ansonsten im Gottesdienst so alles zu erleben und zu erleiden haben. Christus wird neutralisiert, in eine Ecke geschoben – weil er nur bei dem alltäglichen Betrieb der Kirche, bei ihrem Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung stören würde.

Oder ich denke an die Begeisterung für eine große Ökumene der Religionen, die eben auch in vielen Kirchen verbreitet ist: Man versucht, sich auf das Gemeinsame zu besinnen, redet gerne von abrahamitischen Bruderreligionen, die dann auch gemeinsam ein House of One errichten können, weiß gar nicht, ob es für Juden und Muslime eigentlich so nötig ist, sich taufen zu lassen – und merkt dann irgendwann, dass Jesus Christus bei diesen Bemühungen eigentlich nur im Wege steht, dass er eigentlich nur stört, zumindest, wenn man ihn in seinem eigenen Anspruch ernst nimmt. Und so findet man es mittlerweile in so mancher Gemeinde geradezu schick, auch mal einen islamischen Gebetsruf im Gottesdienst erschallen zu lassen, in dem geleugnet wird, dass Gott einen Sohn hat. Soll man doch nicht so eng sehen – dieser Jesus Christus kann und soll uns doch nicht davon abhalten, unsere gemeinsame religiöse Agenda durchzuführen. Dafür ist man dann auch bereit, immer wieder auch einmal das eine oder andere Kreuz verschwinden zu lassen.

Christus stört – genau darum geht es auch in der Predigtlesung dieses Sonntags. Da schildert uns St. Matthäus in den Versen, die unserer Predigtlesung unmittelbar vorausgehen, wie Jesus im Tempel gründlich aufräumt, wie er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt. Nein, es geht ihm, Christus, dabei ja nicht um Befriedigung seiner Lust nach Randale. Hinter dieser Reinigung des Tempels steht etwas ganz Anderes: Der Anspruch, dass der Tempel letztlich ihm gehört, dass es sein Haus ist, das Haus seines Vaters, sichtbarer Ausdruck der Gegenwart Gottes, die die Menschen nun vielmehr in ihm, in seiner Person erfahren sollen.

Und so fährt Jesus nun nach der Tempelreinigung entsprechend fort, heilt im Tempel Blinde und Lahme, gibt damit ganz deutlich zu erkennen, dass er der Messias ist, der von Gott gesandte Retter. Und das nehmen auf ihre Weise auch die Kinder wahr, die dort im Tempel herumlaufen: Sie singen noch einmal nach, was sie gerade zuvor beim Einzug Jesu in Jerusalem vernommen hatten, singen den Gruß des Volkes an seinen Messias, an seinen König: „Hosianna dem Sohn Davids!“ Ach, was sage ich: Sie singen es nicht, sie schreien es, grölen und brüllen es ganz unbefangen und doch von Herzen – musikalisch gewiss kein Vergleich zum Sanctus in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe! Im Gegenteil: Das, was die Kinder dort schrien, störte den Tempelbetrieb, nein, nicht bloß die religiöse Ruhe. Es störte einen Betrieb, in dem für das Erscheinen des Messias einfach keinen Platz war, in dem alles wohlgeordnet lief und eine Störung durch einen Messias einfach nicht vorgesehen war. Die leitende Geistlichkeit im Tempel wirft Jesus vor, sich gegen seine Verehrung als Sohn Davids, als Messias, nicht zur Wehr zu setzen, sie einfach nur hinzunehmen: „Hörst du auch, was diese sagen?“ Und Jesus antwortet ganz locker: Ja! Und dann begründet er sein Verhalten, die Kinder gewähren zu lassen, mit einem Zitat aus dem Alten Testament, aus dem 8. Psalm. „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet“. Schwestern und Brüder: Wir lesen diese Worte einfach so – aber haben wir uns eigentlich klargemacht, was Jesus mit ihnen eigentlich zum Ausdruck bringt? Der 8. Psalm ist ein Gebet zu Gott, dem HERRN. Er wird dafür gepriesen, dass ihn schon Unmündige und Säuglinge loben – Menschen, von denen im Übrigen heutzutage mitunter behauptet wird, sie könnten doch noch gar keinen Glauben haben. Nein, sagt der 8. Psalm: Gott lässt sich auch schon, ja gerade von Unmündigen und Säuglingen loben – auch wenn dieses Gotteslob musikalisch nicht perfekt ist. Jawohl, Gott lässt sich loben. Und nun legt Jesus diese Rufe der Kinder mit den Worten des 8. Psalms aus. Er sagt: Wenn die Kinder mir zujubeln, dann loben sie Gott – jawohl, eben den Gott, der sichtbar vor ihnen, vor euch steht. Der Gott, den die Kinder loben – der bin ich, Jesus Christus. Sagt Jesus – und lässt die hohe Geistlichkeit im Tempel einfach mit offenen Mündern stehen. Über diesen Anspruch Jesu, selber Gott zu sein, gibt es nichts mehr zu diskutieren. Den kann man entweder nur als Gotteslästerung ablehnen – oder man muss mit einstimmen in das Gotteslob der Unmündigen und Säuglinge.

Schwestern und Brüder: In unserer Gemeinde gibt es heute keine großen Kirchenkonzerte, eher schon das Schreien und Brüllen von Kindern, die sich auch in unserer Mitte mehr oder weniger fröhlich einfinden. Doch darauf kommt es eben auch nicht an, dass wir hier bei uns ein ansprechendes kulturelles Programm präsentieren können. Es kommt nicht darauf an, dass der religiöse Betrieb in unserer Mitte einigermaßen reibungslos läuft. Wichtig ist vielmehr, dass wir uns in unseren Erwartungen nach einem reibungslosen Ablauf in unserer Gemeinde, die wir vielleicht auch in unserem Herzen hegen mögen, immer wieder von Christus stören lassen, dass uns immer wieder neu aufgeht, was es heißt, dass er, der lebendige Gott, selber in unserer Mitte ist, wenn Christus seine Verheißung wahrmacht, mitten unter uns zu sein, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.

Darum geht es immer wieder, dass wir darüber staunen, dass Jesus selber Gott ist, dass er als unser Herr und Gott nicht fern von uns bleibt, sondern uns ganz nahekommt, uns anrührt mit seinem Leib und Blut, uns mit seiner liebenden Gegenwart heil macht an Leib und Seele.

 Ja, lassen wir uns stören von Christus, wenn wir auf die Idee kommen sollten, uns im Gottesdienst nur miteinander zu beschäftigen, miteinander uns zu unterhalten, ja, vielleicht gar mit dem Handy zu spielen. Lassen wir uns stören von ihm, der nicht nur ein religiöses Hintergrundgeräusch ist, sondern der lebendige Gott, der uns hier in seinem Haus gegenübertritt! Lassen wir uns stören von ihm, damit wir wieder voller Freude erkennen, was das heißt, dass er zu uns kommt, um unsere Beziehung zu Gott heil zu machen, um uns unsere Schuld zu vergeben, um uns mit seinem Leib und Blut das ewige Leben zu schenken!

Lassen wir uns stören von Christus, wenn wir hier im Gottesdienst nur mit uns selber beschäftigt sind, mit dem, was uns bewegt, was wir haben wollen! Lassen wir uns von ihm unseren Horizont erweitern, dass wir wieder neu erkennen, was allein wirklich wichtig ist: Dass wir mit ihm, Christus, immer wieder neu verbunden werden.

Schwestern und Brüder, das, was wir hier in unserer Gemeinde erleben, gerade auch in unseren Gottesdiensten, kann man nicht unbedingt als religiöse Routine bezeichnen. So manches ist ziemlich spontan, nicht unbedingt ausgefeilt, nicht unbedingt ein musikalischer Genuss. Aber dafür haben wir hier so viele in unserer Mitte, denen Gott selber die Augen dafür geöffnet hat, wer Jesus Christus wirklich ist, so viele, die es ganz selbstverständlich immer wieder aussprechen, wenn sie von ihrem Glauben reden: Khodavande ma Isa Masih – unser Gott Jesus Christus. Jawohl, er ist es, er unser Retter, hier bei uns. Und da fangen wir dann auch bei uns an, allmählich das nachzusingen, was wir zuvor gehört haben, wie die Kinder damals auch – deutsche Liturgie und persische Lieder gleichermaßen. Klingt vielleicht nicht immer schön – aber in Gottes Ohren ist es ein Hochgenuss. Ja, singet dem Herrn, singet ihm, Jesus Christus, ein neues Lied, denn er tut Wunder! Amen.

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