St. Matthäus 2,13-23 | Erster Sonntag nach Weihnachten | Pfr. Dr. Martens

In den vergangenen Wochen konnte ich auf Facebook eine geradezu absurde Diskussion mitverfolgen: Da gab und gibt es doch tatsächlich einige stramme Christen, die sich über die Behauptung aufregten, Jesus sei ein Flüchtling gewesen. Jesus war doch kein Flüchtling – das ist nur wieder eine Behauptung irgendwelcher linker Gutmenschen, über die sich die Betreffenden dann gewaltig empören konnten. Das weiß doch jeder gebildete Deutsche, dass Jesus nur ein holder Knabe mit lockigem Haar war, der ganz romantisch in einer Krippe lag und sich an dem Engelsgesang um ihn herum erfreute. Eine schöne heile Welt, die wir uns doch keinesfalls von irgendwelchen Aktivisten kaputtreden lassen sollten!

Doch die, die so leidenschaftlich dafür eintreten, dass Jesus doch nie und nimmer ein Flüchtling sein kann, haben ein Problem: In unserer heutigen Predigtlesung wird Josef von dem Engel nämlich ausdrücklich dazu aufgefordert, vor den Mordanschlägen des Königs Herodes in ein anderes Land zu fliehen. „Feuge“ steht da im Griechischen, das hat dieselbe Wurzel wie das englische Wort „refugee“. Die Verteidiger der deutschen Weihnacht müssen also ganz tapfer sein: Jesus ist tatsächlich ein politischer Flüchtling gewesen, so würde man das heute bezeichnen.

Warum regen sich so viele über den Gedanken auf, dass Jesus ein Flüchtling gewesen sein könnte? Der Gedanke stört ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach der sich so viele Menschen doch gerade jetzt zu Weihnachten sehnen. Endlich mal weg von all dem, was einen sonst das Jahr über im Alltag belastet; einfach sich mal ein bisschen in der Illusion wiegen, dass diese Welt irgendwie doch ein kleines Paradies ist, in dem alles gut und in Ordnung ist. Ehrlich gesagt: Diese Sehnsucht habe ich auch – und wie! Endlich mal ganz normal mit meiner Gemeinde Gottesdienste feiern zu können, ohne Angst, dass der deutsche Staat mir die Gemeindeglieder wegnimmt und abschiebt. Endlich mal ganz normal mit meiner Gemeinde leben können, ohne in verzweifelte Gesichter zu blicken, die nicht wissen, was dieser Staat mit ihnen in der Zukunft noch alles vorhat. Ja, einfach mal ein paar Tage Paradies – das wäre schön!

Doch dieses Paradies ist uns hier in der Gemeinde nicht vergönnt, und in der Regel haben auch alle möglichen anderen Versuche, zumindest zu Weihnachten solch ein Paradies im eigenen Leben zu schaffen, nur begrenzt Erfolg. Nein, Weihnachten bedeutet gerade nicht Flucht vor der Wirklichkeit in eine schöne, heile Traumwelt. Sondern zu Weihnachten staunen wir über das Kommen Gottes in diese kaputte Welt, die so wenig von Gott und seinem Kommen wissen will. Wir feiern, dass das Licht Gottes mitten in der Dunkelheit erschienen ist, und reden diese Dunkelheit nicht schön. Und damit sind wir nun schon mitten drin in unserer Predigtlesung.

Das ist wirklich eine scheußliche Geschichte, die uns der Evangelist St. Matthäus hier berichtet. König Herodes kann die Existenz eines möglichen Konkurrenten nicht ertragen – und da kennt er keinen Spaß. Es ist bekannt, dass Herodes zur Sicherung seines eigenen Vorteils so ziemlich alles in seiner Umgebung hat hinrichten lassen, was ihm irgendwie gefährlich erschien, inklusive seiner eigenen Ehefrau. Und jetzt also dieser neugeborene König. Der muss weg, der muss getötet werden, ganz klar! Er ist zwar noch ein Baby, aber mit der Ausschaltung unbequemer Widersacher im Leben kann man gar nicht früh genug anfangen.

Doch Gott greift ein: Noch bevor sich die Truppen des Herodes von Jerusalem aus Bethlehem nähern konnten, warnt er Josef im Traum vor den Plänen des Herodes und fordert ihn dazu auf, sich schnell auf die Flucht zu begeben. Viel Zeit bleibt nicht; noch in derselben Nacht packt Josef seine Sachen und flieht nach Ägypten, wie es ihm der Engel im Traum befohlen hatte.

Ach, was für Erinnerungen tauchen da bei vielen unserer Gemeindeglieder auf: Die plötzliche Nachricht, dass ihr Leben in Gefahr ist, so dringend, dass mitunter kaum noch Zeit blieb, sich von den eigenen Eltern zu verabschieden, dann die Flucht in ein fremdes Land – ach, was können unsere Gemeindeglieder Josef und Maria gut verstehen! Einen Vorteil hatten Josef und Maria damals allerdings: Sie mussten sich in dem Land, in das sie gingen, nicht für ihre Flucht rechtfertigen, mussten keine Angst haben, von dort wieder abgeschoben zu werden. Wenn Maria und Josef heute im BAMF erzählen würden, sie seien aus ihrer Heimat geflohen, weil Gott sie im Traum vor einem Angriff auf ihren Sohn gewarnt hätte, dann hätten die beiden innerhalb von wenigen Tagen ihren Abschiebebescheid auf dem Tisch gehabt mit dem Vermerk: „Asylantrag offensichtlich unbegründet“. Doch so brutal wie heute hier in unserem Land ging es damals glücklicherweise noch nicht zu.

Und während Maria und Josef schon die Grenze nach Ägypten ohne gültigen Reisepass überschritten hatten, geht das Gemetzel in Bethlehem los: Herodes schickt seine Truppen los und lässt in Bethlehem alle männlichen Kinder unter zwei Jahren töten. Dabei nutzt er sogar noch die Informationen der Weisen aus dem Morgenland, um bei der Beseitigung seines potentiellen Konkurrenten auch möglichst effektiv zuschlagen zu können. Eiskalte unvorstellbare Brutalität – die Bereitschaft, kleine Kinder nur für den eigenen Vorteil zu töten: Schreckliche Nachrichten aus längst vergangenen Zeiten? Leider nicht: Da hat gerade vor kurzem unter großem Beifall und Jubel die Jugendorganisation einer Regierungspartei unseres Landes beschlossen, dass nach ihren Vorstellungen lebensfähige Kinder bis direkt vor ihrer Geburt ohne jede Einschränkung getötet, ja, sagen wir es so deutlich: abgeschlachtet werden dürfen. Der Kindermord in Bethlehem, er war, so grausam er damals auch war, ein kleines Vorkommnis im Vergleich zu dem, was heutzutage in unserem Land und in so vielen anderen Ländern mit kleinen, noch ungeborenen Kindern geschieht und nach den Planungen so mancher in noch ganz anderem Stil in Zukunft geschehen soll. Herodes war und ist ein erstaunlich aktueller Zeitgenosse!

Schließlich stirbt der König Herodes; Gott gibt Maria und Josef den Befehl, wieder nach Israel zurückzukehren. Doch das mit der innerstaatlichen Fluchtalternative, wie es heute so schön im Beamtendeutsch heißt, erweist sich auch bei Maria und Josef als schwierig. Schließlich kehren sie nach Nazareth zurück, nach Galiläa, in eine Gegend, aus der nun wirklich kein frommer Jude jemals den Messias erwartet hätte. Doch Gottes Pläne reichen eben weiter.

Ja, die Schrecken von Flucht und Kindermord, sie werden uns hier in unserer Predigtlesung sehr eindrücklich vor Augen gestellt, so eindrücklich, dass sie bei so manchem von uns hier nachgerade Flashbacks auslösen könnten. Doch St. Matthäus schreibt diese Verse hier nicht, um uns zum Kampf für eine gerechtere Welt anzuleiten, in der es all diese furchtbaren Übel nicht mehr gibt. Sondern Matthäus erzählt in der Schilderung von all diesem grausamen Geschehen die Geschichte von Christus, der in eben diese grausame Welt gekommen ist, um uns zu retten. Was er hier schildert, ist dabei nur der Anfang der Geschichte. Der Umzug nach Nazareth ist eben nicht das Happy End, sondern die Ouvertüre zu einer viel größeren Geschichte, die Jesus am Ende von Nazareth zurück nach Jerusalem führt, ja, bis hin zu dem Königspalast eines anderen Königs Herodes. Hier in unserer Predigtlesung wird Jesus noch verschont – doch gerade nicht, damit ihm in seinem Leben kein Leid widerfährt, sondern damit er bewahrt bleibt für das eine entscheidende Opfer, das ihm am Ende seines Weges bevorsteht, damit er bewahrt bleibt für das Opfer seines Leibes und Blutes am Kreuz.

Ja, das ist die einzige Hoffnung, die wir in dieser kaputten Welt haben. Das ist die einzige Hoffnung, die wir auch hier in unserem Land haben, in dem auch weiter so mancher Herodes sein Unwesen treibt. Er, Christus, hat am Kreuz die Schuld der ganzen Welt und eben auch unsere Schuld auf sich genommen, und mit seiner Auferstehung hat er uns eine Hoffnung geschenkt, die auch über alle Schrecken des Todes hinausreicht. Ja, er hat uns damit eine Heimat geschenkt, aus der wir niemals mehr abgeschoben werden, in der wir niemals nur Fremde sein werden, sondern in der wir einmal für immer ganz zu Hause sein werden.

Allein das schenkt uns die Kraft, hier in unserer Gemeinde in unserer Arbeit nicht zu verzweifeln, allein das schenkt uns die Kraft, auch weiter für die einzutreten, die wie einst unser Herr Jesus Christus heute nun Flüchtlinge sind und die darum wissen dürfen, dass ihr Herr Jesus Christus ihr Schicksal geteilt hat und sie eben gerade darum so gut versteht. Gott hatte damals einen festen Plan für Christus, und dazu zählte auch sein Flüchtlingsdasein. Und ebenso hat Gott einen festen Plan mit euch, hat euch dies schon in eurer Taufe versprochen. Ja, auch eure Flucht, auch all das Schwere, was ihr jetzt erfahrt, gehört mit zu diesem Plan Gottes, den er auch bei euch durchsetzen wird. Bleibt darum nur in der Nachfolge eures Herrn! Er wird euch auch durch alles Dunkel hindurch ins Licht führen, in euer ewiges Zuhause bei Gott! Amen.

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