St. Matthäus 23, 8-12 | Mittwoch nach nach 11. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Wenn unsere Taufbewerber ihre Taufprüfung bestanden haben, dann bekommen sie einen Zettel, mit dem sie sich zur Taufe anmelden können. Auf diesem Zettel müssen sie die ganzen Angaben für das Kirchenbuch eintragen, unter anderem auch den Namen des Vaters und der Mutter. Neulich erhielt ich einen Zettel zurück – und staunte nicht schlecht, als ich beim Namen des Vaters meinen eigenen Namen Gottfried Martens las. Auf Rückfrage erklärte mir der Taufbewerber, seine Eltern seien gestorben – und ich sei ja ohnehin sein Vater.
Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das hier in unserer Gemeinde eigentlich losgegangen ist, dass iranische und afghanische Gemeindeglieder angefangen haben, mich „Vater“ zu nennen. Ich vermute immer noch, dass der Hintergrund für diese Anrede aus dem Iran selber stammt, wo wohl Geistliche der orthodoxen Kirche mit diesem Titel angeredet werden. Ich weiß noch, dass ich am Anfang versucht habe, diese Anrede umzubiegen und abzubiegen – aber irgendwann habe ich es dann einfach aufgegeben und angefangen, auf diese Anrede doch zu reagieren.
Ja, natürlich habe ich dabei immer noch die Worte unserer heutigen Predigtlesung im Ohr, wir sollten niemanden unter uns auf Erden Vater nennen. Doch es lohnt sich schon, noch einmal genauer hinzuschauen, worum es Christus selber hier geht:
Wenn wir uns das gesamte Neue Testament durchlesen, dann werden wir feststellen, dass der Apostel Paulus wenig Scheu hat, sich selber als Vater seiner Gemeinden zu beschreiben, der seine Kinder in der Gemeinde gezeugt hat – wobei er sich allerdings auch als Mutter beschreiben kann, die ihre Kinder in der Gemeinde unter Wehen gebiert und sie danach auch mütterlich pflegt. Offenbar lässt sich das persönliche Verhältnis zwischen demjenigen, der die Gemeinde leitet, und den Gemeindegliedern, die unter seinem Dienst zum Glauben an Jesus Christus gefunden haben, auch von der Heiligen Schrift her mit der Bezeichnung „Vater“ beschreiben. Auch der Apostel Johannes redet die Adressaten seiner Briefe immer wieder als seine Kinder an.
Es geht also offenkundig nicht bloß um den Begriff „Vater“ an sich. Wenn man die Worte Jesu nur auf diesen Begriff „Vater“ reduzieren würde, dürften mit eben derselben Argumentation sich auch irdische Väter nicht von ihren Kindern als „Vater“ anreden lassen, wenn tatsächlich Gott allein unser Vater im Himmel ist. Schauen wir uns an, was historisch mit dem Begriff „Vater“ damals gemeint war, stellen wir fest: Der Begriff „Vater“ war damals ein ganz besonderer Ehrentitel, der zunächst bestimmten Wohltätern verliehen wurde und sich dann auch zunehmend als Ehrenbezeichnung für Schriftgelehrte einbürgerte.
Und damit kommen wir schon näher an das heran, worum es Jesus hier tatsächlich geht: Es geht ihm um Ehrentitel, es geht ihm um ein Denken, das bestimmt ist von Maßstäben von „oben“ und „unten“. Dasselbe gilt beispielsweise ja auch für das Wort „Lehrer“. Es ist kein Verstoß gegen die Worte Christi, wenn wir einen Mathematiklehrer in der Schule als „Lehrer“ bezeichnen, wo doch Christus allein unser Lehrer ist. Nein, es geht Christus darum, dass die christliche Gemeinde nicht auf bestimmte Menschen fixiert ist, die in der Gemeinde ganz oben stehen und sie von daher bestimmen, ja die von der Gemeinde dann vielleicht gar auch noch Unterordnung oder gar Unterwerfung verlangen.
Wie das Zusammenleben in der Gemeinde aussehen soll, macht Christus hier sehr eindrücklich deutlich: Einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder – wobei bei den Brüdern natürlich die Schwestern immer auch mitgemeint und mit eingeschlossen sind. Ja, das ist in der Tat ein ganz wichtiger Maßstab in der Gemeinde: Auch wenn es in der Gemeinde besondere Dienste und Ämter gibt, auch wenn sich in einer Gemeinde, auch durch das Alter mitbestimmt, persönliche Strukturen bilden, in denen sich Vater- und Mutterschaft in der Gemeinde widerspiegeln, muss das Zusammenleben in der Gemeinde doch dadurch bestimmt werden, dass alle ohne Ausnahme Schwestern und Brüder sind und keiner über dem anderen steht.
Darum werde ich mich selber niemals den Gemeindegliedern gegenüber als „Vater“ bezeichnen; darum liegt mir daran, dass wir tatsächlich als Schwestern und Brüder in der Gemeinde miteinander umgehen, dass ja nicht der Eindruck entsteht, als sei der Pastor eine höhergestellte Person in der Gemeinde, als gebührtem ihm irgendwelche besonderen Ehrenrechte. Ja, ein Pastor hat bestimmte Aufgaben in der Gemeinde, das ist klar. Aber niemals steht er über der Gemeinde, niemals ist der Beruf des Pastors ein Karriereziel, das am Ende eines Aufstiegs steht.
Ach, solches Denken steckt uns ja so tief in den Knochen, dass wir uns nur schwer von solchen Vorstellungen lösen können – als Pastor und als Gemeinde gleichermaßen! Und wie groß ist dann die Gefahr, dass sich eine Gemeinde tatsächlich auf die Person eines Pastors fixiert, von ihm ihr Kommen und ihr Engagement abhängig macht, ja, ihre Beziehung zu Christus! Ich bin jedenfalls immer sehr froh, wenn Glieder unserer Gemeinde nach einem Besuch in einer anderen Gemeinde davon sprechen, dort sei ja ein anderer Vater. Ja, wie gut, wenn der Vater wirklich nur noch ein Titel ist und nicht mehr mit nur einer bestimmten Person identifiziert wird!
Ja, solches Denken, dass der Pastor oben und die Gemeinde unten ist, steckt uns immer wieder so tief in den Knochen. Und dagegen können wir nur etwas unternehmen, wenn wir bei Christus in die Schule gehen, bei dem einen Lehrer, der seinen Titel ohne jede Einschränkung und Relativierung verdient: Der zeigt uns nämlich, was es heißt, der Größte in der Kirche zu sein. Er hat es uns darin gezeigt, dass er seinen Jüngern zu Füßen gelegen hat, ihnen die Füße gewaschen hat und für sie in den Tod gegangen ist. Größe zeigt sich darin, dass einer dem anderen dient. Gemeindeleitung bedeutet entsprechend: unter der Gemeinde zu sein, nicht über ihr, nicht sie zu beherrschen, nicht ihr den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern für sie den Sklavendienst zu leisten. Der Pastor ist nicht der bejubelte Star der Gemeinde, sondern ihr Dienstbote; der Kirchenvorstand ist nicht die Regierung der Gemeinde, sondern ein Gremium, in dem Menschen gemeinsam den anderen Gliedern in der Gemeinde dienen.
Wir haben da gemeinsam in der Gemeinde in den vergangenen Jahren einiges lernen müssen. Ich erinnere mich noch an eine Missionsversammlung, die geprägt war von dem Missverständnis, dass nun bestimmte Leute in der Gemeinde in die Regierung gewählt werden sollten, am besten nach einem anständigen Wahlkampf. Nein, so läuft es nicht: Jedes Amt in der Gemeinde ist in der Tat ein Dienst, führt unter, nicht über die Gemeinde.
Ach, wie beglückend ist es, wenn wir das miteinander in der Gemeinde erleben dürfen! Wie beglückend ist es für mich immer wieder, von euch, den anderen Gliedern in der Gemeinde zu lernen, mir von eurer Glaubensfreude, mir von eurem Glaubensmut die eine oder andere Scheibe abschneiden zu dürfen! Ja, wie beglückend ist es für mich, für solche wunderbare Brüder und Schwestern Diener sein zu dürfen, für sie da sein zu dürfen!
Ja, wie beglückend ist es für uns alle miteinander, eben dies hier in der Gemeinde lernen zu dürfen: Wir qualifizieren uns vor Gott nicht mit unseren Leistungen, nicht damit, dass wir besser oder frömmer sind als andere. Wir qualifizieren uns vor Gott nicht damit, dass wir besonders viele gute Werke vorweisen können. Sondern wir qualifizieren uns vor Gott gerade dadurch, dass wir mit ganz leeren Händen vor ihm stehen, dass wir ihm nichts vorweisen können als das Bekenntnis unseres Versagens, als das Bekenntnis unserer Sünde und Schuld. Ja, genau das ist es, was wir gemeinsam immer wieder in der Gemeinde erleben dürfen: Dass wir von Christus selber erhöht werden, hochgehoben werden, wenn er uns in der Absolution die Sünden vergibt, wenn er uns im Heiligen Mahl mit dem unendlichen Reichtum der Gegenwart seines Leibes und Blutes beschenkt. Da gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Pastor, Kirchenvorsteher und Gemeindeglied, zwischen Neugetauftem und denen, die schon 90 Jahre hier dabei sind. Der Pastor braucht die Vergebung nicht weniger als ein Gemeindeglied, und der Pastor ist auch nicht näher an Gott dran als die Glieder seiner Gemeinde.
Gott geb’s, dass wir genau das in unserem Zusammenleben in der Gemeinde immer wieder erfahren und immer besser verstehen. Ja, Gott geb’s, dass der eine immer stärker uns vor Augen tritt, um den allein es doch hier geht, auch in jedem Gottesdienst: um ihn, Christus, unseren Herrn und Meister. denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder – und Schwestern. Amen.