St. Matthäus 5, 38-48 | 21. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Das geht doch gar nicht, was Jesus hier von seinen Jüngern erwartet! Wie soll das denn praktisch funktionieren, wenn wir dem Bösen nicht widerstreben sollen? Und wer schafft das denn schon, dem anderen auch noch die andere Backe hinzuhalten, wenn er auf die eine geschlagen wurde? Ja, wer schafft das denn allen Ernstes, seine Feinde zu lieben, für diejenigen auch noch zu beten, die einem das ganze Leben kaputtmachen, einen außer Landes treiben, einem alles nehmen, was man zuvor besaß und für wichtig hielt?
Das mit dem „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das ist dagegen sehr praktikabel, kann problemlos umgesetzt werden, so können es viele Glieder unserer Gemeinde bezeugen, die aus einer Gesellschaft kommen, in der diese Regel weiterhin als Rechtsgrundsatz gilt, ja, wie so vieles im Koran einfach aus dem Alten Testament entnommen und doch zugleich in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – das ist ja eine sehr praktische Regelung, die Blutrache verhindern soll, die ein immer weiteres Eskalieren von Gewalt und Unrecht vermeiden soll: Wenn dir jemand einen Zahn ausgeschlagen hat, darfst du ihn deswegen nicht töten, darfst ihm deinerseits auch nur wieder einen Zahn ausschlagen, mehr nicht. Und praktikabel ist es auch, die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft zu lieben und diejenigen, die nicht dazugehören, zu hassen. „Tötet die Ungläubigen, wo auch immer sie findet“ – das lässt sich gut praktisch umsetzen, und so geschieht es denn ja auch immer wieder in verschiedener Weise.
Doch diejenigen, die in ihrer Heimat erlebt haben, wie diese Rechtsgrundsätze umgesetzt und durchgesetzt werden, die waren und sind von dieser Praktikabilität überhaupt nicht begeistert, im Gegenteil: Sie haben sich gerade deswegen vom Islam abgewandt und dem christlichen Glauben zugewandt, weil sie nicht in einer Gesellschaft, nicht in einer religiösen Gemeinschaft leben wollten, in der solche erschreckend praktischen Regeln Geltung hatten. Ja, Christen seid ihr geworden, gerade weil euch diese Worte Jesu von der uneingeschränkten Liebe gegenüber jedermann so fasziniert und nicht mehr losgelassen haben.
Können wir es also doch schaffen, diese Erwartungen unseres Herrn zu erfüllen, tatsächlich dem Bösen nicht zu widerstreben, tatsächlich unsere Feinde von Herzen zu lieben? Schwestern und Brüder: Wenn wir bei dieser Frage nur auf uns selber, auf unsere eigenen Möglichkeiten blicken, dann können wir sie nicht ehrlichen Herzens bejahen. Er steckt doch so tief immer wieder in uns drin: Dieser Wunsch nach Rache und Vergeltung denen gegenüber, die uns Böses angetan haben, und diese Sehnsucht, die Welt genau einteilen zu können in Böse und Gute, in Feinde und Freunde. Das können wir doch nicht einfach abschütteln und feierlich erklären, all das spiele nun in unserem Denken und Verhalten keine Rolle mehr.
Doch um richtig verstehen zu können, worum es hier in den Versen des Heiligen Evangeliums des heutigen Sonntags eigentlich geht, müssen wir zunächst und vor allem auf den schauen, der diese Worte hier spricht: auf ihn, Christus, selber. Der hat das in der Tat selber gelebt, bis zur tiefsten bitteren Konsequenz, was er hier in der Bergpredigt seinen Jüngern sagt: Der hat dem Bösen nicht widerstrebt, sondern hat es alles auf sich genommen: die gemeinen Worte, die ungerechten Urteile, ja sogar den Schlag auf die Backe, dieses besondere Zeichen der Entehrung. Der hat tatsächlich noch am Kreuz für die gebetet, die ihn da gerade ans Kreuz genagelt hatten, hat sich von denen, die ihn so ungerecht behandelt haben, nicht dazu verleiten lassen, ihnen umgekehrt das Gleiche anzutun, sie zu hassen, ihnen Böses zu wünschen.
Nein, Jesus hat das nicht bloß gemacht, um uns als Vorbild zu dienen: Wenn du dich genügend anstrengst, dann schaffst du es auch, schaffst es, dich selber zu retten! Nein, er ist diesen Weg des Leidens gegangen, um uns zu retten, um die Strafe für all unsere Lieblosigkeit, unseren Hass, unsere Sehnsucht nach Rache und Vergeltung auf sich zu nehmen. Er hat die Ohrfeigen eingesteckt, die wir ihm mit unserem Verhalten zugefügt haben, hat sie eingesteckt und sie mit seiner Liebe überwunden. Ja, für alle Menschen ist er, Christus, am Kreuz gestorben, nicht bloß für einige auserwählte besondere Christen, nicht bloß für einige besonders sympathische Exemplare, sondern für seine Feinde, ja auch für uns, die wir ihn so oft enttäuscht und verletzt haben. Er will nicht, dass wir verloren gehen, er will, dass wir ewig leben in der Gemeinschaft mit ihm, dem auferstandenen Herrn. Und mit dieser Botschaft, ja, damit, dass er uns in seine Gemeinschaft hineinzieht, verändert Christus tatsächlich unser Leben, verändert unser Herz mit seiner bedingungslosen Liebe, die er uns erwiesen hat bis zur letzten Konsequenz. Damit setzt er eine neue Realität gegen die scheinbar allein praktikable Realität des Gesetzes und der Strafe, eine neue Realität, die keine Träumerei ist, kein Wolkenkuckucksheim, sondern sich als stärker erweist als alle noch so praktikablen Gesetzesvorschriften. Denn genau das ist es ja, was diejenigen, die aus einem Land mit diesen Gesetzen geflohen sind, bezeugen: Diese furchtbar praktikablen Gesetze haben es nie geschafft, das Herz der Menschen, die sich ihnen beugen mussten, zu erreichen. Sie haben vielleicht den nötigen Druck ausgeübt, dass Menschen es sich überlegt haben, bestimmte Gesetze zu übertreten, die auf diese Weise sanktioniert werden. Sie haben vielleicht den nötigen Druck ausgeübt, um Menschen davon abzuhalten, sich öffentlich gegen diese Gesetze auszusprechen, da sie doch angeblich göttlichen Ursprungs sind. Aber das Herz von Menschen kann man mit der Regelung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ nicht gewinnen. Herzen kann man überhaupt nur gewinnen und verändern durch Liebe, durch Liebe, die stark genug ist, den eigenen Hass in sich zu überwinden.
Nicht moralische Appelle will Jesus hier also verbreiten, sondern uns wieder neu erkennen lassen, wie sehr wir auf ihn, auf die Hingabe seines Lebens am Kreuz angewiesen sind. Darum geht es Jesus, dass wir wieder neu erkennen, wie entscheidend das für unser Leben ist, dass Jesus am Kreuz gerufen hat: „Es ist vollbracht“. Da gebraucht er nämlich dasselbe griechische Wort, das hier in unserem Evangelium mit „vollkommen“ übersetzt wird. Gemeint ist also: So sollen und dürfen wir als Jünger Jesu, als Christen leben, dass wir davon leben, dass Jesus unser Verhältnis zu Gott in Ordnung gebracht hat. Das soll und wird unser Verhältnis zu anderen Menschen bestimmen, auch und gerade zu denen, die uns das Leben schwer machen. Auch über sie lässt Gott seine Sonne scheinen, ja mehr noch: auch für sie ist Jesus am Kreuz gestorben – ja, auch für den, der dir vielleicht mit seinen Worten eine Ohrfeige verpasst hat, die noch viel mehr schmerzt als ein Schlag auf deine Wange. Ja, auch für den ist Jesus am Kreuz gestorben, dem du es zu verdanken hast, dass du deine Heimat verlassen und hierher nach Deutschland fliehen musstest.
Schau darum nicht auf dich, auf deine Möglichkeiten, wenn du die Worte Jesu hörst. Schau auf deinen Herrn, auf das, was er für dich getan hat. Schau auf die Möglichkeiten, die dein Herr Jesus Christus dir in deiner Taufe eröffnet hat, als er dich zu einem Kind Gottes, zum Erben des ewigen Lebens gemacht hat, als er dich dort mit seiner Liebe umfangen und zu einem neuen Menschen gemacht hat, ja, dich und mit dir auch die 16 Schwestern und Brüder, die heute hier am Taufstein zum neuen Leben in der Gemeinschaft mit Christus wiedergeboren wurden. Ja, du bist es, ein neuer Mensch, der sein kann, was eigentlich unmöglich ist: ein neuer Mensch, der es tatsächlich ertragen kann, Unrecht zu erleiden, ohne Gleiches mit Gleichem zu vergelten, ein neuer Mensch, dessen Herz nicht länger von Hass und dem Wunsch nach Vergeltung geprägt ist, sondern von der Freude über Gottes bedingungslose Liebe. Und dann kann es tatsächlich passieren, dass wir Menschen etwas leihen, obwohl wir vielleicht sogar verständlicherweise damit rechnen müssen, dass wir das Geliehene nicht wiederbekommen. Dann kann es tatsächlich passieren, dass wir anfangen, für Menschen zu beten, die uns das Leben so schwer machen. Ja, dann kann es passieren, dass durch dieses Gebet auch unser eigenes Herz verändert wird. Nein, Jesus ist kein weltfremder Träumer. Was er hier sagt, hat Hand und Fuß, Hand und Fuß, mit Nägeln durchbohrt – auch für dich! Amen.