St. Matthäus 6,5-15 | Rogate | Pfr. Dr. Martens

Vor einigen Wochen erklärte das Verwaltungsgericht Berlin Erstaunliches: Es sei nicht zu beanstanden, dass der Staat Gottesdienste in Kirchen und Sakramentsfeiern verbiete, denn damit werde der Kernbereich der Religionsfreiheit ja noch nicht einmal berührt. Denn für den christlichen Glauben sei ja die „individuelle stille Einkehr“ ausreichend, beziehungsweise reiche auch die private Andacht im Kreis der Haushaltsangehörigen aus. Mit Recht hat unser Bischof gegen diesen Übergriff des Staates in die Bestimmung dessen, was den Kern des christlichen Glaubens ausmacht, in einem offenen Brief protestiert. Doch kann sich das Verwaltungsgericht mit seiner sehr eigenwilligen Bestimmung dessen, was den Kern des christlichen Glaubens ausmacht, nicht sogar mit Recht auf die Predigtlesung des heutigen Sonntags berufen? Da fordert uns Jesus doch dazu auf, zum Gebet in das stille Kämmerlein zu gehen und die Tür zuzuschließen – kirchlicher Lockdown, von Jesus selber angeordnet?

Der Grundfehler in der Argumentation des Verwaltungsgerichts, die bemerkenswerterweise auch in manchen frommen Kreisen ganz ähnlich vertreten wird, besteht darin, dass in ihr der Gottesdienst auf das Gebet reduziert wird, als ginge es im Gottesdienst nur um das Beten. Dann wäre es ja in der Tat kein Problem, ebenselbiges aus einem Kirchraum auch in das heimische Wohnzimmer vor den Computerbildschirm oder eben, wie Jesus es hier formuliert, in die Speisekammer zu verlegen.

Natürlich ist das Gebet ein zentraler Ausdruck unseres christlichen Glaubens, und es mag Situationen in unserem Leben geben, in denen wir dazu gezwungen sind, unsere Glaubenspraxis eben darauf zu beschränken. Ich denke etwa an den jungen afghanischen Christen aus einer Gemeinde unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, der vor kurzem nach Kabul abgeschoben wurde und von dort aus noch seinem Pastor über sein Handy mitteilte: „Ich sitze jetzt in meinem Hotelzimmer und bete das Vaterunser.“ Ja, so weit geht unser Staat mittlerweile, dass er sein Verständnis von dem, was angeblich zum christlichen Glauben ausreicht, so weit mit Gewalt durchsetzt, dass denen, die von dieser Gewalt betroffen sind, wirklich keine andere Glaubenspraxis als das Gebet allein mehr bleibt.

Doch damit kann sich unser Staat in Wirklichkeit eben doch nicht auf Jesus berufen. Denn unser Gottesdienst ist eben sehr viel mehr als nur das Gebet. Nach islamischem Verständnis sind Gottesdienst und Gebet mehr oder weniger eins – darum wird der Gottesdienst in der Moschee oft auch einfach „Gebet“, „doa“ genannt. Doch im Gottesdienst geht es zunächst und vor allem nicht darum, dass wir uns an Gott wenden, sondern dass Gott sich an uns wendet, dass er uns beschenkt mit seinen Gaben. Darum geht es im Gottesdienst, dass Christus, der Herr der Welt, sich mit uns verbindet, dass er uns beschenkt mit seiner Vergebung, dass er allein alles tut, um unser Verhältnis zu Gott in Ordnung zu bringen. Und auf diese Zuwendung Gottes in seinem Wort, auf die leibhaftige Gemeinschaft mit Christus im Heiligen Mahl können und wollen wir als Christen niemals verzichten, auch wenn irregeleitete Richter dies für verzichtbar erklären.

Ja, erst vom Gottesdienst her können wir dann auch recht verstehen, worum es Jesus in den Worten unserer heutigen Predigtlesung geht:

Da setzt sich Jesus hier in unserer Predigt mit Leuten auseinander, die darauf aus waren, mit ihrem Gebet etwas zu erreichen: Menschen, die nach außen hin besonders fromm erschienen, weil sie in aller Öffentlichkeit ihre Gebete verrichteten und damit zeigen wollten, wie wichtig das Gebet für sie ist. Doch Jesus blickt tiefer: Er erkennt, dass diese Gebete in Wirklichkeit gar nicht zuerst und vor allem an Gott gerichtet sind, sondern vielmehr an die Umgebung, die sie miterlebt und diese Beter für besonders fromme Leute hält. „Heuchler“ nennt Jesus diese Leute, die denken, Gebete müssten sich lohnen, ganz handfest lohnen – vor allem auch dadurch, dass man dadurch in den Augen anderer gut dasteht. Solche Phänomene gibt es ja in allen Religionen. Viele Glieder unserer Gemeinde kennen sie, die besonders eifrigen Beter des Namas, des rituellen islamischen Gebets, die jeden darauf ansprechen, wenn er es ihnen in ihrem Eifer nicht gleichtut, und die mit ihrem Eifer natürlich auch viel bessere Chancen auf eine Anstellung bei staatlichen Behörden haben als diejenigen, die nicht diesen Eifer an den Tag legen. Aber es gibt dies auch im christlichen Glauben, dass in bestimmten christlichen Gruppen manche Leute sich gerne mit ihren freien Gebeten präsentieren und es nicht ganz ungern hören, wenn dann andere von ihnen sagen, sie würden ja „so schön beten“. Doch genau diese Leute schickt Jesus mit seinen Worten zum Gebet in die Speisekammer, dorthin, wo es kein anderer mitbekommt, was sie beten, dort, wo sie für ihre Gebete von keiner Seite Lob und Anerkennung erfahren.

Doch wenn wir Gottesdienst feiern, dann erfahren wir, dass es im Gebet niemals darum geht, dass wir damit etwas für uns erreichen wollen. Der ganze Gottesdienst lebt doch davon, dass nicht wir etwas tun, dass nicht wir uns präsentieren, sondern dass Gott alles für uns tut, dass er uns beschenkt mit allem, was wir brauchen, um vor ihm richtig dazustehen. Wer erfahren hat, dass ihm im Gottesdienst alle seine Sünden vergeben werden, dass Christus in ihm lebt, der wird kein Bedürfnis mehr danach haben, sich selbst noch groß zu präsentieren, weil er weiß: Ich habe doch wirklich alles, was nötig ist. Ja, der wird dann natürlich seine Gebete in der Stille verrichten, weil er damit nichts erreichen will bei den Menschen, ja, weil er weiß, dass Gott ihn schon längst beschenkt hat, bevor er mit seinem Gebet überhaupt begonnen hat.

Und noch etwas anderes lernen wir im Gottesdienst: Gebete entfalten ihre Wirkung nicht dadurch, dass sie besonders lang oder originell sind. Wir brauchen keine besondere religiöse Sprachbegabung, um mit unseren Gebeten zu Gott vorzudringen. Es reicht das eine Wort „Vater“, um Gott aufmerksam zuhören zu lassen. Und wenn wir denn nicht dazu in der Lage sind, Gebete selber zu formulieren, dann können wir uns tatsächlich auch ganz einfach an das Gebet halten, das Jesus seinen Jüngern hier an das Herz legt: an das Vaterunser. Ein Christ, der in seinem Leben einfach die Worte des Vaterunsers immer wieder betet, steht in Gottes Augen nicht schlechter da als derjenige, der zumindest behauptet, jeden Tag ganze Stunden im Gebet zu verbringen. Wenn das jemand tatsächlich macht und es nicht nur vorgibt, ist das natürlich wunderbar. Gespräche mit Gott sind etwas Wunderbares. Aber wenn jemand sich einfach nur an die Worte des Vaterunsers klammert, der darf gewiss sein: Gott wird dieses Gebet hören, wird mir eben so all das geben, was ich in meinem Leben als Christ wirklich brauche.

Und noch etwas erfahren wir im Gottesdienst: Wenn wir beten, dann beten wir immer gemeinsam. Auch wenn ich das Vaterunser allein für mich bete, bete ich dennoch nicht: „Mein Vater, gib mir, vergib mir, erlöse mich“ – sondern wir beten immer „Vater unser“, wir beten immer in der Gemeinschaft der ganzen Kirche. Aus der Gemeinschaft der Kirche, wie wir sie in der gemeinsamen Feier des Gottesdienstes erfahren, fließt dann auch das persönliche Gebet des Einzelnen. Aber es kann das gemeinsame Gebet, wie wir es im Gottesdienst praktizieren niemals ersetzen. Und darum gibt es eben auch keinen Gottesdienst, in dem wir nicht miteinander das Heilige Vaterunser beten – gerade auch als Stärkung unseres eigenen persönlichen Gebets, gerade auch für Zeiten, in denen wir nicht zusammenkommen können, wie wir es in den vergangenen Wochen so schmerzlich erlebt haben.

Ich kann nun in dieser Predigt nicht auch noch das ganze Vaterunser auslegen und erklären. Ich will nur noch auf den einen Punkt hinweisen, den Jesus am Schluss des Vaterunsers besonders herausstellt: Er betont, wie wichtig es ist, dass wir als Christen anderen Menschen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Und gerade dazu kann das Gebet, kann besonders auch das Gebet des Vaterunsers eine entscheidende Hilfe sein. Beten ist ja gerade nicht eine himmlische Amazon-Bestellung, dass wir unsere Lieferaufträge an Gott senden und drei Tage später die bestellten Päckchen erhalten. Sondern das Gebet verändert uns zunächst und vor allem erst einmal selber, so zeigt es uns Christus hier. Wenn ich das Vaterunser bete, wenn ich es ausspreche, dass ich meinen Schuldigern vergebe, dann kann ich anschließend nicht mehr mit denselben unfrommen Gedanken ihnen gegenüber weiterleben, dann wirkt Gott in meinem Gebet selber schon eine Veränderung meines Herzens – die dann eben auch immer wieder dazu führt, dass ich im Gebet nicht um meine eigenen Wünsche kreise, sondern immer mehr darum, dass Gottes Wille geschehe, immer mehr auch darum, was andere brauchen.

Ja, vergeben sollen wir als Christen – und dass wir diese Worte aussprechen können, dass wir unseren Schuldigern vergeben, hat seinen Grund immer wieder in der Vergebung, die wir im Gottesdienst empfangen. Ohne den Empfang der Vergebung im Gottesdienst vertrocknet auch unser persönliches Gebet. Und eben darum war es so gut und wichtig, dass unser Bischof dem Berliner Verwaltungsgericht solch einen deutlichen Brief geschrieben hat und ihm erklärt hat, dass die stille Andacht allein eben gerade nicht den Kern des christlichen Glaubens ausmacht. Ohne den Gottesdienst wird unser Gebet oftmals sehr schnell kraftlos. Gott geb’s, dass das nicht nur die Verwaltungsgerichte unseres Landes verstehen und nicht länger Christen mit ihren Entscheidungen den Zugang zum Gottesdienst verwehren, sondern dass das auch ein jeder Christ in der Gemeinde versteht: Wir brauchen den Gottesdienst, um beten zu können. Und was wir im Gottesdienst erfahren haben, das wird sich dann auch im persönlichen Gebet auswirken, ja, das wird gerade so dann auch unser Leben verändern. Ja, beten wir jeden Tag zu Gott, dass er uns nicht noch einmal in unserem Leben den Zugang zum Gottesdienst verwehren möge! Amen.

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