St. Matthäus 9, 9-13 | St. Matthäus | Pfr. Dr. Martens

Wenn ich auf die Glieder unserer Gemeinde angesprochen werde, dann komme ich immer wieder schnell ins Schwärmen: So viel Gutes kann ich von den Menschen, die zu unserer Gemeinde gehören, berichten, kann erzählen von so viel Liebe und Freundlichkeit, von so viel Glaubenseifer und Freude am christlichen Glauben, von so viel Fröhlichkeit, die wir hier in unserer Gemeinde miteinander erfahren. Ja, das erzähle ich gerne – zunächst und vor allem natürlich, weil es einfach die Wahrheit ist, weil wir tatsächlich so viele wunderbare Menschen bei uns hier in der Gemeinde haben, Einheimische und neue Gemeindeglieder gleichermaßen. Aber natürlich betone ich es auch deshalb, weil sich in unserer Gesellschaft allmählich ein Klima breitmacht, in dem Asylsuchende alle miteinander nur noch als potentielle Vergewaltiger und Betrüger dargestellt werden, in dem selbst ein prominenter Vertreter einer sich christlich nennenden Partei gegen in der Kirche ministrierende Senegalesen hetzt und allen Ernstes solche christlichen Flüchtlinge als das Schlimmste überhaupt bezeichnet. Nein, die Menschen, die wir hier in unserer Gemeinde haben, die sich hier bei uns so gut integrieren, sind nicht das Schlimmste, sondern ein Glücksfall – für unsere Gemeinde genauso wie für unser Land.

Doch wenn ich so von unseren Gemeindegliedern schwärme, möchte ich damit zugleich nicht dem Missverständnis Vorschub leisten, als ob wir hier in unserer Gemeinde die Guten haben und die anderen draußen die Bösen sind, als ob sich hier in der Gemeinde die Creme de la Creme der Flüchtlinge versammelt im Unterschied zu dem Bodensatz, den man ansonsten in den Heimen findet. Das gilt für unsere neuen Gemeindeglieder ebenso wenig wie für die alten. Und falls uns das noch nicht ganz klar sein sollte, hilft uns der heilige Matthäus heute an seinem Gedenktag mit dem Evangelium dieses Tages ein wenig nach. Da berichtet er nämlich davon, wie er in die Gemeinschaft mit Jesus geraten ist, macht uns dabei deutlich, wie Menschen bis heute in die Gemeinschaft mit Jesus Christus gelangen:

  • Jesus sieht
  • Jesus ruft
  • Jesus behandelt


I.

Davon, dass Jesus ihn gesehen habe, weiß der Evangelist St. Matthäus zunächst einmal zu berichten. Wenn Jesus einen Menschen sieht, dann sieht er ihn nicht so, wie wir Menschen auf der Straße sehen – entweder ganz beiläufig, ohne sie groß zu beachten, oder aber vielleicht auch mit einer gewissen Neugier. Doch wenn Jesus einen Menschen sieht, dann blickt er nicht nur flüchtig auf ihn, dann nimmt er ihn nicht nur neugierig oder mitleidig wahr, sondern dann steckt in diesem Blick schon sein ganzes Erbarmen, seine ganze Liebe.

Erbarmen? Wozu brauchte der Matthäus denn Erbarmen? Er war Leiter eines florierenden mittelständischen Unternehmens, das mit einer guten Geschäftsidee erstaunliche Gewinne erzielte: In Kooperation mit den zuständigen Behörden übernahm er gewisse Kontrollfunktionen bei der Einreise von Geschäftsreisenden in die Stadt und kassierte dafür auch gewisse Gewinnbeteiligungen. Doch sehr beliebt machte er sich mit dieser Arbeit nicht – im Gegenteil: In den Augen der Bevölkerung war er ein Kollaborateur mit der feindlichen Besatzungsmacht, einer, der mit den Ungläubigen zusammenarbeitete und damit selber auf die Seite der Ungläubigen, der Sünder, gehörte, einer, der, sprechen wir es ganz offen aus, allgemein als Dreckschwein angesehen wurde, nicht zuletzt auch deshalb, weil er über das hinaus, was er den Leuten abknüpfen durfte, die Leute auch noch ganz kräftig betrog.

Jesus sieht Matthäus, er sieht seine Lebensgeschichte, er sieht, wie dringend er es nötig hat, dass sich in seinem Leben etwas sehr grundsätzlich ändert – und er sieht, dass Matthäus dazu selber gar nicht in der Lage ist. So geht die Geschichte zwischen ihm und Matthäus los – und so ist sie auch bei jedem von uns losgegangen. Unsere Lebensgeschichten mögen der des Matthäus ähneln oder auch gar nicht – wichtig ist allein: Jesus hat uns gesehen. Er hat schon auf uns geblickt, als wir noch im Leib unserer Mutter waren, er hat uns gesehen, als wir noch gar keine Ahnung von ihm hatten, und er hat ganz schnell die Diagnose gestellt: Wir brauchen ihn, wir kommen ohne ihn nicht weiter, verfehlen unser Leben hundertprozentig, wenn wir einfach so weiterleben ohne ihn.


II.

Und dann spricht Jesus den Matthäus an. Zwei Worte sagt er nur zu ihm – aber diese beiden Worte verändern das Leben des Matthäus völlig: „Folge mir!“ Nichts berichtet Matthäus davon, was er anschließend überlegt hat, ob er mit sich gerungen hat, was für Gefühle er gehabt hat. Das Wort Jesu allein reicht; es hat solch eine Kraft, dass er gar nicht anders kann, als aufzustehen, seinen Betrieb liegen zu lassen und ein völlig neues Leben zu beginnen in der Nachfolge seines Herrn.

Um nichts anderes geht es auch heute noch hier in der Kirche. Dass wir heute Abend hier zusammengekommen sind, dass wir hier in der Kirche versammelt sind, ist nicht das Ergebnis unserer Entscheidungen und Überlegungen; es liegt auch nicht daran, dass wir uns hier einen netten Club gesammelt hätten. Nein, es war einzig und allein das Wort Christi, das dies bewirkt hat: Das Wort Christi, das manche von uns schon als kleine Kinder in der Heiligen Taufe zum ewigen Leben berufen hat, das Wort Christi, das andere unter uns dazu bewogen hat, alles, was sie in ihrer Heimat besaßen, stehen und liegen zu lassen, um hierher zu kommen, das Wort Christi, das das Leben von Menschen völlig zu verändern vermag.


III.

Jesus sieht Menschen, Jesus beruft Menschen – und da bleibt nun die Frage: Wen ruft er? Jesus gibt auf diese Frage eine ganz klare und eindeutige Antwort: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ In der Kirche versammelt Christus also Kranke, in der Kirche versammelt er Sünder, also gerade nicht die Creme de la Creme, nicht die Besten, Stärksten und Schönsten.

Vergessen wir diese Worte Jesu nie, wenn wir uns vielleicht doch mal wieder nach einer Kirche und Gemeinde sehnen, in der es einfach nur Gesunde und Starke gibt, gesellschaftlich Anerkannte, finanziell gut Gestellte, wenn wir uns nach einer Kirche und Gemeinde sehnen, deren Gemeindeglieder man jedem vorzeigen kann!

„Die Kirche ist ein Siechenhaus“, vergessen wir diese grundlegende Wahrheit nie. Jesus ruft Menschen in seine Kirche, die kaputt sind an Leib und Seele, die Schuld auf sich geladen haben, die nicht unbedingt vorzeigbar sind für andere. Nein, da läuft bei uns nichts schief, wenn wir das auch und gerade in unserer Gemeinde erleben, wie viele kranke und kaputte Menschen wir in unserer Mitte haben, Menschen, die ein Leben lang an den Folgen ihrer Folter leiden werden, am Körper und an ihrer Seele, Menschen, die einfach an den Grenzen ihrer Kräfte sind und dann manchmal auch ganz anders reagieren, als wir dies für normal halten würden, Menschen, die in ihrem Leben schwere Schuld auf sich geladen haben, ja, die auch deshalb hierher nach Deutschland gekommen sind, weil sie gemerkt hatten, wie sehr sie sich ihr Leben in ihrer Heimat selber kaputt gemacht hatten, Menschen, die glaubten, sie seien stark, und die dann hier im Siechenhaus zusammenklappen. Ach, wie recht hat Jesus mit seinen Worten, ach, wie wenig hat sich an seinem Vorgehen geändert, seit er damals den Matthäus berufen hat! Eine Gemeinde voll von Sündern und Kranken – jawohl, das sind wir, das sollen wir nach dem Willen unseres Herrn sein.

Aber vergessen wir es nicht: Jesus selber ist hier in unserer Mitte als unser Arzt. Die Kirche ist nicht einfach bloß eine Verwahranstalt. Hier findet tatsächlich Heilung statt, hier werden Menschen auf einen neuen Weg geführt, hier werden Menschen verändert, und wie! Ach, wie oft haben wir das schon in unserer Mitte erleben dürfen, was für eine heilende Kraft die Botschaft des christlichen Glaubens hat, was für eine heilende Kraft die Heiligen Sakramente haben! Ja, Sünder und Kranke sind hier in der Kirche – aber doch zugleich Sünder, denen ihre Schuld vergeben wird, Kranke, die aufgerichtet, ermutigt werden. Aus dem Finanzbetrüger Matthäus hat Jesus einen Apostel und Evangelisten gemacht, aus Drogenjunkies treue Gemeindemitarbeiter, aus Menschen, die für sich selber keine Lebensperspektive mehr sahen, fröhliche Glieder unserer Gemeinde. Und doch ist unsere Gemeinde nicht einfach bloß eine Ansammlung von Erfolgsgeschichten. Ja, Christus heilt, und trotzdem bleibt die Kirche ein Siechenhaus, soll es auch bleiben. Was unsere Gemeindeglieder so liebenswert macht, ist, dass sie von Christus geliebt sind, und dass wir an ihnen und mit ihnen erkennen können, wie sehr diese Liebe unseres Herrn auch uns gilt. Ja, davon kann man in der Tat immer wieder nur schwärmen! Amen.

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