„Städte in der Bibel“: Athen (Apostelgeschichte 17,16-34) | Mittwoch nach Laetare | Pfr. Dr. Martens

Wenn wir heute an Athen denken, dann denken wir an eine Metropole mit fast vier Millionen Einwohnern, an das unbestrittene Zentrum Griechenlands, von dem aus das ganze Land regiert wird. Oder wir denken, bei entsprechender klassischer Bildung, an die Zeiten der großen Philosophen, an Sokrates und seine Nachfolger, als Athen das geistige Zentrum der Antike war.

In der Bibel wird Athen dagegen nur am Rande erwähnt. Eine einzige Geschichte in der Heiligen Schrift handelt von dem Besuch des Apostels Paulus in Athen; mehr wird von Athen nicht berichtet. Ja, Paulus ist auf seiner Missionsreise durch Griechenland auch nach Athen gekommen. Doch die Stadt, in die er damals kam, war zu dieser Zeit nur ein Schatten ihrer selbst. Sie war nicht viel mehr als eine etwas heruntergekommene Provinzstadt mit etwa 5000 Einwohnern, die noch vom Ruhm längst vergangener Tage zehrte – und die auch damals schon so etwas wie ein Freilichtmuseum war, in das Bildungsbeflissene auch schon damals vor 2000 Jahren gerne reisten, um ein wenig den Geist der großen Philosophen zu atmen, die dort einmal gelebt hatten. Wer etwas auf gehobene Bildung Wert legte und die nötigen Finanzen besaß, der reiste gerne nach Athen – so ähnlich wie man heutzutage als Lutheraner einfach mal die Lutherstadt Wittenberg gesehen haben muss.

Auch der Apostel Paulus stattete der Provinzstadt seinen Besuch ab. Allerdings kam er nach Athen nicht, um den großen Philosophen der Antike zu huldigen, sondern er kam nach Athen, um auch dort das Evangelium zu verkündigen. Eine kleine jüdische Gemeinde gab es in Athen; dorthin ging er, wie üblich, zuerst, und predigte dort. Daneben sprach er auf dem Marktplatz diejenigen an, die er dort antraf. Er war dort nicht der einzige. Es war damals durchaus üblich, dass auch Philosophen der verschiedenen Philosophenschulen dorthin gingen, um für ihre Anschauungen zu werben. Und mit denen gerät er dann dort auf dem Marktplatz in Konflikt. Als „Körnerpicker“ bezeichnen sie Paulus, als einen, der philosophisch nicht sehr gebildet ist, sondern sich seine eigenen Vorstellungen aus verschiedenen Philosophenschulen zusammengebastelt hat. Und dann gehen sie einen Schritt weiter: Sie bezeichnen Paulus als jemanden, der fremde Götter und eine neue Lehre in der Stadt verbreiten will. Und solch ein Vorwurf wog in Athen schwer. Wegen eben dieses Vorwurfs war ja bereits Sokrates in der Vergangenheit zum Tode durch ein athenisches Gericht verurteilt worden. Offenbar hatte Paulus auch dort auf dem Marktplatz bereits von der Auferstehung Christi gesprochen, und die Philosophen hatten das so missverstanden, als ob die „Anastasis“, die Auferstehung, eine weibliche Göttin sei, von der Paulus da sprach. Jedenfalls wird Paulus schließlich vor das Gerichtsgebäude, den Areopag, geführt. Ob er nur freundlich dorthin geleitet wurde oder ob er möglicherweise doch verhaftet und als Gefangener vor das Gerichtsgebäude geführt worden war, kann man den Worten des heiligen Lukas nicht direkt entnehmen. Aber offenbar bewegte auch die Bewohner Athens, die Philosophen zumal, zweierlei zugleich: Auf der einen Seite sahen sie sich als die Hüter der alten Überlieferungen, die in Athen zu Hause waren – und da passte das, was Paulus den Athenern verkündigte, einfach nicht hinein. Andererseits ist es nicht allein der heilige Lukas, sind es auch andere Quellen, die davon sprechen, dass die Athener der damaligen Zeit besonders an Neuerungen interessiert waren. Neugier auf etwas, was eigentlich gar nicht sein kann und darf – wir kennen diese Spannung aus unserer Zeit, aus unserem Leben selber nur allzu gut. Jedenfalls lässt man den Paulus nun dort vor dem Gerichtsgebäude erst einmal reden – und der nutzt die Chance zu einer Rede, wie man sie sonst im Neuen Testament nicht findet. Paulus versucht anzuknüpfen an das, was seine Zuhörer kannten und erwarteten. Er spricht sie auf ihre Religiosität an und auf die Heiligtümer, die er in der Stadt gesehen hatte, auf die zahlreiche Tempel und Altäre, die allen möglichen Gottheiten gewidmet waren. Was Paulus davon in Wirklichkeit hielt, hatte St. Lukas schon gleich zu Beginn seiner Schilderung über den Aufenthalt des Apostels in Athen, beschrieben: „Als aber Paulus in Athen auf Silas und Timotheus wartete, ergrimmte sein Geist in ihm, da er die Stadt voller Götzenbilder sah.“ Was wir als historisch interessantes Kulturgut ansehen mögen, wird von Paulus noch als Ausdruck einer Religiosität gewertet, die ganz selbstverständlich von der Existenz vieler verschiedener Götter ausging. Doch nun in seiner Rede vor dem Areopag fängt Paulus vorsichtig an, lässt das nicht gleich raushängen, was er von diesen ganzen Göttern und Altären hält. Vielmehr wählt er einen Altar als Aufhänger, der einem unbekannten Gott gewidmet war – errichtet von den Athenern aus Sorge, dass man irgendeinen Gott bei der Darbringung von Opfern übersehen könnte – und da hatte man zur Sicherheit diesem Gott auch gleich noch einen Altar errichtet.

Und nun fährt Paulus sehr selbstbewusst fort: Ich erkläre euch jetzt, welchen Gott ihr da übersehen habt und wen ihr nun in Wahrheit verehren solltet: Es ist der eine Gott, der sich nicht mit menschlichen Bildern darstellen lässt, der die ganze Welt geschaffen hat und der den Menschen so geschaffen hat, dass er nach ihm, dem wahren Gott, dem Schöpfer der ganzen Welt, sucht. Ja, bevor Paulus über Christus und die Auferstehung sprechen kann, muss er erst einmal einen gewissen Grundkonsens formulieren, dem auch die philosophisch Gebildeten unter seinen Zuhörern zustimmen konnten: Auch sie kritisierten die Vorstellung, dass Götter auf die Opfergaben von Menschen angewiesen seien, auch sie konnten davon reden, dass alle Menschen zu dem einen Menschengeschlecht gehören und von daher gleich sind, weil sie alle von einem Schöpfer erschaffen wurden. Zitate von Philosophen führt Paulus dabei an, versucht die Zuhörer mitzunehmen auf seinem Weg zu Jesus Christus.

Doch Paulus bleibt nicht dabei, einen allgemeinen Konsens herzustellen, frei nach dem heute auch noch so beliebten Motto: „Ob Moslem, Christ und Hottentott – wir glauben all an einen Gott.“ Nein, Paulus wird gleich danach deutlicher, redet von der Unwissenheit der Athener, kommt darauf, Jesus Christus als den Retter aus dem Gericht Gottes zu verkündigen, der uns durch seine Auferstehung eine ganz neue, ewige Lebensperspektive geschenkt hat. Und spätestens an diesem Punkt ist es mit dem Konsens mit seinen philosophischen Gesprächspartnern auch wieder vorbei: Die Athener wussten genau, dass der Leib nur ein Gefängnis für die Seele war und die Seele froh sein konnte, wenn sie schließlich am Ende des Lebens dieses Gefängnis wieder verlassen konnte. Und jetzt kommt da jemand, der behauptet, Jesus sei leiblich auferstanden, sei diesem Gefängnis seines Leibes selbst in seinem Tod nicht entkommen. Was für eine verrückte Botschaft! Die meisten lachen sich über Paulus kaputt – aber sie sehen ihn als einen so verrückten Spinner an, dass er nicht ernsthaft Verwirrung bei den Leuten anrichten kann, und so lassen sie ihn gehen. Doch auch dort in Athen findet sich eine kleine Gruppe von Leuten zusammen, die durch die Predigt des Paulus zum Glauben an Christus geführt werden, darunter durchaus auch ein angesehener Ratsherr namens Dionysius und eine Frau namens Damaris. Große missionarische Erfolge sehen gewiss anders  aus – aber auch in Athen bleibt die Predigt des Evangeliums nicht ohne Frucht.

Was macht uns diese Erzählung aus der Apostelgeschichte über die Geschehnisse in Athen über unser Leben als Christen in der Gesellschaft deutlich? Sie zeigt uns zunächst einmal, dass es gut ist, wenn wir uns als Christen mit dem Denken der Menschen, die um uns herum leben und die wir mit dem Evangelium bekannt machen wollen, vertraut machen. Es ist gut, wenn wir versuchen, sprachfähig zu sein und Menschen auf das anzusprechen, was sie bewegt. Auch wenn uns vieles daran nicht gefällt, was andere Menschen denken, soll das kein Grund sein, uns damit nicht zu befassen. Ja, das tut auch dem besseren Verständnis des eigenen Glaubens gut, wenn man ihn in Beziehung setzt zur eigenen Umgebung, wenn man vielleicht auch wahrnimmt, wie der eigene Glaube auch beeinflusst ist durch das, was Menschen um einen herum denken. Es ist gut, wenn wir beispielsweise auch Muslime in ihrem Denken zu verstehen versuchen, um ihnen gerade so nahezubringen, was der christliche Glaube auch ihnen zu sagen hat.

Ja, es ist gut und sinnvoll, dass wir Menschen in unserer Verkündigung immer auch neugierig machen auf das, was Gottes Wort auch ihnen zu sagen hat.

Doch zugleich lernen wir aus dem Besuch des Paulus in Athen auch das andere: Und wenn wir das Evangelium noch so nett verpacken, wenn wir auch noch so geschickt versuchen, an das Denken unserer Umgebung anzuknüpfen: Den Anstoß des Evangeliums können und sollen wir nicht beseitigen. Wir können das Evangelium nicht so darbieten, dass es alle nur nett und interessant finden – wenn es denn wirklich das Evangelium von Jesus Christus ist, das wir verkündigen, und nicht nur ein bisschen nette Religiosität. Wir haben als christliche Kirche nicht die Verheißung, dass alle uns zujubeln und gut finden, was wir verkündigen. Widerspruch, Abwendung, Spott sind ganz normale Reaktionen auf die Christusverkündigung, die man nur dadurch vermeiden könnte, dass man die Christusbotschaft selber verändert oder verschweigt. Anknüpfung allein kann keinen Glauben wirken – und Zustimmung zu dem, was wir sagen, ist auch kein Glaube, wenn das, was wir sagen, nicht das Evangelium ist. Wo Christus nicht als der auferstandene Herr und als Richter der ganzen Welt verkündigt wird, da bleiben wir unserer Umgebung die entscheidende Botschaft schuldig, dann bedeutet uns der Applaus für uns selber offenbar mehr als das Heil derer, denen wir eine Botschaft zu verkündigen haben, die sie selber nicht kennen und nicht kennen können. Ja, wir haben als Christen eine Verantwortung für die Gesellschaft, in der wir leben – und diese Verantwortung nehmen wir zunächst und vor allem dadurch wahr, dass wir ihr Christus verkündigen – gewiss liebevoll und sensibel, und doch so, dass die Christusbotschaft dabei nicht verharmlost oder zurechtgebogen wird. Ja, die klare Christusbotschaft trägt in sich eine große Verheißung: Sie wird immer wieder Glauben wirken, Glauben, durch den allein wir in Gottes letztem Gericht gerettet werden. Auch in Athen wurden damals Menschen durch diese Botschaft, über die so viele spotteten, zum ewigen Leben gerettet. Und genauso geschieht es auch heute noch, ja, auch in Berlin. Amen.

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