„Städte in der Bibel“: Babel | Mittwoch nach Invokavit | Pfr. Dr. Martens
Vor einigen Monaten hörte ich auf unserem Sprengelpfarrkonvent einen interessanten Vortrag eines Journalisten und Buchautors, der sich als Kirchenkritiker einen Namen gemacht hat. Er stellte dar, wie eng die Verflechtung zwischen dem Staat und den großen Kirchen hier in Deutschland ist: Die beiden großen Kirchen werden vom Staat auf vielfältige Weise finanziell unterstützt – und dafür präsentieren sich die Kirchen als staatstragende Größen, deren Ziel offenkundig ist, Kirche und Gesellschaft immer weiter miteinander verschmelzen zu lassen. Und dabei wird die Lücke zwischen Kirche und Gesellschaft in unserem Land durchaus immer größer – eben da, wo sich die Kirche noch als Kirche und nicht bloß als sozialpolitische Größe versteht. Die scheinbare Verschmelzung von Kirche und Gesellschaft wird immer mehr zur Illusion – einmal ganz abgesehen davon, ob dies ohnehin ein biblisch begründbares Ziel gewesen wäre.
Ja, wie stehen wir als Christen, wie stehen wir als Kirche zu unserer Gesellschaft? Um dieses Thema soll es in den Fastenpredigten dieses Jahres gehen. Da können uns auf der einen Seite gerade unsere neuen Gemeindeglieder Dankbarkeit lehren, Dankbarkeit dafür, in einer freien Gesellschaft leben zu dürfen, in der uns nicht vorgeschrieben wird, was wir zu denken haben, in der nicht ein Gottesstaat alle Bereiche auch des privaten Lebens überwacht. Doch andererseits erleben wir eben auch, wie wir als Christen in unserer Gesellschaft immer weiter an den Rand gedrückt werden, wie der Staat untätig bleibt, wenn christliche Flüchtlinge in ihren Heimen bedroht und angegriffen werden, ja, wie der Staat sehr aktiv versucht, Menschen, die vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert sind, wieder loszuwerden und in ihre Heimat abzuschieben. Wie leben wir in einer Gesellschaft, deren Kompass immer weniger an Gott und seinem Wort ausgerichtet ist und oftmals mit so viel Intoleranz und Unverständnis auf die reagiert, die in ihrem Gewissen an Christus und sein Wort gebunden sind?
Gottes Wort selber ist es, das uns immer wieder die Augen öffnet für die Realität der Welt, der Gesellschaft, die uns umgibt. Und besonders lehrreich und hilfreich ist es dabei, darauf zu blicken, wie bestimmte Städte in der Bibel dargestellt werden, wie an ihnen erkennbar wird, wie Gesellschaften ticken und in was für einem Verhältnis wir Christen dazu stehen.
Um Babel, um Babylon soll es heute in dieser ersten Fastenpredigt gehen. Auf Babel, auf Babylon stoßen wir in der Bibel vom Anfang bis zum Ende immer wieder.
Da wird schon im elften Kapitel des 1. Mosebuches davon berichtet, wie Menschen in Babel einen Turm bauen, der bis an den Himmel, den Herrschaftsbereich Gottes, heranreichen soll und mit dem sich die Bewohner der Stadt einen Namen machen, sich gleichsam selbst unsterblich machen wollen.
Die Geschichte vom Turmbau zu Babel, sie erinnert an die permanente Gefahr, dass Menschen da, wo sie in einer größeren Einheit zusammenkommen, so leicht geneigt sind, sich selber zu überhöhen, sich selber an die Stelle Gottes zu setzen. Wir erleben zurzeit in unserem Land an verschiedenen Stellen Diskussionen darüber, ob es denn noch zeitgemäß sei, eine Verfassung mit den Worten „In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ beginnen zu lassen, da es doch viele Menschen gibt, die in unserem Land leben und von keiner Verantwortung vor Gott mehr wissen. Doch die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes wussten, warum sie diese Worte an den Anfang unseres Grundgesetzes gestellt hatten. Sie hatten erfahren, was geschieht, wenn Menschen um ihre Verantwortung vor Gott nicht mehr wissen und sich und ihre Gemeinschaft absolut setzen, das gesunde Volksempfinden an die Stelle der Gebote Gottes treten lassen. Furchtbares war im sogenannten Tausendjährigen Reich geschehen, als der Staat und die Volksgemeinschaft an die Stelle Gottes gesetzt wurden, als kein Gott mehr den Größenwahn der Führenden mehr bremste, als die Erfahrung der Volksgemeinschaft zu einer Ersatzreligion wurde, die bis an den Himmel reichte.
Nein, wir Christen weisen auf die Bedeutung der Verantwortung alles Handelns vor Gott nicht deshalb hin, weil wir als Christen irgendwelche gesellschaftlichen Privilegien haben wollen. Es geht uns nicht um uns selber. Es geht uns nur darum, Menschen darüber zum Nachdenken zu bringen, was es bedeutet, wenn der Mensch sicher selber absolut setzt und keine Macht über sich mehr anerkennt. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel soll uns eine Lehre sein. Und die Folgen dieser Geschichte erleben wir bis zum heutigen Tag: die Trennung von Menschen, die in ihren unterschiedlichen Sprachen einander nicht mehr verstehen. So viele Beispiele völlig misslungener Kommunikation habe ich in den vergangenen Monaten in den Anhörungsprotokollen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge lesen können - Belege dafür, wie Menschen aneinander vorbeireden, ohne dass sie dies selber überhaupt merken. Ja, wie leicht versteht man sich eben auch dann nicht, wenn man selber dieselbe Sprache spricht und wenn dann der eine versucht, etwas über seinen christlichen Glauben zu erzählen, und der andere dazu überhaupt keinen Zugang hat! Es ist dies die Situation nicht nur in den Anhörungen des Bundesamtes, sondern auch die Situation, in der wir uns immer wieder befinden, wenn andere mitbekommen, dass wir Christen sind. Verstehen können das die, die Christus nicht selber kennen, überhaupt nicht, geschweige denn, dass sie nachvollziehen könnten, dass der Glaube an Christus für einen Menschen so wichtig werden kann, dass er dafür sogar sein Leben riskiert. Der Turmbau zu Babel – er erinnert uns daran, wie Menschen und Staaten immer wieder dem Größenwahn zuneigen, wenn sie sich nicht unter Gott beugen und ihre Stellung unter Gott bewusst annehmen. Nehmen wir dies als Christen immer wieder ganz bewusst und kritisch wahr; lassen wir uns von Gottes Wort helfen, die Zeichen der Zeit zu erkennen!
Babylon – es taucht dann in der Mitte der Bibel wieder auf als Ort der Deportation der Bewohner Jerusalems nach der Zerstörung ihrer Stadt. „By the rivers of Babylon“, dieser bekannte Hit der Gruppe Boney M. ist ja in Wirklichkeit eine Wiedergabe des 137. Psalms: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ Babylon - Ausdruck des Verlustes von Heim, Ausdruck der Fremde, in der sich die, die aus ihrer Heimat verschleppt worden waren, nun wieder neu einrichten mussten. Lange haben die Israeliten dafür gebraucht, dies zu akzeptieren. Als der Prophet Jeremia nach der ersten Verschleppung von Israeliten nach Babylon von Jerusalem aus an die Deportierten in Babylon einen Brief schrieb und ihnen im Auftrag Gottes riet: „Suchet der Stadt Bestes!“, da galt dies noch als Hochverrat: Wie kann man das Wohl einer Stadt suchen, die doch gerade den Untergang der eigenen Stadt herbeiführte? Doch Jeremia erinnert im Auftrag Gottes daran: Es ist eure Aufgabe, auch für Babylon zu beten – und dies auch zu eurem eigenen Vorteil: „Denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl.“
Babylon – es markiert eine ganz wichtige Position von uns Christen heute in unserer Gesellschaft auch. Niemals sollten wir vergessen, dass diese Gesellschaft, diese Stadt, dieses Land niemals unsere wahre Heimat ist. Die wahre Heimat für uns Christen ist und bleibt Gottes Stadt allein, seine neue Welt, nach der wir uns sehnen und die doch noch so fern von uns bleibt. Wir sind und bleiben als Christen immer Vertriebene, Migranten auch hier in Berlin, Menschen, die sich hier in dieser Welt, die sich auch hier in unserem Land und in unserer Stadt nie ganz einrichten, weil sie wissen, dass sie noch unterwegs sind. Und doch gilt auch uns der Auftrag, für diese fremde Stadt, in der oft genug ganz andere Regeln gelten als die, die uns wichtig sind, zu beten, ihr Bestes zu suchen. Wir bekämpfen Babylon nicht, sondern wir überlegen, wie wir den Menschen, die in dieser Stadt wohnen, dienen können, gerade weil wir wissen, dass unser Herz nicht an dieser Stadt, an diesem Land hängt. Doch ganz anpassen werden wir uns nie. Dass die Juden im Exil in Babylon als eigenständige Gruppe überlebten, ist ungewöhnlich; von den meisten anderen Gruppen, die dorthin deportiert wurden, hat man in der Geschichte später nie mehr etwas gehört. Doch die Israeliten in Babylon blieben bewusst Fremde in der Stadt, Menschen, bei denen man erkennen konnte, dass sie anders sind als die anderen, Menschen, deren Kennzeichen im Exil in besonderer Weise die Einhaltung des Sabbat wurde. Das fiel auf, dass sie am Samstag nicht arbeiteten, das konnte man nicht einfach verstecken. Und diese Einhaltung des Sabbat hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Israeliten am Ende dann doch wieder in ihre Heimat zurückkehren durften. Könnte es sein, dass in unserer heutigen Gesellschaft die Einhaltung des dritten Gebots, der sonntägliche Besuch des Gottesdienstes, eine ganz ähnliche Funktion bekommt, die diese damals bei den Juden hatte? Könnte es sein, dass Christen daran immer klarer und eindeutiger zu erkennen sind, noch bevor sie auch nur ein Wort gesprochen haben? Ja, denken wir daran: Auch wir leben in Babylon.
Und dann begegnet uns Babylon noch einmal am Ende der Heiligen Schrift in der Johannesoffenbarung: Die Hure Babylon, von der dort die Rede ist, ist ein Deckname für die Hauptstadt Rom, von der aus ein römischer Kaiser sich daran machte, die Christen zu vernichten. Da, wo der Staat zum offenen Angriff gegen die Christen übergeht, da gilt nur noch eins: Christus ganz deutlich über den Staat zu setzen, ihm auch nicht den kleinen Finger zu reichen, sondern am Glauben festzuhalten, selbst wenn es das Leben kostet – so schärft es der Seher Johannes den Lesern seiner Offenbarung ein. Doch die Johannesoffenbarung weiß noch mehr zu berichten: Sie berichtet vom Untergang Babylons und dem großen Jubel im Himmel und auf Erden über diese Befreiungstat Gottes. Staaten, die sich selber absolut setzen, die meinen, sie könnten ihre Macht dadurch sichern, dass sie all diejenigen verfolgen, die ihren eigenen absoluten Herrschaftsanspruch nicht anerkennen, werden früher oder später untergehen, werden auf die Dauer keinen Bestand haben. Immer wieder haben Christen in der Geschichte diese Erfahrung gemacht, dass sie selber bis aufs Blut verfolgt wurden – und dass am Ende doch nicht sie ausgerottet wurden, sondern ihre Verfolger gestürzt wurden. Das gilt für das Dritte Reich ebenso wie für Stalin und die Sowjetunion. Und es wird gewiss auch für den Gottesstaat Iran gelten, dass Gott dieser christusfeindlichen Macht einmal ein Ende bereiten wird.
Babylon zeigt uns also die Facetten des Lebens von uns Christen in dieser Gesellschaft deutlich auf: Es warnt uns vor einer Überhöhung des eigenen Staates, warnt uns vor der Sehnsucht der Menschen, in einer großen Menschenmenge das Gefühl von Stärke und Überlegenheit zu verspüren. Es erinnert uns daran, dass wir in dieser Welt nie ganz zu Hause sind und dass wir doch die Aufgabe haben, für diese Welt und ihre Ordnungen zu beten, wohl wissend, dass wir diesen Gottesdienst heute Abend gewiss nicht feiern würden, wenn uns die Ordnungen dieses Landes, das man natürlich längst nicht mehr christlich nennen kann, nicht schützen würden. Und Babylon erinnert uns schließlich daran, dass der Staat sehr schnell auch selber zum Instrument des Bösen werden kann, dem wir nicht gehorchen dürfen. Wo der Staat auch heute Leib und Leben von Menschen bedroht, da müssen wir immer wieder ganz klar nach der Weisung aus der Apostelgeschichte handeln: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Unser Gewissen binden darf der Staat niemals. Dieses ist und bleibt gebunden an Christus, unseren Herrn, an den, vor dem allein wir unsere Knie beugen und den wir anbeten, weil er getan hat, was kein Staat und kein Führer jemals könnten: Für uns am Kreuz gestorben ist er, damit wir durch ihn das Leben, das ewige Leben haben. Bei ihm allein haben wir unser Zuhause, und ihm allein sind wir auch ganzen Gehorsam schuldig, weil er für uns Gott dem Vater gehorsam war und bis in den Tod gegangen ist. Gute Nachricht – auch für die Menschen in Babylon! Amen.