„Städte in der Bibel“: Sodom | Mittwoch nach Reminiszere | Pfr. Dr. Martens
Ein wenig verrucht mag das Thema des heutigen Abends für manche klingen: Der Pastor predigt über Sodom, predigt über die schlimmen Laster, die dort in dieser Stadt begangen wurden, über die Ausschweifungen und manch anderes Interessante, was unsere Phantasie dabei gehörig anregen mag. Doch ich muss euch enttäuschen: Ich bin heute Abend hier nicht angetreten, um über diese verkommene Gesellschaft zu schimpfen, die keine moralischen Maßstäbe mehr kennt, und um auf die gute alte Zeit zu verweisen, in der das Leben noch halbwegs in Ordnung war.
Um die Frage, wie wir als Christen in unserer Gesellschaft leben, geht es ja in der Fastenpredigtserie über Städte in der Bibel. Und wenn wir da etwas genauer in die Heilige Schrift hineinschauen, stellen wir fest, dass Sodom sehr viel mehr Stoff zu diesem Thema zu bieten hat als das, was uns bei den Namen Sodom und Gomorrha zunächst einmal in den Sinn kommen mag:
Da erscheint Sodom zum ersten Mal in der Geschichte, in der geschildert wird, wie Abraham und Lot sich trennen, weil ihre Hirten immer wieder miteinander in Streit geraten. Abraham bietet dem Lot an, dass er entscheidet, wohin er gehen will: in die Stille der Wüste oder in das pulsierende Leben der Gegend um Sodom und Gomorrha herum. Und Lot ist nicht blöd – der weiß schnell, wo es ihn hinzieht: natürlich in die Stadt und nicht draußen in die freie Natur.
Wie hochaktuell ist diese Szene, die uns hier schon ziemlich am Anfang der Bibel geschildert wird! Wo zieht es die Menschen immer wieder hin? In die Stadt, dorthin, wo der Bär tobt, wo etwas los ist, wo sich ganz andere Lebensmöglichkeiten bieten als auf dem flachen Land. Menschen zieht es in die Städte – das ist ein Phänomen, das sich durch die ganze Geschichte hindurchzieht und das in den letzten beiden Jahrhunderten noch einmal eine ganz neue Dynamik gewonnen hat und weiter gewinnt. Nur wenige möchten noch auf dem Land leben; die Stadt hat doch offenkundig viel mehr zu bieten. Ich erlebe dies ja auch jetzt wieder bei unseren Gemeindegliedern: Wenn sie das Pech hatten, irgendwo in die Natur verteilt zu werden, in den „djangal“, wie es so schön auf Persisch heißt, dann haben sie nur den einen Wunsch: Bloß weg von hier, bloß möglichst nahe ran an Berlin, an die große Stadt mit all dem, was sie zu bieten hat!
Der Apostel Paulus hatte damals schon ein Gespür für diese Entwicklung. Auf seinen Missionsreisen ging er ganz bewusst in die großen Städte, um dort das Evangelium zu verkündigen – ja, in die großen Städte mit all ihren Versuchungen und Herausforderungen. Paulus zog sich nicht in die Idylle zurück, sondern dachte schon sehr strategisch: Von den Städten aus erreiche ich die Menschen am besten.
Eine Erfahrung ist dies, die auch unsere Lutherische Kirchenmission in den letzten Jahrzehnten gemacht hat: Sie war ursprünglich mal eine Bauernmission, zog in Südafrika aufs Land, um dort den Menschen das Evangelium vorzuleben – gewiss ein sehr guter Gedanke. Aber nun ziehen auch im Süden Afrikas die Menschen immer mehr in die Städte – und so verlagern sich auch die Schwerpunkte der Arbeit unserer Mission. Und nicht anders ist es eben auch hier bei uns. Es ist kein Zufall, dass wir unsere Missionsarbeit in der Stadt tun, dass uns hier für unsere Arbeit ganz andere Möglichkeiten gegeben sind, als wenn wir irgendwo auf dem flachen Land wären. Ja, wir müssen als christliche Kirche ganz bewusst in den Städten präsent sein, dort auftreten, dort predigen, ganz klar. Ja, die Stadt bietet große Chancen – und stellt zugleich doch eine besondere Herausforderung dar, weil Städte immer wieder auch in besonderer Weise Ort der Versuchung, ja der Abwendung von Gott sind, so macht es die Bibel deutlich.
Und damit sind wir schon bei der zweiten Sodom-Geschichte in der Bibel: Es ist die Geschichte, wie Abraham mit Gott verhandelt. Der hat angekündigt, Sodom zu zerstören. Doch Abraham feilscht: Was wäre denn, wenn sich in der Stadt auch nur 50 Gerechte befinden würden, würdest du die Stadt dann auch zerstören? Nein, antwortet Gott, ich werde sie nicht zerstören um der 50 willen. Immer weiter handelt Abraham runter – bis auf 10. Ja, auch um zehn Gerechter willen will Gott die Stadt nicht zerstören, so macht er es deutlich.
Wie aktuell ist auch diese Sodom-Geschichte, wie aktuell ist sie gerade für unsere Frage, wie wir als Christen in der Gesellschaft heute leben sollen und können. Da gibt es ja immer noch diese Vorstellungen, die Kirche solle mit der Gesellschaft so weit wie möglich verschmelzen, solle als gesellschaftliche Kraft möglichst breite Kreise hinter sich scharen können. Die Kirche als entscheidender gesellschaftlicher Faktor, mit den führenden Politikern auf Augenhöhe! Doch unsere Sodom-Geschichte erzählt uns hier etwas ganz anderes: Gesellschaftlich relevant wird die Kirche nicht dadurch, dass sie groß und von möglichst vielen anerkannt ist. Gesellschaftlich relevant sind wir als Kirche schlicht und einfach dadurch, dass wir da sind, dass wir existieren, wenn auch vielleicht nur in kleiner Zahl. Als Salz der Erde bezeichnet Jesus uns Christen, als Menschen, die in den Fäulnisprozessen unserer Gesellschaft konservierend wirken, als Menschen, die nicht viele sein müssen und um derentwillen Gott doch sein Gericht über die, unter denen wir leben, nicht vollstreckt. Jeder Gottesdienst hat von daher eine ganz hohe gesellschaftliche Bedeutung – nicht deswegen, weil Pastoren in der Predigt noch einmal die Themen der Tagesschau von gestern mit einigem religiösen Pathos aufwärmen. Nein, jeder Gottesdienst ist Ausdruck dessen, dass Gott um derer willen, die zu ihm gehören, noch Geduld hat mit dieser Welt, dass er noch Zeit zur Umkehr schenkt. Und wir, wir nehmen unsere Verantwortung wahr, beten unsererseits für diese Welt, für unser Land, für unsere Stadt, wie Abraham damals auch. Denn auch die Menschen, die von Gott und seinem Willen nichts wissen, sollen uns nicht egal sein.
Und dann wird uns das Leben in der Stadt Sodom im 19. Kapitel des 1. Mosebuchs in Großaufnahme gezeigt: Menschen bilden im Nu eine Masse, die sich auf eine Minderheit stürzt, sie bedrängt, sich von niemandem daran hindern lässt, ihre eigenen Vorstellungen von dem, was sie gerade auch auf sexuellem Gebiet für möglich, ja für gut hält, notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.
Der Mob, der Lot, seine Familie und seine Gäste bedrängt – er erinnert mich an die Szenen, die sich Jahr für Jahr beim „Marsch für das Leben“ in unserer Stadt abspielen: Wie Menschen mit Polizeigewalt davon abgehalten werden müssen, sich gewaltsam auf friedliche Demonstranten zu stürzen, wie sie davon abgehalten werden müssen, ihre Vorstellungen über das, was erlaubt und nicht erlaubt ist, auch mit Gewalt durchzusetzen.
Lot erlebte damals den Zwiespalt des Lebens in der Stadt: Er versucht, sich in sie einzubringen, ja auf die Bewohner einzuwirken – und kommt dann am Ende doch nicht darum herum, ganz auf Abstand zu gehen, sehr deutlich zu zeigen, dass er nicht zu den anderen dazugehört: Er flieht aus der Stadt, bevor Gott sein Gericht am Ende doch an ihr vollstreckt.
Genau in diesem Zwiespalt werden wir als Christen in der Stadt auch immer leben: Niemals darf es darum gehen, dass wir uns um jeden Preis anpassen, uns an dem orientieren, was alle anderen machen und wollen. Dass wir in dieser Stadt, dass wir in dieser Welt Fremdlinge sind, das werden die anderen schnell merken, und das sollen wir auch gar nicht leugnen. Wir sind in einer anderen Stadt zu Hause, in der Stadt Gottes. Wir sind und bleiben hier nur vorläufig. Solange es möglich ist, bleiben wir, wo wir sind, ein jeder an seinem Ort. Und doch tun wir dies immer wieder deswegen, weil wir dabei den einen Retter aus dem Gericht bezeugen wollen, unseren Herrn Jesus Christus, der allein uns vor Gottes Zorn über die Sünde bewahrt und rettet. Machen wir es darum uns und anderen immer wieder ganz klar, welchem Herrn wir gehören – dem, der sein Leben für uns am Kreuz in den Tod gegeben hat. Wir können dafür nicht mit Beifallsstürmen rechnen, eher mit Empörung und Protest. Lassen wir uns dadurch nicht irritieren. Halten wir uns nur an das Wort unseres Herrn, gerade auch da, wo es uns eindringlich mahnt, wie es damals die Engel bei Lot auch taten! Ja, halten wir uns auch und gerade dann an das Wort des Herrn, wenn es bedeutet, die Stadt, die Wohnung, alles zurückzulassen, wie es so viele unserer Gemeindeglieder erfahren haben. Hängen wir unser Herz niemals an Irdisches, auch nicht an eine irdische Heimat. All dies wird vergehen. Der Untergang Sodoms erinnert uns daran eindrücklich: Nichts, aber auch gar nichts ist von dieser blühenden Stadt geblieben. Doch wer Christus und seinem Wort folgt, der wird leben, der wird bleiben – in Ewigkeit. Amen.