Vierte Fastenpredigt zum Thema „Was Bringt Uns Jesus?“: „Jesus – In Uns“| Mittwoch nach Laetare | Pfr. Dr. Martens

Erstaunliches konnte man letztes Jahr in einer Stellungnahme des früheren Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder lesen: Darin erklärte er, das überzeugende Bekenntnis zum christlichen Glauben sei im Hinblick auf jedes islamische Land kein Grund, automatisch in Deutschland Schutz vor drohender religiöser Verfolgung zu finden. Denn es sei ja möglich, dass „der Glaube in den eigenen vier Wänden in der Zwiesprache mit Gott gelebt“ wird.

Ja, so stellt sich nicht nur Herr Kauder, so stellen sich auch viele andere, leider auch viele Verwaltungsrichter den christlichen Glauben vor: Der Glaube ist einfach so eine Art von Beziehungspflege mit dem lieben Gott, die man von Zeit zu Zeit einmal betreiben kann und wofür man letztlich keine Kirche braucht, weil man diese Beziehungspflege auch ganz gut irgendwo im Wohnzimmer für sich selber betreiben kann. Genau dieses vulgärpietistische Missverständnis von christlichem Glauben vertritt auch der römisch-katholische Erfolgsautor Erik Flügge in seinem gerade aktuell erschienenen Buch „Nicht heulen, sondern handeln“ Er erklärt darin, der evangelische Gottesdienst sei tot, und man könne ihn nicht wieder lebendig machen. Und dies sei auch gar nicht nötig, denn der Gottesdienst sei im Protestantismus gar keine theologische Notwendigkeit, sondern nur eine Behelfskonstruktion zur Instruktion. Und der heutige mündige Mensch sei auf solche Instruktion gar nicht mehr angewiesen, sondern könne „selbst eine eigene Beziehung zur allerhöchsten Göttlichkeit ... pflegen“.

Wem solche Vorstellungen vom christlichen Glauben im Kopf herumspuken, der hat in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts vom christlichen Glauben kapiert, auch wenn er behauptet, er könne besser als jeder Pastor beurteilen, wer denn nun ein ernsthafter Christ sei oder nicht. Einer, der einfach nur zur Kirche renne, sei jedenfalls keiner.

Es ist bezeichnend, welches Wort, welcher Name in all diesen Erklärungen über den Inhalt des christlichen Glaubens fehlt: Es ist das Wort „Christus“. Was da unter christlichem Glauben verkauft wird, ist in Wirklichkeit ein christusloser Glaube, weil ja jeder aufrechte protestantische Christ einfach so mit dem lieben Gott verkehren kann – dazu braucht er weder die Kirche noch Christus.

Entsprechend harmlos fällt diese Karikatur des christlichen Glaubens dann auch aus: Man kommt gar nicht auf die Idee, dass es da eine Trennung zwischen Gott und dem Menschen geben könnte, die der Mensch von sich aus auch mit noch so viel Bemühen und Frömmigkeit nicht überbrücken kann. Ja, man kommt gar nicht auf die Idee, dass diese Trennung von Gott für den Menschen lebensgefährlich sein könnte, seine ewige Zukunft in der Gemeinschaft mit Gott in Frage stellen könnte. Ja, man kommt gar nicht auf die Idee, dass der Mensch nicht einfach mal Gott anquatschen kann, wie er gerade Lust dazu hat, sondern dass Gott allein diese Beziehung überhaupt erst stiften und gewährleisten kann. Nein, es geht nicht um einen harmlosen Kaffeeplausch, nicht um ein individuelles ästhetisches religiöses Erlebnis: In der Beziehung zwischen Gott und Mensch geht es um nicht weniger als um die ewige Zukunft des Menschen, um sein Verlorensein und um seine Rettung.

Nein, ich werde eben nicht dadurch gerettet, dass ich in meinen eigenen vier Wänden meine Zwiesprache mit Gott halte. Dann hätte sich der Herr Christus seinen Weg nach Golgatha auch ersparen können. Ich werde nicht dadurch gerettet, dass ich mir meine ganz eigenen Gedanken über den lieben Gott mache. Aber ich werde eben auch nicht dadurch gerettet, dass ich weiß, dass Jesus Christus für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben ist.

Sondern gerettet werde ich dadurch, dass Gott etwas an mir und in mir unternimmt, dass er von sich aus eine Beziehung aufbaut, die ganz anderer Art ist, als es sich so mancher protestantische Vordenker heute so vorstellt. Gott informiert mich nicht bloß einfach über das, was er damals vor 2000 Jahren gemacht hat, und er macht die Sache auch nicht einfach zwischen sich und seinem Sohn in der Weise aus, dass er mich selber da gar nicht mit hineinziehen würde. Ganz im Gegenteil: So sehr zieht Gott mich in sein rettendes Handeln hinein, dass er mich mit Christus eins werden lässt – Christus in mir und ich in ihm.

Dass mein Heil darin begründet liegt, dass Christus in mir wohnt, ist etwas, was auch vergangene Generationen unserer lutherischen Kirche immer schon gewusst, geglaubt und gesungen haben. Ich denke etwa an die schöne Strophe von Paul Gerhardt: „Mein Jesus ist mein Ehre, mein Glanz und schönes Licht. Wenn der nicht in mir wäre, so dürft und könnt ich nicht vor Gottes Augen stehen und vor dem Sternensitz, ich müsste stracks vergehen wie Wachs in Feuershitz.“ Doch oft wurden die Dinge in unserer lutherischen Kirche eben doch etwas vereinfacht so dargestellt: Jesus ist für unsere Sünden am Kreuz gestorben. Daran müssen wir glauben – und dann werden wir gerettet. Doch bei diesem Denkmuster besteht die Gefahr, dass der Glaube gleichsam als eine menschliche Entscheidung oder ein menschlicher Beitrag zu unserer Rettung angesehen wird: Jesus hat den ersten Teil übernommen, und nun sind wir dran mit dem zweiten.

Doch wer den Glauben als menschliche Tat, als menschliche Mitwirkung versteht, hat noch überhaupt nicht begriffen, wie sich unsere Rettung vollzieht – eben durch die Einswerdung mit Christus. Wenn wir uns das Neue Testament anschauen, dann finden wir sowohl bei Johannes als auch bei Paulus eine ganz breite Linie, die unser Heil immer wieder so beschreibt, dass wir in Christus sind und Christus in uns. Das ist nicht nur irgendeine hübsche poetische Redeweise, sondern das ist Realität. Jesus wohnt nicht in mir, weil ich ihn in meinem Herzen aufgenommen habe, sondern er selbst hat sich mit mir verbunden, leibhaft erfahrbar, in der Heiligen Taufe, im Heiligen Mahl, so zeigt es uns das Neue Testament.

„Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus“, schreibt der Apostel Paulus im Brief an die Galater. Und dann fährt er gleich darauf fort: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ – Anders ausgedrückt: Ihr seid durch die Taufe in Christus, von ihm umgeben wie von einem Gewand. Das heißt Glauben: in Christus sein, in ihm leben. Und im Johannesevangelium erklärt Christus selber: „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ So geschieht meine Rettung, so bekomme ich Anteil am ewigen Leben, dass ich getauft werde, dass ich den Leib und das Blut Christi empfange.

Wir sagen immer wieder mit Recht, dass wir im Heiligen Abendmahl Vergebung der Sünden empfangen. So haben es einige unter uns auch noch mit Martin Luthers Kleinem Katechismus auswendig gelernt. Doch wozu muss ich im Heiligen Abendmahl denn unbedingt Leib und Blut Christi empfangen, damit ich die Vergebung der Sünden erhalte? Kann Gott mir nicht auch dadurch die Sünden vergeben, dass er mich Brot und Wein essen und trinken und dabei an Jesus denken lässt? Doch Gott ist einen anderen Weg gegangen: Er vergibt uns gerade dadurch unsere Schuld, dass er uns mit Christus verbindet, uns eins werden lässt mit ihm. Stellt euch vor, ein Kind hat etwas getan, womit es seine Eltern sehr enttäuscht und verletzt hat. Die Eltern zeigen ihre Enttäuschung dem Kind gegenüber – aber am Ende nehmen sie das Kind einfach in den Arm. Da weiß das Kind: Jetzt ist alles wieder gut, jetzt steht nichts mehr zwischen meinen Eltern und mir. Und genau so ist es auch mit dem Heiligen Abendmahl: Sünde ist Trennung von Gott. Aber wenn ich mit Christus leibhaftig eins werde im Heiligen Mahl, wenn er sich so eng mit mir verbindet, dass ich in ihm lebe und er in mir – ja, dann trennt mich eben nichts mehr von Gott, dann ist diese Sünde, diese Trennung von Gott einfach weg – eben dadurch, dass ich den Leib und das Blut Christi empfange.

Christus in mir – das ist meine Rettung. Nicht in der Weise, als ob Christus und ich nun zusammenarbeiten und wir gemeinsam das Heil bewirken. Auch wenn Christus ganz in mir lebt, bleibt er doch immer klar unterscheidbar von mir, von meinen immer wieder so unvollkommenen Bemühungen und Werken. Gerettet werde ich allein durch Christus, weil er für mich gestorben und auferstanden ist, gerettet werde ich allein durch Christus, der mir an dem, was er für mich getan hat, in der Weise Anteil gibt, dass er ganz in mir lebt.

Darum kann es eben kein überzeugendes Bekenntnis zum christlichen Glauben geben, bei dem Christus draußen vorgelassen würde, bei dem Christus nicht das Zentrum dieses Glaubens ist. Es kann kein überzeugendes Bekenntnis zum christlichen Glauben geben, bei dem es keine Rolle spielen würde, dass Christus durch die Heilige Taufe, durch das Heilige Mahl in mir Wohnung nimmt. Ein Glaube ohne die Gemeinschaft mit Christus, der sich einfach nur als religiöses Zwiegespräch mit einem wie auch immer zu bestimmenden Gott darstellt, ist gewiss nicht das, was die Heilige Schrift unter Glauben versteht. Und ein Glaube, der Gemeinschaft mit Christus ist, kann eben auf die immer neue Erfahrung mit Christus im Heiligen Mahl nicht verzichten. Darum haben unsere Gottesdienste nichts mit dem protestantischen Missverständnis eines Erik Flügge zu tun, als ob sie einfach nur Vortragsveranstaltungen mit Liedumrahmung seien, bei denen der Pfarrer künftig gut daran tut, den Mund zu halten und es bei der Liedumrahmung zu belassen. Nein, wir feiern Gottesdienst, weil wir ohne die leibhaftige Gemeinschaft mit Christus nicht leben können, weil wir hier immer wieder erfahren, wie Christus in uns lebt und wir in ihm. Und wo das geschieht, brauchen wir nicht mehr darauf zu schielen, wie wir damit bei den Menschen ankommen. Unendlich Größeres geschieht in unserer Mitte – und wir erfahren nebenbei, wie gerade dieses Größere immer wieder Menschen anzieht, die mit den protestantischen Vortragsveranstaltungen in der Tat herzlich wenig anfangen konnten. Wenn uns das genommen würde, dass Christus in uns lebt durch seine Gaben, dann würden wir alles verlieren. Und eben darum werde ich nicht aufhören, darum zu kämpfen, dass die Glieder unserer Gemeinde auch in Zukunft immer wieder erfahren können, wie Christus in ihnen durch Sein heiliges Mahl Wohnung nimmt. Nein, das ist kein oberflächlicher Veranstaltungsbesuch – das ist tatsächlich das Zentrum und Herzstück unseres Glaubens, das ihnen nie und nimmer genommen werden darf. Ja, Christus in mir – das ist in der Tat schon hier und jetzt der Himmel auf Erden. Amen.

Zurück