„Was Bringt Uns Jesus?“: „Jesus, Unser Bruder“| Mittwoch nach Invokavit | Pfr. Dr. Martens

Die Kirchenführerin in der Frauenkirche in Dresden gab sich wirklich alle Mühe, unseren Vorkonfirmanden die Geschichte dieser besonderen Kirche anschaulich nahezubringen. Am Ende fragte sie die Kinder dann, wo sie denn herkämen. Die meisten antworteten, sie kämen aus dem Iran und aus Afghanistan. Darauf meinte die Kirchenführerin, nun noch etwas für den interreligiösen Dialog tun zu müssen: „Wisst ihr“, so sagte sie, „eigentlich ist Islam und christlicher Glaube genau dasselbe: Der Koran ist das Benimmbuch für die Muslime, und die Bibel ist das Benimmbuch für die Christen.“ Da wir nur noch wenig Zeit hatten, um noch auf die Kuppel der Frauenkirche steigen zu können, verkniff ich es mir, mit der Dame nun in der Kirche noch eine Diskussion zu beginnen, und klärte meine Vorkonfirmanden anschließend draußen auf der Straße darüber auf, wie naiv heutzutage viele Menschen hier in Deutschland in Bezug auf den Islam seien und wie naiv gerade auch manche Kirchen heutzutage seien und selber gar nicht mehr wüssten, worum es im christlichen Glauben denn nun eigentlich geht.

Doch worum geht es denn nun im christlichen Glauben, wenn es in ihm denn nicht zuerst und vor allem um irgendwelche Benimmregeln geht? Und wie kann man über das, worum es im christlichen Glauben geht, gegenüber ahnungslosen Mitmenschen ebenso sprechen wie gegenüber Muslimen? Ja, natürlich geht es im christlichen Glauben nicht um Benimmregeln, sondern um Christus, ganz klar. Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet, wie wir davon sprechen können, was uns denn Christus nun eigentlich bringt, was es bedeutet, dass er unser Retter ist? Auf diese Frage können wir von der Heiligen Schrift nicht nur eine Antwort geben. Sondern die Heilige Schrift beschreibt in ganz vielfältiger Weise das, was Christus uns bringt und was eben darum das Zentrum unseres christlichen Glaubens ausmacht.

Und genau darum soll es eben nun in den Fastenpredigten dieses Jahres gehen. Ich möchte euch zeigen, wie die Heilige Schrift in ganz unterschiedlicher Weise davon sprechen kann, was Christus uns bringt und was damit das Zentrum unseres christlichen Glaubens ausmacht. Ja, ich will euch gerade so helfen, sprachfähig zu bleiben im Gespräch mit anderen, die von Christus und dem Glauben an ihn ebenso wenig Ahnung haben wie unsere Kirchenführerin in Dresden und so viele andere Menschen heute auch.

Heute soll es darum gehen, dass Jesus unser Bruder ist. Theologisch formuliert: Es soll darum gehen, dass Gott Mensch geworden ist. Wenn wir davon reden wollen, was Inhalt des christlichen Glaubens ist, was Christus uns bringt, dann ist dies eine ganz entscheidende Aussage, dass der ewige Gott ganz einer von uns, dass er Mensch, dass er damit sterblich geworden ist. Unser ganzes Heil, unsere ganze Rettung, unsere ganze Zukunft hängt an dem Leib eines einzigen Menschen, in dem, wie es Paulus formuliert, die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt.

Es geht also im christlichen Glauben nicht bloß darum, dass wir irgendwo da oben um einen Gott wissen, der sich ein wenig toleranter aufführt als Allah im Islam, der uns dadurch in unserem Leben ermutigt, dass er alles eigentlich ganz okay findet, was wir so machen. Sondern unser Heil, unsere Rettung bestehen darin, dass Gott als ein Mensch geboren wird.

Was bedeutet es für uns, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist? Es bedeutet zum einen, dass wir einen Herrn haben, der uns genau verstehen kann in allem, was wir erleben, tun und erleiden. Es ist vor allem der Hebräerbrief, der damit den Begriff des Bruders verbindet: „Daher musste der Sohn in allem seinen Brüdern gleich werden, auf dass er barmherzig würde und ein treuer Hohepriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn da er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.“ (Hebr 2,17+18)

Was für ein Trost: Ich habe einen Herrn und Gott, der aus eigener Erfahrung das kennt, was ich erlebe und durchleide. Was für dunkle Wege ich in meinem Leben auch gehen muss, er, der Herr, kennt sie, kennt mich, weiß, wie es mir geht, wie mir zumute ist. Er weiß, wie schwer es für mich ist, den Weg zu gehen, den Gott will, er weiß, wie leicht man von diesem Wege abkommen kann. Indem der Sohn Gottes Mensch wird, wird er barmherzig – was für eine atemberaubende Aussage, die der Hebräerbrief hier macht. Einige Verse später heißt es, der Sohn Gottes habe „Gehorsam gelernt“. Ja, da kann man nur anbetend staunen, dass er, der ewige Gott, noch dazulernt, eben durch die Erfahrung der Versuchung, der Anfechtung, die auch er in diesem Leben macht. Nein, nicht um Benehmen geht es im christlichen Glauben, sondern um die Gemeinschaft mit einem Herrn, der mich genau in meiner Schwachheit, in meinen geistlichen Kämpfen, in meinen Fragen versteht – weil er es selber am eigenen Leibe erfahren hat.

Doch es geht in der Aussage, dass Gott Mensch geworden ist, noch um viel mehr. Die Väter der alten Kirche haben es so formuliert: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch vergöttlicht werde.“ Es geht nicht bloß darum, dass Gott für uns Verständnis hat, weil er sich in uns hineinversetzen kann. Sondern es geht darum, dass mit der Menschwerdung Gottes eine Bewegung beginnt, die uns schließlich an Gottes Wesen, an seiner Natur Anteil gibt, wie es der 2. Petrusbrief formuliert. Jesus Christus nimmt eben nicht bloß für eine Zeitlang die menschliche Natur an, um sie dann spätestens bei seiner Auferstehung wieder abzustreifen. Sondern die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus lässt den ewigen Sohn Gottes in alle Ewigkeit Mensch bleiben, einen Leib haben und damit unseren Bruder bleiben. So einmalig die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus auch ist und bleibt, so sehr wirkt sie sich bis heute in unserem Leben aus: Wir selber werden mit dem Mensch gewordenen Gott verbunden, wenn wir getauft werden, wenn wir seinen heiligen Leib und sein heiliges Blut im Heiligen Mahl empfangen. Da werden wir immer mehr leibhaftig in die Gemeinschaft des dreieinigen Gottes hineingezogen – und genau darum geht es ja schließlich auch im Himmel, am Ziel unseres Lebens: Dass wir in die Liebesgemeinschaft des dreieinigen Gottes leibhaftig hineingezogen werden. „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein“ (Johannes 17,21), so betet es Jesus in seinem Gebet direkt vor seiner Verhaftung. Ja, genau das und nicht weniger ist der letzte und tiefste Sinn unseres Lebens: dass wir einmal für immer teilhaben werden an der Lebens- und Liebesgemeinschaft, die das Wesen des dreieinigen Gottes bestimmt.

Gott wird Mensch – und wir bekommen Anteil an seinem göttlichen Wesen! Das ist eine andere Botschaft als die Feld-, Wald- und Wiesenweisheit, dass Gott ja sehr lieb und nett und verständnisvoll ist. Wir glauben nicht an einen Gott, der im Allgemeinen ganz lieb ist, sondern wir glauben an einen Gott, der sich aus Liebe zu uns so klein macht, dass er jegliche Distanz zu uns Menschen aufgibt und sich in eine Futterkrippe legen lässt. Wir glauben an einen Gott, der sich aus Liebe zu uns so klein macht, dass er sich in einem Stück Brot auf unsere Zunge legen lässt, um uns gerade so zu retten.

Diese Botschaft widerspricht einer unverbindlichen Gottgläubigkeit, zeigt ganz genau, wo Gott sich selber finden lassen will. Und diese Botschaft widerspricht erst recht ganz und gar dem Gottesverständnis des Islam, für den es Ausdruck höchster Gotteslästerung ist, zu behaupten, Gott sei etwa Mensch geworden, ja, verbinde sich mit uns ganz leiblich. Völlig undenkbar ist für den Islam eben dieser Gedanke, dass wir dadurch gerettet werden, dass wir Gott selber durch leibhaftige Zeichen empfangen und er gerade dadurch in uns lebt. Für den 1. Johannesbrief ist genau dies das entscheidende Kennzeichen, an dem wir erkennen können, ob jemand vom Geist Gottes geleitet ist: „Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist von Gott.“ (1. Johannes 4,2)

Eine Religion, die ablehnt, dass Gott Mensch geworden ist, ist nicht von Gott, ganz gleich, ob es sich dabei um den Islam oder um die oberflächliche Religiosität so vieler Einheimischer hier in Deutschland handelt. Denn wenn Gott nicht Mensch geworden ist, sind wir verloren, könnten wir nicht gerettet werden, so zeigt es uns die ganze Heilige Schrift.

Erzählen wir darum Menschen immer wieder von dem großen Gott, der sich aus Liebe zu uns ganz klein macht, erzählen wir von Jesus Christus, in dem Gott sich klar und eindeutig finden lässt, erzählen wir davon, dass wir als Christen davon leben, dass der Sohn Gottes im Heiligen Sakrament in uns Wohnung nimmt, damit wir Anteil an Gott bekommen und eben so und eben dadurch ewig leben! Erzählen wir den Menschen davon, dass es im christlichen Glauben um viel mehr geht, als sie es erwarten mögen, um viel mehr als um ein bisschen Moral und Anstand! Es geht darum, dass Gott nicht einfach bloß ein schöner Gedanke bleibt, sondern für uns fassbar und erfahrbar wird, um uns gerade so in seine ewige Liebesgemeinschaft zu ziehen. Ja, genau darum geht es, wenn wir Jesus als unseren Bruder bekennen – ihn, der für uns immer Bruder und Herr zugleich ist, jawohl, für uns! Amen.

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