Zweite Fastenpredigt zum Thema „Leiden“: Leiden – Prüfung des Glaubens | Mittwoch nach Reminiszere | Pfr. Dr. Martens

Um das Leiden geht es in den Fastenpredigten der Wochengottesdienste unserer Gemeinde in diesem Jahr. Angesichts der Hysterie, die wir zurzeit um uns herum, ja selbst in unserer Gemeinde selber erleben, ist es vielleicht doch angemessen, zunächst einmal noch zu bedenken, was „Leiden“ eigentlich heißt.

„Leiden“ bedeutet nicht: Einschränkung des Lebens in einer Wohlstandsgesellschaft. Wir erleben zurzeit, wie Menschen schon allein darum in Panik geraten, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass ihr von allen Seiten wohlabgesichertes Leben an der einen oder anderen Stelle nicht ganz so glatt verlaufen könnte, wie sie es immer gewohnt waren. Dann deckt man sich mit 100 Rollen Klopapier und 50 Packungen Nudeln ein, um irgendwie doch noch die Kontrolle über dieses wohlabgesicherte Leben zu bewahren. Völlig irrational – und doch Ausdruck eines viel tiefer liegenden Problems: Wir haben es geschafft, die Endlichkeit unseres Lebens so weit aus unserem Bewusstsein zu verbannen, dass schon allein die theoretische Erinnerung daran, dass wir selber mit der Endlichkeit unseres Lebens konfrontiert werden könnten, als akutes Leid wahrgenommen wird, das es mit allen Mitteln zu vermeiden gilt. Leid muss um jeden Preis vermieden werden – das scheint so selbstverständlich zu sein, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, diesen Gedanken in Frage zu stellen.

Schaut man sich die Heilige Schrift an, so ist dort von Leid vor allem in zwei Zusammenhängen die Rede: Wenn es um die Erfahrung des Todes eines Menschen geht, und wenn es um die Erfahrung von Unrecht geht, das einem angetan wird. Und diese beiden Leiderfahrungen finden sich im Neuen Testament wieder im Geschick Jesu selber, und sie finden sich dann wieder in der Erfahrung der Verfolgung um des Glaubens willen, die die ersten Christen zu erleiden hatten: Da geht es auch immer wieder um die Erfahrung von Unrecht, ja von Tod.

Nein, es ist kein Leid, ein Fußballspiel nicht live im Stadion verfolgen zu können oder auf einen langgeplanten Urlaub verzichten zu müssen. Es ist kein Leid, sich zu Hause in seiner Wohnung zu verbarrikadieren aus Angst, dass draußen vor der Tür ein Coronavirus herumfliegen könnte. Was Leiden wirklich heißt, das können uns die Millionen verfolgte Christen weltweit bezeugen, die um ihres Glaubens willen entrechtet sind, gefoltert werden, miterleben müssen, wie Freunde und Verwandte umgebracht werden, selber getötet werden.

Das bedeutet aber nicht, dass Menschen hier in Deutschland überhaupt kein Leid erfahren könnten. Menschen werden auch hier in Deutschland sehr direkt mit dem Tod geliebter Menschen konfrontiert; Menschen erfahren auch hier in unserem Land bitteres Unrecht, ja, so erleben wir es auch in unserer Gemeinde, gerade auch darum, weil sie Christen sind. Und natürlich weiß auch die Heilige Schrift, was für Leid schwere Krankheiten und Schmerzen, was für Leid Sorgen um geliebte Menschen, was für Leid tiefe menschliche Enttäuschungen im Leben hervorrufen können, von Missbrauchs- und Gewalterfahrungen ganz zu schweigen.

Und dieses Leid kann eben gerade auch für Christen zu einer echten Prüfung ihres Glaubens werden, so wollen wir es heute miteinander bedenken.

Inwiefern kann Leiden zu einer Prüfung unseres Glaubens werden? Vor allem dadurch, dass es unsere eigenen Glaubensvorstellungen von Gott in Frage stellt.

Leiden stellt zunächst einmal unsere Glaubensvorstellung in Frage, dass jeder Mensch in seinem Leben doch das zugeteilt bekommt, was er verdient hat. Doch wenn wir selber Leid erfahren, dann bricht diese Glaubensvorstellung sehr schnell in sich zusammen: „Womit habe ich das verdient?“ – So fragen Menschen dann, können nicht erkennen, warum dieses Leid ausgerechnet uns treffen sollte und nicht andere Menschen, die in unseren Augen doch viel schlechter sind als wir. In der Heiligen Schrift wird dieses Thema besonders eindrücklich am Beispiel Hiobs entfaltet: Hiobs Freunde sind es in diesem Fall, die eisern an der Vorstellung festhalten, dass Leiden Folge menschlicher Sünde ist, während Hiob aufgrund seines eigenen Lebensgeschicks diese scheinbar so fromme Glaubensvorstellung radikal in Frage stellt. Ja, so weit geht er, dass er die Vorstellung von einem gerechten Handeln Gottes überhaupt in Frage stellt und damit die Ordnung hinterfragt, die ganz selbstverständlich den Glauben der Menschen zu tragen und zu prägen schien.

Leiden stellt natürlich erst recht die Vorstellung in Frage, dass uns Menschen gar kein Leid widerfahren kann, wenn wir denn nur richtig fest an Gott glauben. Vor ein paar Tagen sah ich ein schönes Foto aus den USA, das eine Kirche zeigte, in der genau dies verkündigt wurde: Glaube an Jesus, und der wird dich von allem Leid befreien, von allen Krankheiten heilen. Doch auf dem großen Eingangsschild, das für die Heilungsgottesdienste in dieser Gemeinde warb, prangte nun ein großer Aufkleber: Wegen Coronavirus geschlossen! Ja, da war offenbar etwas ganz gründlich schiefgegangen in den Glaubensvorstellungen derer, die meinten, der christliche Glaube befreie uns von allen unseren Problemen; ja, da mag vielleicht sogar bei manchem der Glaube, den er selber für christlich hielt, verlorengegangen sein.

Doch Leid, das wir erfahren, stellt eben noch viel weiterreichend unsere Glaubensvorstellung von dem Gott, der die Liebe ist, in Frage: Darf ich denn nicht mehr darauf vertrauen, dass Gott mein liebender Vater ist, wenn er mir so etwas Furchtbares antut, wenn er mich so etwas Schreckliches erfahren lässt? Wie kann ich zu solch einem Gott noch beten, der zugleich für solch ein schweres Leid in meinem Leben verantwortlich ist?

Ja, Leiden kann eine echte Prüfung für unseren Glauben sein – in dem Sinne, dass unsere eigenen Glaubensvorstellungen darunter ganz und gar zusammenbrechen, dass der Glaube, den wir uns selber geschaffen haben, sich als überhaupt nicht tragfähig, sondern als hinfällig erweist: der Glaube an einen Gott, der uns gibt, was wir verdient haben, der Glaube an einen Gott, der uns von Leid in unserem Leben verschont, der Glaube an einen Gott, dessen Liebe wir nur darin erkennen können, dass er uns kein Leid widerfahren lässt. Und so schmerzlich diese Erfahrung für uns in unserem Leben auch sein mag – sie ist doch eine heilsame Erfahrung, weil sie uns zeigt, dass wir selber einem Irrglauben erlegen waren, der unter Belastung keinen Bestand hatte.

Doch was bleibt dann, wenn wir merken, dass unsere eigenen Glaubensvorstellungen, unsere eigenen Vorstellungen von Gott in der Erfahrung des Leides in sich zusammenbrechen? Derselbe Hiob, der so unfassliches Leid durchleben musste, zeigt es uns: Er hält gegen Gott an Gott fest. Nein, Hiob folgt nicht dem scheinbar so naheliegenden Rat seiner Frau: „Fluche Gott und stirb!“ Absage an Gott kommt für ihn nicht in Frage – aber ebenso wenig, einfach nur ergeben das hinzunehmen, was Gott ihn da widerfahren lässt. Hiob ringt mit diesem Gott, erwartet von ihm, dass er Rechenschaft ablegt von dem, was er ihm da angetan hat. Doch gerade in diesem Ringen, in diesem leidenschaftlichen Protest gegen Gott nimmt Hiob Gott ganz ernst, ihn, den wirklichen Gott, nicht den selbstgebastelten Schönwettergott.

Und wenn wir so mit ihm, dem so unverständlichen Gott, ringen, lenkt derselbe Gott unseren Blick dorthin, wo allein unser Glaube nach dem Zusammenbruch aller eigenen Glaubensvorstellungen seinen Halt finden kann: Auf ihn, den gekreuzigten Christus. Dort erkennen wir mitten in unserem Leid, wer Gott in Wirklichkeit ist: Gerade kein Gott, der uns gibt, was wir verdient haben, sondern, ihm sei Lob und Dank, der uns gibt, was wir nicht verdient haben: Vergebung und ewiges Leben. Dort in dem gekreuzigten Christus erkennen wir, dass der Weg zu Gott gerade nicht am Leiden vorbei, sondern mitten durch Leid und Tod hindurch ins Leben führt. Dort in dem gekreuzigte Christus erkennen wir, was in unserem Leben wirklich wichtig ist und zählt: Eben nicht Gesundheit, Erfolg und Wohlstand, sondern das neue Leben, das uns in der Taufe geschenkt wurde und das selbst der Tod nicht zu zerstören vermag. Ja, dort in dem gekreuzigten Christus erkennen wir, dass Gott seine Liebe zu uns gerade darin gezeigt hat, dass er seinen eigenen Sohn für uns hat leiden lassen, damit uns auch alles Leiden in unserem Leben nicht von seiner Liebe zu trennen vermag.

Auch der Apostel Paulus hat in seinem Leben viel Leid erfahren, nicht allein Widerstände und Verhaftungen wegen seiner Christuspredigt, sondern auch darüber hinaus persönliches Leid, das er im 2. Korintherbrief als „Pfahl im Fleisch“ bezeichnet. Auch Paulus hat Christus darum gebeten, dieses Leid von ihm zu nehmen, weil es für ihn zu schwer zu sein schien. Doch Christus hat ihm geantwortet: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Ja, genau dahin will uns das Leiden als Prüfung des Glaubens führen, dass wir erkennen, was in unserem Leben wirklich wichtig ist und zählt: Allein was Gott in Christus für uns getan hat, allein das, was er uns schenkt, wenn wir sein Wort hören und sein Heiliges Mahl empfangen. Das reicht, auch und gerade, wenn wir selber von unserem Glauben mitunter so gar nichts mehr zu spüren vermögen. Wo wir an unsere Grenzen stoßen, fängt Christus erst gerade an, mit seiner Kraft in unserem Leben wirksam zu sein. Wo Gott uns das aus unseren Händen schlägt, was wir für unverzichtbar halten, da füllt er unsere Hände wieder neu mit dem, was wirklich zählt.

Ja, solche Prüfungen sind mitunter tatsächlich sehr schmerzlich. Und doch führen sie uns in Wirklichkeit immer dichter an das Geheimnis Christi heran. Doch genau davon soll dann nächste Woche noch mehr die Rede sein. Amen.

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