Du bist ein Gott, der mich sieht.

(1. Mose/Genesis 16,13 – Jahreslosung für das Jahr 2023)

Jin - Jiyan - Azadi: Frau, Leben, Freiheit! So lautet die kurdische Parole, mit der in besonderer Weise die Frauen im Iran in diesen Tagen und Wochen gegen ihre Unterdrückung durch den iranischen Mullah-Staat, ja durch das ganze dort bestehende patriarchale System protestieren - ein System, in dem ihnen vorgeschrieben wird, wie sie sich zu kleiden haben, in dem es Männern erlaubt ist, eine zweite Ehefrau zu nehmen, in dem die Zeugenaussage einer Frau nur die Hälfte des Gewichts der Aussage eines Mannes hat, ja, in dem Frauen immer wieder Opfer sexueller Gewalt werden in einem Ausmaß, das wir uns kaum vorstellen können.

Die Jahreslosung für das Jahr 2023 stammt aus dem Mund einer unterdrückten Frau, die ebenfalls nach heutigen Maßstäben Opfer sexueller Gewalt geworden ist und auch danach nicht damit rechnen konnte, in irgendeiner Weise geschützt zu werden: Hagar ist die ägyptische Magd oder Sklavin von Sara, der Frau Abrahams. Abraham und Sara warten immer noch darauf, dass Gott endlich sein Versprechen wahrmacht und ihnen den lang ersehnten Sohn schenkt. Doch Sara merkt: Bei mir geht das nicht mehr, und so schickt sie ihren Mann Abraham zu Hagar, damit er mit ihr einen Nachkommen zeugt.

Acryl von U. Wilke-Müller
(c) GemeindebriefDruckerei.de

Hagar wird von Abraham einfach nur benutzt, als eine Art von „Leihmutter“. Doch als Hagar dann von Abraham geschwängert worden ist, bewahrt sie ihre Würde, lässt es sogar Sara deutlich spüren, dass sie nun hat, was Sara nicht hat: einen Sohn von Abraham. Darauf erlaubt Abraham Sara, Hagar so lange zu mobben, bis diese schließlich in ihrer Verzweiflung in die Wüste flieht. Doch Gott lässt sie dort nicht allein; der Engel des HERRN kommt zu Hagar. Er fordert sie zunächst auf, wieder zu Sara zurückzukehren und sich ihr unterzuordnen. Aber dann gibt er ihr zugleich eine große Verheißung: Durch ihren Sohn Ismael wird sie Nachkommen haben, die man nicht zählen kann. Und Hagar stellt daraufhin staunend fest: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Du hast mich auch in der Wüste nicht allein gelassen, sondern bist mir begegnet, so erkenne ich es nun, wenn ich hinter dir herblicke.
 „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ - Das ist also keine kuschelige religiöse Allerweltsweisheit nach dem Motto: „Der liebe Gott ist immer bei mir.“ Sondern sie ist eine tröstliche Erkenntnis für Menschen, denen in ihrem Leben bitterstes Unrecht angetan worden ist, die missbraucht und gemobbt worden sind und die sich schließlich auch in ihrem Leben „in die Wüste“ zurückgezogen haben. Gott sieht mich - auch und gerade dann, wenn ich eigentlich sonst von niemandem gesehen werden möchte. Gott sieht mich; er weiß, was ich in meinem Leben erfahren und durchlitten habe. Und er lässt mich nicht da draußen „in der Wüste“, verschlossen vor allen anderen, sondern lässt mich den Weg wieder zurückfinden, auch wenn es oft genug ein schwerer Weg ist.

Genau dies bringt Ulrike Wilke-Müller in ihrem Bild zur Jahreslosung wunderbar zum Ausdruck: Da sehen wir im unteren Drittel des Bildes eine unwirtliche Wüste: Verbrannte Erde, auf der nichts mehr wächst, Berge, die sich auftürmen. Und in dieser Wüste sehen wir nun Hagar, mit gebeugtem Kopf, kniend, zugleich mit ihren Händen das Kind in ihrem Leibe bergend. Eine Quelle, gleich einer Oase, liegt vor ihr - aber sie hat offenbar nicht mehr die Kraft, selbst diesen kleinen Weg noch zu gehen.

Aber dann blicken wir auf dem Bild nach oben - und sehen zugleich eine ganz andere Realität, doppelt so groß wie das Elend im unteren Drittel des Bildes: Der Himmel tut sich über Hagar auf, vom dunklen Blau am oberen linken Bildrand bis hin zum hellen warmen Gelb oberhalb von Hagar. Das helle, warm-gelbe Licht oberhalb von Hagar geht aus von einer Gestalt, die über Hagar schwebt. Die Gestalt ist geradezu durchsichtig, man kann durch sie auch gleichsam hindurchsehen und dann doch wieder nur die bergige Wüste sehen. Doch diese Gestalt, der Bote Gottes, umfängt Hagar mit seiner Gegenwart, mit seinem Licht, so sehr, dass die beiden gleichsam eins werden: Gott bleibt nicht auf Distanz, er kommt Hagar ganz nahe. Gekennzeichnet ist der Bote Gottes durch zwei Flügel, die sich schützend über Hagar ausbreiten. Der rechte der beiden Flügel ragt dabei aus dem Bild heraus, hinein in unsere Gegenwart: Der, der damals Hagar gesehen hat, ist auch bei uns heute, sieht auch uns in unserer Not. Er blickt auch uns an aus diesem Bild, will auch uns zu der tröstlichen Erkenntnis führen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Oberhalb des hellen Lichtglanzes des Boten Gottes lassen sich mehrere Kreuze erahnen: Der Gott, der uns anblickt und dem wir staunend hinterherblicken dürfen, hat sich uns zu erkennen gegeben, als er für uns am Kreuz auf Golgatha gestorben ist. Wenn wir Gott nicht verstehen können, warum er uns in unserem Leben mitunter so schwere Wege führt, dann sollen und dürfen wir auf dieses Kreuz schauen. Dort, draußen vor dem Tor, hat Christus ganz allein das Unrecht dieser Welt erlitten und auf sich genommen. Und wenn er uns nun anblickt, dürfen wir gewiss sein: Er weiß, wie uns zumute ist. Ja, er blickt uns an, weil er nicht im Tode geblieben ist, weil er auferstanden ist und auch uns in das wärmende Licht seines neuen Lebens hineinziehen will. Gott lässt uns in der Wüste nicht allein. Er sieht uns, will auch uns eine neue Zukunft schenken wie Hagar damals auch. Dass Sie mit dieser Zuversicht in das neue Jahr 2023 gehen mögen, wünscht Ihnen